Rosa Luxemburg

 

Keine Überraschung [1]

(November 1914)


Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 122 vom 27. November 1914.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 12–14.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: R. Kuli.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Als der deutsche Reichstag am 4. August zu der denkwürdigen Sitzung zusammentrat, in der er dem beginnenden Kriege seinen Segen als Volksvertretung erteilen sollte, war der Krieg selbst wie eine schwarze Gewitterwolke mit unheimlicher Plötzlichkeit vor der atemlosen Welt erstanden. Merkwürdig genug! Auch die Sozialdemokratie, die doch das Kommen des Weltkrieges mit der festen Sicherheit eines Naturforschers voraussagte, die ihn aus ehernen Gesetzen der modernen Entwicklung der Gesellschaft als logische Folgeerscheinung ableitete, auch sie erschrak und blieb atemlos stehen, als ihr eigenes Wort zum Fleisch ward und in seiner ganzen Furchtbarkeit vor ihr stand. Freilich, vor dem Richterstuhl der Geschichte ist es noch keiner ernsten politischen Macht als Entschuldigung angerechnet worden, daß sie sich von dem Sturm der Ereignisse hat überraschen lassen. Die wissenschaftliche Erkenntnis, die untrüglichen wegweisenden Grundsätze, auf die wir als Marx’ und Engels’ Jünger bislang so stolz waren, sind uns eben dazu gegeben, damit wir nicht von blindwaltenden Kräften der Geschichte wie schwankes Rohr hin und her gepeitscht werden, damit uns nicht, wie den biblischen Jungfrauen, das Öl auf dem Lämpchen just in dem Augenblick ausgeht, wo der Bräutigam an die Tür pocht.

Blättert man unsere Parteipresse der letzten Juliwoche durch, die dem Ausbruch des Krieges vorausging, so kann man sich eines merkwürdigen Gefühls nicht erwehren: So fremd, so fern, so unwahrscheinlich kommt einem jene Sprache vor, in der damals vom Kriege gesprochen wurde. Wohl keine Partei in der Geschichte hat je einen so schroffen Umschwung der Meinungen, des Tones, der politischen Geschmacksrichtungen durchgemacht wie die deutsche Sozialdemokratie, wie er sich in ihrer Presse vor und nach dem 4. August spiegelt. Die Plötzlichkeit, die Überraschung springen hier in die Augen.

Jetzt haben wir vier Monate Weltkrieg hinter uns, und am 2. Dezember tritt die Volksvertretung unter wesentlich anderen Voraussetzungen zusammen, um zum zweiten Mal ihrerseits zum Kriege Stellung zu nehmen. Gar vieles ist im Laufe dieser sechzehn Wochen zutage getreten, wovon man beim ersten Ausbruch des Völkerringens keine greifbare Vorstellung hatte. Was ein Weltkrieg mit den heutigen Millionenheeren und den heutigen technischen Mitteln in seiner ganzen blutigen Leibhaftigkeit bedeutet, das vermochte keine theoretische Voraussicht und keine Phantasie auszumalen. Wie furchtbar jeder Krieg an sich sein mag, wie entsetzlich die Greuel und die Verwüstungen der letzten Balkankriege [2] waren – das, gegenwärtige gigantische Völkerringen mit seinen zyklopischen Zerstörungsmaßnahmen, seinen todspeienden Luftschiffen und Flugzeugen, seinen Schlachten in drei Naturelementen und fünf Weltteilen, seinen unübersehbaren Trümmerfeldern an Kultur und Menschenglück, dies Bild der Hölle auf Erden, dieser gewaltige Ausbruch der Anarchie einer Gesellschaftsform, die ihre Geschicke nicht zu meistern versteht, hat alles bis dahin Gewesene in den Schatten gestellt.

Auch die inneren Verhältnisse dieses Krieges sind mittlerweile in deutlichen, klaren Zügen sichtbar geworden, wenn sich auch seine Losungen als wandelbar erwiesen. Zu Beginn war es der Kampf gegen die zaristische Despotie, was die Volksvertretung hauptsächlich begeisterte. Seitdem hat sich die Achse der politischen Orientierung vom Osten nach dem Westen verschoben, wo nunmehr England als der Erbfeind dem Hasse des Deutschen empfohlen wird. Das Wort vom Burgfrieden, der keine Klassen und Parteien kennt [3], hat seitdem in der Praxis des Alltags die Probe bestehen müssen. Der Belagerungszustand und die von ihm diktierte Pressezensur sowie die völlige Zurückhaltung des öffentlichen politischen Lebens haben eine viermonatige Dauer aufzuweisen und können als eine Schule betrachtet werden, in der das politische Urteil zu reifen Gelegenheit hatte. Die Wirkungen dieser Zeitspanne auf die geistige Verfassung sowohl der bürgerlichen Parteien und namentlich der bürgerlichen Intelligenz wie auch der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Presse können mit aller Bestimmtheit bereits wahrgenommen werden. Nicht minder deutlich und klar ist allmählich die Wirkung des Krieges speziell auf die proletarische Internationale zutage getreten. Aus den Vorgängen der jüngsten Zeit aber ist insbesondere der neue, zu Beginn des Krieges ganz unvorhergesehene Umstand ins Auge zu fassen: der Eintritt der Türkei in das allgemeine Ringen. [4] Nachdem auch dieser alte Wetterwinkel internationaler Stürme, der nach drei Weltteilen Blitze und Erdbeben ausstrahlt, mit in die Katastrophe hineingerissen worden, muß es jedermann klar sein, daß es heute nicht mehr um Haus und Hof, um das Dach über dem eigenen Haupte und die traute nationale Heimat geht, sondern daß wir mitten in einer neuen Weltordnung und Weltverteilung stehen, in einer Krise, deren Dauer, Tragweite, Opfer und Folgen für alle Völker unübersehbar sind. Die Geister, die sie rief, die bürgerliche Welt, sie führen ihren rasenden Höllentanz auf.

So gibt es am 2. Dezember keine Überraschung mehr, wie es sie am 4. August gab. Mit voller Überlegung, gereift durch das Erlebnis, belehrt durch die Erfahrung in jeder Hinsicht, so tritt die Volksvertretung nun an ihre Aufgabe heran, und so wird sie erst jetzt ihre volle Verantwortung übernehmen.

Im Leben der Völker wie im Leben der Parteien gibt es Schicksalsstunden, in denen sie auf die Probe gestellt werden. Freilich vollzieht sich der Gang der Geschichte nach eigenen, unverbrüchlichen Gesetzen. Aber die Menschen sind dieser Gesetze Träger. Sie machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. Und Parteien wie Völker trugen die Folgen ihrer Entschließungen und ihrer Taten in solchen Schicksalsstunden.

Anmerkungen

1. Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Auskunft von Prof. Dr. h.c. Rudolf Lindau, einem Mitbegründer der KPD, ist Rosa Luxemburg die Verfasserin.

2. Im ersten Balkankrieg vom 8. Oktober 1912 bis 30. Mai 1913 führten die Länder des Balkanbundes, der im Frühjahr 1912 mit der Unterstützung Rußlands zwischen Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro entstanden war. Krieg gegen die Türkei, der mit deren Niederlage und der Befreiung Trakiens, Makedoniens und Albaniens von der türkischen Fremdherrschaft endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg. Der Balkanbund zerfiel nach dem ersten Balkankrieg wegen Streitigkeiten um die Verteilung der von der Türkei befreiten Gebiete.

Im zweiten Balkankrieg vom 29. Juni 1913 bis 30 Juli 1913 standen sich Serbien, Griechenland, Rumänien, Montenegro und die Türkei einerseits und Bulgarien andererseits gegenüber. Der Krieg um die Neuverteilung des türkischen Erbes endete mit der Niederlage Bulgariens, das einen teil der im ersten Balkankrieg eroberten Gebiete verlor.

Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdeten die Balkankriege den Frieden in Europa.

3. In der Eröffnungssitzung des Reichstags am 4. August 1914 hatte Wilhelm II. demagogisch erklärt: „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Deutsche.“

4. Obwohl sich die Türkei am 2. August 1914 in einem geheimen Abkommen mit Deutschland verpflichtet hatte, auf seiten Deutschlands in den Krieg einzutreten, erklärte sie zunächst nur die „bewaffnete Neutralität“. Auf Druck deutscher Politiker und Militärs griff die türkische Flotte Ende Oktober 1914 russische Schiffe im Schwarzen Meer an, was zur Kriegserklärung Rußlands an die Türkei am 3. November und Englands und Frankreichs an die Türkei am 5. November führte.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012