Rosa Luxemburg


Was weiter?

(14. März 1910)


Dortmunder Arbeiterzeitung, 14./15. März 1910.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1917, Bd. 2, Frankfurt/M, 1978, S. 775–85.
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I.

Die Frage des preußischen Wahlrechts, die über ein halbes Jahrhundert lang im Zustand der Unbeweglichkeit verharrte, steht heule im Brennpunkt des öffentlichen Lebens Deutschlands. Einige Wochen energischer Massenaktion des Proletariats haben genügt, um den alten Sumpf der preußischen Reaktion aufzupeitschen, eine frische Brise in das politische Leben ganz Deutschlands zu wehen. Die preußische Wahlreform kann unmöglich durch parlamentarische Mittel gelöst werden, nur eine unmittelbare Massenaktion draußen im Land vermag hier Wandel zu schaffen – diese lebendige Erkenntnis steht jetzt, nach den ersten Erfahrungen mit den Straßendemonstrationen einerseits, nach den Vorgängen in der Wahlrechtskommission des preußischen Landtags andererseits, fester denn je.

Allein, wenn die jüngsten imposanten Straßendemonstrationen bereits an sich eine erfreuliche Neuerung in den äußeren Kampfformen der Sozialdemokratie bedeuten und zugleich in kräftigster Weise den Massenkampf um das preußische Wahlrecht eröffnet haben, so legen sie ihrerseits der Partei, auf deren Initiative und Leitung sie zurückzuführen sind, bestimmte Pflichten auf. Unsere Partei muß angesichts der von ihr entfachten Massenbewegung einen klaren bestimmten Plan haben, wie sie die begonnene Massenaktion weiterzuführen gedenkt. Straßendemonstrationen sind, wie militärische Demonstrationen, gewöhnlich nur die Einleitung zum Kampf. Es gibt Fälle, wo Demonstrationen allein durch Einschüchterung des Feindes den Zweck erreichen. Doch abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß der Feind, in diesem Fall die vereinigte junkerlich-großbürgerlich-monarchische Reaktion Preußen-Deutschlands vor Straßenkundgebungen der Volksmassen nicht im geringsten die Segel zu streichen gesonnen ist, vermögen Demonstrationen auch nur dann einen wirksamen Druck auszuüben, wenn hinter ihnen die ernste Entschlossenheit und Bereitschaft steht, nötigenfalls zu schärferen Mitteln des Kampfes zu greifen. Und dazu gehört vor allem Klarheit darüber, was wir zu unternehmen gedenken, wenn die Straßendemonstrationen sich zur Erreichung ihres direkten Zwecks als unzulänglich erweisen.

Die Notwendigkeit völliger Klarheit und Entschlossenheit in dieser Hinsicht hat ja auch die bisherige Erfahrung der Partei bewiesen. Bereits vor zwei Jahren haben wir die ersten Versuche in Preußen mit Straßendemonstrationen unternommen. Die Massen erwiesen sich auch damals auf der Höhe der Situation, sie folgten begeistert dem Appell der Sozialdemokratie. Ein frischer Hauch, eine Hoffnung auf neue, wirksamere Kampfformen, eine Entschlossenheit, vor keinem Opfer und keiner Einschüchterung zurückzuweichen, ließen sich deutlich in den aufgeregten Massen verspüren. Und was war das Schlußergebnis? Die Partei gab keine weitere Parole aus, die Aktion wurde nicht erweitert und fortgesetzt, im Gegenteil, die Massen wurden wieder abgewinkt, die allgemeine Erregung flaute alsbald ab und die ganze Sache verlief eigentlich im Sand.

Dieses erste Experiment dürfte ein Fingerzeig und eine Warnung für unsere Partei sein, daß die Massenkundgebungen ihre eigene Logik und ihre Psychologie haben, mit denen zu rechnen ein dringendes Gebot für Politiker ist, die sie meistern wollen. Die Äußerungen des Massenwillens im politischen Kampf lassen sich nämlich nicht künstlich auf die Dauer auf einer und derselben Höhe erhalten, in eine und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, sich zuspitzen, neue wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion muß vorwärtskommen. Und gebricht es der leitenden Partei im gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet und die Aktion bricht in sich zusammen.

Eine kleine, aber deutliche Warnung in diesem Sinne haben wir bereits zu Beginn der gegenwärtigen Kampagne erhalten. Als die Parteileitung für Berlin jene 62 Versammlungen im Januar veranstaltete, mit der Absicht, keine Straßendemonstrationen an dieselben zu knüpfen, da erlebten wir in Wirklichkeit eine Enttäuschung. Bekanntlich waren jene Versammlungen trotz der entfalteten Agitation durchaus ungenügend besucht, und erst am 13. Februar, als die Straßenumzüge von vornherein geplant wurden, folgte die Masse begeistert in unübersehbaren Scharen dem Parteiappell. Es ist klar, daß das Schema, fein säuberlich das ganze Register von Versammlungen ohne Straßendemonstrationen zu Versammlungen mit Straßendemonstrationen und weiter, jedesmal von Anfang wieder durchzumachen sich in der Praxis einfach nicht durchführen läßt. Die proletarischen Massen in Berlin und in den meisten größeren Industriezentren Preußens sind bereits von der Sozialdemokratie so stark aufgerüttelt, daß ihnen die Form bloßer Protestversammlungen gegen das preußische Wahlunrecht mit der üblichen Annahme von Resolutionen nicht mehr genügt. Die Straßendemonstrationen sind heute das Geringste, was dem Tatendrang der grollenden Massen und der gespannten politischen Situation entspricht.

Aber wie lange noch? Man müßte wenig Fühlung mit dem geistigen Leben der Parteimassen im Land haben, um nicht ganz deutlich wahrzunehmen, daß die Straßendemonstrationen, schon nach ihrem ersten Anlauf in den letzten Wochen, durch ihre innere Logik eine Stimmung ausgelöst und zugleich objektiv eine Situation auf dem Kampfplatz geschaffen haben, die über sie hinausführt, die über kurz oder lang weitere Schritte, schärfere Mittel unumgänglich notwendig macht.

Die Vorgänge in der Wahlrechtskommission wie im Plenum des preußischen Abgeordnetenhauses, die Tatsache, daß selbst die demagogischste aller Parteien, das Zentrum, sich nicht gescheut hat, durch den Block mit dem Junkertum jede Hoffnung auf eine ernste Reform des Wahlrechts zu vernichten, das alles als Antwort auf die großartigen Demonstrationen in ganz Preußen, ist ein Faustschlag ins Gesicht der demonstrierenden Massen und der Sozialdemokratie an ihrer Spitze, ein Schlag, der unmöglich unerwidert bleiben kann. Nachdem der offene Kampf einmal aufgenommen worden ist, muß durch unerbittliche eiserne Logik dieses Kampfes selbst Schlag auf Schlag folgen. Nachdem die Reaktion die Massenkundgebungen mit der Verhunzung der Wahlrechtsvorlage in der Kommission und im Plenum quittiert hat, muß die Masse unter der Führung der Sozialdemokratie jene Verhunzung mit einem neuen Vorstoß quittieren. In einer Situation, wie die gegenwärtige, ist langes Zögern, sind ausgedehnte Pausen zwischen den einzelnen Kampfakten, Unentschlossenheit in der Wahl der Mittel und der Strategie des weiteren Kampfes beinahe soviel wie eine verlorene Schlacht. Es ist notwendig, die Gegner in Atem zu halten und sie sich nicht in den Wahn steigern zu lassen, daß wir doch nicht wagen würden, weiter als bis jetzt zu gehen, daß uns der Mut der Konsequenz fehlen würde. Andererseits genügen die Straßendemonstrationen bald nicht mehr dem psychologischen Bedürfnis, der Kampfstimmung, der Erbitterung der Massen, und wenn die Sozialdemokratie nicht entschlossen einen Schritt weiter tut, wenn sie den richtigen politischen Moment sich entgehen läßt, um eine weitere Losung auszugeben, so dürfte es ihr kaum gelingen, die Straßendemonstrationen noch eine längere Zeit hindurch aufrechtzuerhalten, die Aktion wird dann schließlich einschlafen und wie vor zwei Jahren im Sande verlaufen. Dieselbe Erfahrung bestätigen die Beispiele analoger Kämpfe in Belgien, in Österreich-Ungarn, in Rußland, die gleichfalls jedesmal die unvermeidliche Steigerung, das Fortschreiten der Massenaktion aufwiesen und erst dank dieser Steigerung einen politischen Effekt erzielten.

Noch ein Umstand ist geeignet, als ein deutlicher Wink zu dienen, daß für die Sozialdemokratie die Straßendemonstrationen allein bald ein von der Welle der Ereignisse überholtes Mittel sein werden. Es sind ja schon bürgerliche Demokraten, linksfreisinnige Elemente des Bürgertums, die Straßendemonstrationen veranstalten! Freilich datiert der Mut dieser obdachlosen Politiker, wie jedermann sieht, von der sozialdemokratischen Initiative her und freilich füllt die Versammlungen und die Straßenumzüge, die von diesen pensionierten Offizieren ohne Armee arrangiert werden, zum großen Teil niemand anderes, als die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Allein die Tatsache selbst, daß die Straßendemonstrationen ein politisches Kampfmittel und ein Bedürfnis des demokratischen Bürgertums geworden sind, zeigt, daß sie unmöglich ein genügendes Kampfmittel für das Bedürfnis der linken Front, der Sozialdemokratie, mehr sind. Ihrer Mission, alle oppositionellen Elemente der besitzenden Klassen vorwärtszudrängen, kann die Sozialdemokratie auch in diesem Fall nur in der Weise gerecht werden, daß sie die Aktion jener Elemente auf die Spitze treibt, daß sie ihnen in der Entschlossenheit der Parolen beständig wegweisend vorausgeht. Sind die Straßendemonstrationen zum Kampfmittel sogar für die Breitscheid, Liszt und Co. geworden, so ist es höchste Zeit, daß die Sozialdemokratie sich besinnt, was ihr nächstes Kampfmittel sein wird.

So sieht sich die Partei von allen Seiten vor die Frage gestellt: Was weiter? Und diese Frage ist, da ihr der letzte preußische Parteitag leider mit einer mehr effektvollen, als politisch wohlerwogenen Geste aus dem Wege gegangen ist, nunmehr dringend auf dem Wege einer Diskussion in der Presse und in den Versammlungen zu lösen. Die Masse selbst der Parteigenossen im Land muß erwägen und beschließen, was weiter zu geschehen habe. Nur dann, nur als Ausdruck des Massenwillens der Partei kann auch unsere weitere Kampftaktik den nötigen Nachdruck und die nötige Stoßkraft erhalten.
 

II.

Eine Reihe von Beschlüssen und Äußerungen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in verschiedenen Zentren unserer Bewegung hat bereits die Antwort gegeben. In Halle, in Bremen, in Breslau, im hessen-nassauischen Agitationsbezirk, in Königsberg haben die Genossen laut dasjenige Kampfmittel genannt, dessen Anwendung sich der Partei im gegenwärtigen Massenkampf von selbst aufzwingt, es ist dies der Massenstreik.

Prinzipiell hat unsere Partei den politischen Massenstreik ja schon vor fünf Jahren auf dem Parteitag in Jena durch formellen Beschluß zu einem auch in Deutschland anwendbaren Kampfmittel erhoben. Freilich war bei jenem Beschluß hauptsächlich an eine eventuelle Notwendigkeit, das bestehende Reichstagswahlrecht zu schützen, an eine Defensive gedacht. Allein es ist angesichts der engsten Verkettung der innerpreußischen mit der Reichspolitik, angesichts der jüngsten Provokationen und Staatsstreichdrohungen der preußischen Junker im Reichstag, angesichts der ganzen Situation klar, daß es sich im gegenwärtigen Kampf nicht bloß um das preußische Wahlrecht, sondern in letzter Linie auch um das Reichstagswahlrecht handelt. Siegen diesmal die Junker und ihre Helfershelfer über die Arbeiterschaft in der preußischen Wahlrechtssache, so wird ihnen zweifellos der Mut schwellen, um im gegebenen Moment auch dem verhaßten Reichstagswahlrecht den Garaus zu machen. Und umgekehrt wird ein kräftiger und erfolgreicher Vorstoß der Masse in der preußischen Wahlrechtsfrage offenbar die beste und sicherste Rückendeckung für das Reichstagswahlrecht sein.

Für die Anwendbarkeit des Massenstreiks in der gegenwärtigen Kampagne spricht aber namentlich der Umstand, daß er sich aus einer bereits begonnenen und sich immer mehr verbreitenden Massenaktion als ihre natürliche unvermeidliche Steigerung gewissermaßen von selbst ergibt. Ein aus der Pistole geschossener, durch einfaches Dekret der Partei eines schönen Morgens „gemachter“ Massenstreik ist bloß kindische Phantasie, anarchistisches Hirngespinst. Ein Massenstreik aber,der sich nach einer monatelangen und an Dimensionen zunehmenden Demonstrationsbewegung gewaltiger Arbeitermassen ergibt, aus einer Situation, in der eine Dreimillionenpartei vor dem Dilemma steht: entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion bricht erfolglos in sich zusammen, ein solcher aus dem inneren Bedürfnis und der Entschlossenheit der aufgerüttelten Massen und zugleich aus der zugespitzten politischen Situation geborener Massenstreik trägt seine Berechtigung wie die Gewähr seiner Wirksamkeit in sich selbst.

Freilich ist auch der Massenstreik nicht ein wundertätiges Mittel, das unter allen Umständen den Erfolg verbürgt. Namentlich darf der Massenstreik nicht als ein künstliches, sauber nach Vorschrift und nach Kommando anwendbares einmaliges mechanisches Mittel des politischen Drucks betrachtet werden. Massenstreik ist bloß die äußere Form der Aktion, die ihre innere Entwicklung, ihre Logik, ihre Steigerung, ihre Konsequenzen hat, im engsten Zusammenhang mit der politischen Situation und ihrem weiteren Fortgang. Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne. Aber er ist ebenso sicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium. Und wenn der weitere Verlauf, die Dauer, der unmittelbare Erfolg, ja, die Kosten und Opfer dieser Kampagne sich auch unmöglich mit dem Bleistift auf dem Papier im voraus, wie die Kostenrechnung einer Börsenoperation, aufzeichnen lassen, so gibt es nichtsdestoweniger Situationen, wo es politische Pflicht einer Partei, die Führerin von Millionen ist, ist mit Entschlossenheit die Parole zu geben, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärtstreiben kann.

In einer Partei, wo, wie in der deutschen, das Prinzip der Organisation und der Parteidisziplin so beispiellos hochgehalten wird, wo infolgedessen die Initiative unorganisierter Volksmassen, ihre spontane, sozusagen improvisierte Aktionsfähigkeit, ein so bedeutender, oft ausschlaggebender Faktor in allen bisherigen großen politischen Kämpfen, fast ausgeschaltet ist, da liegt der Partei die unabwendbare Pflicht ob, den Wert dieser so hochentwickelten Organisation und Disziplin auch für große Aktionen, ihre Verwendbarkeit auch für andere Kampfformen, als für parlamentarische Wahlen, nachzuweisen. Es gilt, zu entscheiden, ob die deutsche Sozialdemokratie, die sich auf die stärksten Gewerkschaftsorganisationen und das größte Heer der Wähler in der Welt stützt, eine Massenaktion zustande bringen kann, die im kleinen Belgien, in Italien, in Österreich-Ungarn, in Schweden – von Rußland gar nicht zu sprechen – in verschiedenen Zeiten mit großem Erfolg zustande gebracht worden ist, oder aber, ob in Deutschland eine nach zwei Millionen Köpfen zählende gewerkschaftliche Organisation und eine mächtige, wohldisziplinierte Partei im entscheidenden Moment geradesowenig eine wirksame Massenaktion ins Leben zu rufen vermag, wie die durch anarchistische Verwirrung gelähmten französischen Gewerkschaften und die durch innere Kämpfe geschwächte Partei Frankreichs.

Es ist allerdings klar, daß eine Aktion vom Charakter und der Tragweite des Massenstreiks nicht von der Partei allein, ohne die Gewerkschaften, gemacht werden kann. Nur aus einer gemeinsamen, einmütigen Wirkung beider Organisationszweige kann jene gewaltige Aktion im ganzen Land ausgelöst werden, um die es sich in Deutschland allein handeln kann. Vom gewerkschaftlichen Standpunkt kommen nun verschiedene Gesichtspunkte in Betracht. Einerseits ist der westliche Kohlenbezirk schon seit einiger Zeit in heftiger Gärung begriffen und bereitet sich auf einen großen wirtschaftlichen Kampf vor. Andererseits sind in verschiedenen Produktionszweigen, zum Beispiel im Baugewerbe, die Verhältnisse so gespannt, daß die Unternehmer nur auf einen gelegenen Vorwand warten, um umfassende Aussperrungen ins Werk zu setzen. Auf den ersten Blick können beide Umstände als ein Grund erscheinen, einen politischen Massenstreik vom gewerkschaftlichen Standpunkt für wenig angebracht zu halten. Aber nur auf den ersten Blick. Bei näherem Zusehen kann das Zusammentreffen eines umfangreichen Massenstreiks im Kohlenbergbau mit einer politischen Streikbewegung für beide nur von Nutzen sein. In jeder großen Massenbewegung des Proletariats wirken zahlreiche politische und wirtschaftliche Momente zusammen, und sie voneinander künstlich losschälen, sie pedantisch auseinanderhalten wollen, wäre ein vergebliches und schädliches Beginnen. Eine gesunde, lebensfähige Bewegung, wie die gegenwärtige preußische Kampagne, muß und soll aus allem aufgehäuften sozialen Zündstoff Nahrung schöpfen. Andererseits kann es für den Erfolg der engeren Bergarbeitersache nur von Nutzen sein, wenn sie dadurch, daß sie in eine breitere, politische einmündet, den Gegnern – den Kohlenmagnaten und der Regierung – mehr Furcht einflößt. Um so eher würden diese sich gezwungen sehen, durch Konzessionen die Bergarbeiter zu befriedigen und sie von der politischen Sturmflut zu isolieren suchen. Was aber die drohenden Aussperrungen betrifft, so wissen wir ja aus zahllosen Erfahrungen, daß, wo es das Interesse des Unternehmertums und sein Herrenstandpunkt erfordern, es ihm auch noch nie an Vorwänden zu einer brutalen Massenaussperrung gefehlt, noch ein Mangel an halbwegs gerechtfertigten Vorwänden sie je von der Ausführung ihrer Gewaltakte abgehalten hat. Ob ein politischer Massenstreik verwirklicht wird oder nicht, die Aussperrungen werden nicht ausbleiben, sofern sie dem Unternehmertum in den Kram passen. Das zeitliche Zusammenfallen dieser Aussperrungen mit einer großen politischen Bewegung kann nur die Wirkung haben, daß sie durch die allgemeine Hebung des Idealismus, der Opferwilligkeit, der Energie und Widerstandsfähigkeit des Proletariats auch für die partiellen Leiden jener Aussperrungen die Arbeiter widerstandsfähiger machen wird.

Die wichtigste Rücksicht vom gewerkschaftlichen Standpunkt bleibt nach alledem die: eine große Massenstreikaktion ist in jedem Fall ein starkes Risiko für den Bestand der gewerkschaftlichen Organisationen und ihrer Kassen. Können und dürfen die Gewerkschaften ein solches Risiko übernehmen? Zunächst soll das Risiko selbst gar nicht bestritten werden. Aber welcher Kampf, welche Aktion, welcher rein wirtschaftliche Streik bringt für die Kampforganisationen der Arbeiter nicht ein Risiko mit sich? Sollte gerade der machtvolle Ausbau, die zahlenmäßige Stärke unserer deutschen Gewerkschaften ein Grund sein, auf solche Gefahren im Kampf mehr Rücksicht zu nehmen, als es schwächere Gewerkschaften in andern Ländern, zum Beispiel in Schweden, in Italien, tun, so wäre das ein gefährliches Argument gegen die Gewerkschaften selbst. Denn es liefe auf den seltsamen Schluß hinaus, daß, je größer und stärker unsere Organisationen, um so weniger aktionsfähig, um so zaghafter werden wir. Der Zweck selbst des starken Ausbaues der Gewerkschaften wäre damit in Frage gestellt, da wir doch der Organisationen als eines Mittels zum Zweck, als des Rüstzeugs zum Kampf, nicht als Selbstzweck bedürfen. Diese Frage kann aber zum Glück gar nicht auftauchen. In Wirklichkeit ist die Gefahr, das Risiko, das unsere Gewerkschaftsorganisationen laufen, nur ein äußerliches. In Wirklichkeit bewähren sich gesunde, kräftige Organisationen nur im scharfen Kampf und erstehen aus jeder Kraftprobe mit erneuten Kräften und gewachsen wieder auf. Mag ein allgemeiner politischer Massenstreik im ersten Gefolge die Schwächung oder Beschädigung mancher Gewerkschaft nach sich ziehen – nach kurzer Zeit werden nicht bloß die alten Organisationen neu aufblühen, sondern die große Aktion wird ganz neue Schichten des Proletariats aufrütteln und den Gedanken der Organisation in Kreise hineintragen, die einer ruhigen, systematischen Gewerkschaftsorganisation bis jetzt unzugänglich waren, oder sie wird für unsere Organisationen Scharen von Proletariern gewinnen, die bis jetzt unter bürgerlicher Leitung, beim Zentrum, den Hirsch-Dunckerschen, den Evangelischen verblieben. Verluste werden bei einer gesunden, großen, kühnen Massenaktion stets von Gewinnen überwogen werden. Gerade momentan erleben wir ein lehrreiches Beispiel, wie es für die vorsichtigste Gewerkschaftsbewegung unter Umständen zur Notwendigkeit, zur Ehrensache werden kann, sich in einen großen Kampf zu stürzen, ohne ängstlich alle Chancen des Gewinnes und des Verlustes abzuwägen. Dieses Beispiel zeigt sich uns in Philadelphia. Dort sehen wir eine Organisation in den Kampf treten, die in der ganzen Internationale wohl als die am wenigsten revolutionäre, waghalsige und leichtsinnige gilt, eine Organisation, an deren Spitze ein Mann wie Gompers steht, ein kühler Politiker voller Verachtung für sozialdemokratische „Überspanntheiten“ und „revolutionäre Phrasen“ Diese Organisation wird vielleicht in der allernächsten Zeit einen umfangreichen Generalstreik proklamieren, und zwar, um die Koalitionsfreiheit von 600 Trambahnangestellten zu schützen. Daß in dieser heftigen, stündlich um sich greifenden Kraftprobe mit dem Kapital die amerikanischen Gewerkschaften zunächst ein großes Risiko laufen, unterliegt keinem Zweifel. Wer aber wird die Schritte Gompers’ in diesem Fall verurteilen, und wer wird nicht einsehen, daß diese große Kraftprobe im letzten Ende die segensreichsten Folgen für die amerikanische Arbeiterbewegung im ganzen haben kann? Den deutschen Gewerkschaften im ganzen kann es im Schluß der Rechnung auch nur nützlich sein, wenn sie dem übermütig gewordenen koalierten Kapital einmal deutlich ihre Macht zu fühlen geben.

Vom politischen Standpunkt kommt noch eins in Betracht. Im Jahre 1912 haben wir Reichstagswahlen, bei denen es die Generalquittung für die Hottentottenwahlen zu geben gilt. Freilich haben unsere Gegner mit der Finanzreform trefflich für uns vorgearbeitet. Unsererseits aber können wir uns keine glänzendere Situation schaffen, als durch eine vorhergegangene große politische Massenaktion, wie sie Deutschland noch nicht erlebt hat. Durch Aufrüttelung breitester Massen, Erhöhung des Idealismus, Anspannung der Kampfenergie aufs höchste in dieser Aktion können wir einen Grad von Aufklärung und Stimmung erreichen, der die kommenden Wahlen zu einem betäubenden Waterloo für das herrschende System gestalten wird.

Vom gewerkschaftlichen wie vom politischen Standpunkt ergibt sich also gleichermaßen für uns die Weisung: erst wägen, dann aber wagen!

Ein politischer Massenstreik in Deutschland – denn selbstverständlich kommt in diesem Fall nicht Preußen allein in Betracht, die Parteimassen des übrigen Reiches würden sicher mit Begeisterung von selbst mit ihrer Unterstützung herbeieilen –, ein deutscher Massenstreik würde die tiefgreifendste, weittragendste Wirkung auf die Internationale ausüben, er wäre eine Tatsache, die den Mut, den sozialistischen Glauben, die Zuversicht, die Opferfreudigkeit des Proletariats in allen Ländern unermeßlich steigern würde. Freilich können Erwägungen dieser Art nicht ein Grund für die deutsche Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften sein, sich für die Anwendung des Massenstreiks zu entschließen, wenn sich diese nicht aus der inneren Situation in Deutschland selbst ergibt. Aber bei der Berechnung des Gewinn- und Verlustkontos einer eventuellen Anwendung des Massenstreiks darf die angeführte Rücksicht sicher eine Erwähnung finden. Die deutsche Sozialdemokratie war bis jetzt für die Internationale das große Muster auf dem Gebiet des parlamentarischen Kampfes, der Organisation und der Parteidisziplin. Sie kann vielleicht bald ein glänzendes Beispiel geben, wie man alle diese Vorzüge mit einer entschlossenen und unerschrockenen Massenaktion zu verbinden versteht.

Dennoch darf keinesfalls erwartet werden, daß eines schönen Tages von der obersten Leitung der Bewegung, vom Parteivorstand und von der Generalkommission der Gewerkschaften, das „Kommando“ zum Massenstreik ergeht. Körperschaften, die eine Verantwortung für Millionen tragen, sind in ihren Entschlüssen, die doch andere ausführen müssen, von Haus aus naturgemäß zurückhaltend. Überdies kann der Entschluß zu einer unmittelbaren Aktion der Masse nur von der Masse selbst ausgehen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein – dieser wegweisende Satz des „Kommunistischen Manifests“ hat auch noch die Bedeutung im einzelnen, daß auch innerhalb der Klassenpartei des Proletariats jede große, entscheidende Bewegung nicht aus der Initiative der Handvoll Führer, sondern aus der Überzeugung und Entschlossenheit der Masse der Parteianhänger herrühren muß. Auch der Entschluß, den gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampf, gemäß dem Wort des preußischen Parteitages, „mit allen Mitteln“, also auch durch das Mittel des Massenstreiks, zum Siege zu führen, kann nur durch die breitesten Parteischichten gefaßt werden. Es ist Sache der Partei-und Gewerkschaftsgenossen, in jeder Stadt und jedem Bezirk zu den Fragen der gegenwärtigen Situation Stellung zu nehmen und ihrer Meinung, ihrem Willen in klarer und offener Weise Ausdruck zu geben, damit die Meinung der organisierten Arbeitermasse als Ganzes sich Gehör verschaffen kann. Und ist das geschehen, dann werden auch unsere Führer sicher auf dem Posten sein, wie sie es bis jetzt stets gewesen sind.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012