Rosa Luxemburg


Reden auf dem Jenaer Parteitag der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

(September 1905)


Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Jena, 17. bis 23. September 1905, S. 256–257, 269–271 u. 320–321.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 595–603.
Kopiert von der Webseite Sozialistische Klassiker, die leider nicht mehr online ist.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Reden in der Debatte über die Maifeier [1*]

I.

21. September 1905

Robert Schmidt hat mehrmals betont, daß es zwischen Partei und Gewerkschaften in Deutschland keinen Gegensatz geben könne. Tatsächlich darf es einen solchen Gegensatz nicht geben, aber wenn Erscheinungen in der Arbeiterbewegung dazu angetan sind, einen solchen Gegensatz zu schaffen und zu schüren, so hat uns gerade die Rede von Schmidt bewiesen, daß es wohl Elemente gibt, die dahin arbeiten. („Sehr richtig!“) Denn was war anders die Zentralachse der Rede von Schmidt, der sich eine Stunde erbeten hat, um seine Haltung in der Maifeierfrage zu rechtfertigen, die Redezeit aber dazu benutzt hat, eine unerhörte Hetze gegen die Neue Zeit und die Theorie zu halten. („Sehr richtig!“) Und zwar war diese Hetze mit so unschönen Mitteln geführt, wie wir sie nur bei den ärgsten Gegnern aus dem bürgerlichen Lager kennen. („Sehr richtig!“) Kautsky, der eigentlich berufen ist, für die Neue Zeit zu reden, ist gegenwärtig in der Fünfzehnerkommission [2*] beschäftigt, ich fühle mich verpflichtet, an seiner Stelle einige Tatsachen vorzuführen, die die Methode von Schmidt in seinem Kampf gegen die Neue Zeit beleuchten. Auch die Vorwürfe des Vorwärts sind ja ausgeklungen in den wehmütigen Klagelaut: Ach, wie schade, daß die Neue Zeit nicht genügend für die theoretische Durchbildung der Massen arbeitet! Der Vorwärts ist so beschäftigt, daß er das nicht tun kann. Zu denjenigen, die bereit sind, alle Augenblicke zu bedauern, daß die Neue Zeit so wenig verbreitet ist, gehört wahrscheinlich auch Robert Schmidt, aber dieselben Leute ergreifen mit dem größten Eifer jede Gelegenheit, gegen die Neue Zeit zu arbeiten und sie herunterzureißen. So sagte Schmidt wörtlich, es sei ein Glück, daß nicht mehr Arbeiter die Neue Zeit lesen. Ich frage, wie kann ein Parteigenosse, ein Reichstagsabgeordneter der Sozialdemokratie sich hinstellen und solche Äußerungen wagen gegen die Neue Zeit, das einzige wissenschaftliche Organ, um die deutschen Arbeiter zum Sozialismus zu erziehen! („Sehr gut!“) Die Neue Zeit soll zu wenig Artikel über gewerkschaftliche Fragen bringen. Ich habe hier das Verzeichnis der gewerkschaftlichen Artikel, die die Neue Zeit im letzten Jahre, abgesehen von den Artikeln über den Massenstreik, gebracht hat, ich werde mit Beweisen in der Hand vorgehen, denn in bezug auf Wahrheitsliebe und Zitierkunst Robert Schmidts ist das sehr angebracht. Im letzten Jahre also schrieb in der Neuen Zeit in Nr. 2 Legien über ein Jahrzehnt gewerkschaftlicher Bewegung, in Nr. 9 Umbreit über Arbeiterkammern, in Nr. 20 Schnatter über den Zunftgedanken in den Tarifverträgen, in Nr. 27 Umrath über die Generalstreikdebatte, in Nr. 28 Umbreit über gewerbliche Friedensschwärmerei, in Nr. 33 Kloth über Generalstreik und Maifeier auf dem Gewerkschaftskongreß in Köln, in Nr. 33 Hermann Müller über eine Fusion auf gewerkschaftlichem Gebiet, in Nr. 34 Heinrich Baer über Gewerkschaft und Partei, in Nr. 34 Kautsky über eine Revision der gewerkschaftlichen Taktik, in Nr. 36 Kautsky über den Kongreß in Köln, in Nr. 41 Hoch über die christliche Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, in Nr. 47 Ströbel über Gewerkschaften und sozialistischen Geist, in Nr. 48 Fleißner über Partei und Gewerkschaft. („Hört, hört!“) Allerdings, in dieser ziemlich langen Liste finden Sie weder den Namen Robert Schmidt, noch Hue, noch den des zur besseren Erkenntnis bekehrten von Elm. („Sehr gut!“) Wenn Sie diese Namen finden wollen, dann suchen Sie nicht in der Neuen Zeit, dann suchen Sie in den Sozialistischen Monatsheften, oder noch einen Schritt weiter in der Neuen Gesellschaft oder noch weiter in dem nunmehr entschlafenen Europa von Herrn Michalski und Ed. Bernstein. (Heiterkeit und „Sehr richtig!“) Dafür schreiben sie, aber nicht für die Neue Zeit, und dann kommen sie, die ihr Geisteslicht in andere Blätter hintragen, stellen sich hin und sagen, die Neue Zeit bringt nichts über Gewerkschaften, es sei ein Glück, daß sie nicht mehr gelesen wird.

Schmidt hat unter anderem behauptet, wenn schon jemand über Gewerkstaften in der Neuen Zeit schreibt, so ist das gewiß ein so gottverdammter Theoretiker, der nichts von der gewerkschaftlichen Praxis versteht, und als Beweis zitiert er einen Artikel des bekannten Theoretikers Fleißner aus Dresden (Heiterkeit) und einen zweiten des noch bekannteren Theoretikers, des Bäckergesellen Fischer aus Weimar. (Erneute Heiterkeit) Und wie versteht Schmidt zu zitieren? Er verliest den Satz: „Nun muß ganz naturgemäß das Streben für die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter lm heutigen Staat dazu beitragen, die Existenz dieses Staates zu verlängern, denn je wohler es den einzelnen Gliedern eines Staatswesens geht, desto weniger werden diese Glieder dafür zu haben sein, eine Änderung des Staatswesens herbeizuführen.“ Hier klappt er schnell das Buch zusammen und sagt: Ja sehen Sie, solche Ansichten werden in der Neuen Zeit verbreitet. Hier hat aber der Artikel nicht angefangen und hier war er nicht zu Ende. Der Verfasser ging zunächst auf die damals aktuelle Frage ein, ob die Neutralität der Gewerkschaften überhaupt eine neue Erfindung, ein Rezept wäre, das erst den Gewerkschaften zu empfehlen sei, oder ob das nicht eine alte Praxis der Gewerkschaften sei. „Die Gewerkschaften“, sagte zunächst der Verfasser, „haben sich stets dagegen verwahrt, wenn irgend jemand sie als Organisation der sozialdemokratischen Partei, als sozialdemokratische Gewerkschaften schlechtweg bezeichnete. Der Grund für diese Abwehr ist klar: Die Aufgaben der Gewerkschaften liegen auf anderem Gebiete wie die Aufgaben der Sozialdemokratie.“ Dann befürwortet der Verfasser eine Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften, und an den von Schmidt verlesenen Satz knüpft er den Satz an: „Will nun trotzdem die Sozialdemokratie diese Änderung durchsetzen, so muß sie in der Lage sein, überzeugend nachzuweisen, daß das von ihr erstrebte Ziel den Gewerkschaftsmitgliedern weitere Verbesserungen bringe, als sie in der heutigen Gesellschaft durch die Gewerkstaftsorganisation möglich sind.“ [3*] Schmidt hat also ein Zitat zur Hälfte einfach durchgeschnitten. Ich weiß nicht, ob Schmidt schon, bevor er jenen Artikel in die Hand nahm, der Überzeugung war, daß es ein Glück wäre, die Neue Zeit nicht zu lesen, und daß er nur zufällig jenen aus dem ganzen Zusammenhang gerissenen Satz gelesen hat. (Heiterkeit) Genauso steht es mit der Wahrheitsliebe des Genossen Schmidt, wenn er behauptet, die Neue Zeit sei ein spezielles Organ zum Herunterreißen des Parlamentarismus; er führt uns sogar schon das schreckliche Gespenst der zerfahrenen Zustände in Frankreich vor, auf die die Neue Zeit hinarbeite. Ich möchte ihn bitten, mir einen einzigen Artikel der Neuen Zeit zu zeigen, wo der Parlamentarismus heruntergerissen wäre. Allerdings, vielleicht versteht Schmidt unter Herunterreißen eine Kritik des bürgerlichen Parlamentarismus, wie sie uns durch unser Programm, durch unseren Klassenstandpunkt zur Pflicht gemacht wird. Wenn er das darunter versteht, wenn er glaubt, es sei unsere Pflicht, den bürgerlichen Parlamentarismus in den Himmel zu heben, so muß ich allerdings sagen, die Neue Zeit kann das Lob Robert Schmidts nicht verdienen, und ich hoffe, sie wird auch fernerhin, solange Kautsky sie redigiert, Robert Schmidts Lob nicht verdienen. (Beifall)

[Die Redezeit ist abgelaufen, Rednerin meldet sich nochmals zum Wort.]
 

II.

21. September 1905

Genosse Schmidt hat mir in seiner persönlichen Bemerkung zunächst den Vorwurf mangelnder Liebenswürdigkeit gemacht. Ich fühle mich sehr getroffen und zerknirscht; zum Glück weiß ich ein Mittel, um dem abzuhelfen und mich zur echten rechten Liebenswürdigkeit zu erziehen. (Heiterkeit) Schmidt hat nämlich den Theoretikern den Rat gegeben, in die Gewerkschaften einzutreten. Ich glaube, daß das für mich in bezug auf meine Liebenswürdigkeit in der Tat gesund wäre. Davon hat mich ein Artikel des Genossen Hue, den er in der jüngsten Zeit in der Deutschen Bergarbeiter-Zeitung hat erscheinen lassen, überzeugt. Es heißt am Schluß dieses Artikels, der als Muster liebenswürdigen Verkehrs mit Parteigenossen gelten kann:

„In Rußland tobt seit Jahr und Tag der Kampf um die Volksfreiheit. Wir wunderten uns schon immer, warum unsere theoretischen Generalstreikler nicht schleunigst nach Rußland gehen, um dort praktische Kampfeserfahrungen zu sammeln und mitzukämpfen. In Rußland blutet die Arbeiterschaft, weshalb eilen insbesondere die aus Rußland oder Polen stammenden, jetzt in Deutschland, Frankreich und der Schweiz ‚revolutionäre‘ Artikel schreibenden Theoretiker nicht auf den Kampfplatz? Wer ein solches Übermaß von ‚revolutionärer‘ Energie bietet wie unsere systematischen Generalstreikpropagandisten, für den ist es Zeit, sich im russischen Freiheitskampfe praktisch zu beteiligen, statt aus der Sommerfrische Generalstreiksdiskussion zu betreiben. Probieren geht übers Studieren, darum auf in den russischen Freiheitskampf, ihr ‚Theoretiker des Klassenkampfes‘.“

Und dann sagt der Pastor Naumann [4*] in der Hilfe, die den Artikel mit Wonne zitiert: „Diese Worte sind gut! Die internationalen Revolutionäre sollen sagen, weshalb sie jetzt nicht international genug sind, sich nach Warschau zu begeben.“

Also dorthin, wo der Staatsanwalt neulich meinem engeren Parteigenossen Kasprzak zu der höchsten Ehre verholfen hat, die keinem Sozialdemokraten erwiesen werden kann [5*], dorthin ladet uns Genosse Hue in liebenswürdiger Weise ein. Ich glaube also, ich habe ein Recht zu hoffen, daß ich in den Gewerkschaften nicht nur zur Einsicht über die wahren Grundsätze und die praktische Taktik der Arbeiterbewegung kommen, sondern auch Belehrung über die echte Liebenswürdigkeit des parteigenössischen Tons erhalten werde.

In bezug auf die Neue Zeit habe ich noch hinzuzufügen, daß Schmidt einer großen Enttäuschung entgegengeht, wenn er hofft, daß die Neue Zeit so wenig wie möglich von den Arbeitern gelesen werde. Wie Sie wissen, hat schon einmal die schönste Hetze gegen die Neue Zeit stattgefunden, und zwar 1902 in München. Welchen Einfluß hat das auf das Gedeihen der Neuen Zeit gehabt? 1902 betrug die Zahl der Abonnenten im ersten Halbjahr 3.700, im zweiten 3.600, im Jahre 1905 im ersten Halbjahr 4.800, im zweiten 5.100. („Hört, hört!“) Wir sehen also, daß die Attacken der Parteigenossen gegen die Neue Zeit dieselbe Wirkung gehabt haben wie die Attacken der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie überhaupt: wir werden gesund dabei und kriegen rote Backen. („Sehr gut!“) Für diejenigen, die die gewöhnliche Verbreitung der wissenschaftlichen Revuen nicht kennen, füge ich hinzu, daß die Neue Zeit mit dieser Abonnentenziffer nicht nur nicht hinter den besten bürgerlichen Revuen zurücksteht, sondern ihnen sogar voranschreitet, daß dieser Abonnentenstand für eine wissenschaftliche Revue, die nicht für die Massen bestimmt ist, ausgezeichnet genannt werden muß.

Nun noch ein paar Worte zu der Hauptfrage, dem Gegensatz zwischen Gewerkschaften und Partei. Genosse Hüttmann meinte, er begreife gar nicht, woher die Angriffe auf die Gewerkschaftsführer kämen, er könne sich gar nicht denken, daß es Gewerkschaftler gäbe, die nicht mit beiden Füßen auf dem Boden des Klassenkampfes stehen. Facta loquuntur [Tatsachen reden]. Ich will Ihnen von einigen Flugblättern Kenntnis geben, die in der jüngsten Zeit, nämlich im Essener Wahlkampf, gegen die Sozialdemokratie vom Zentrum verbreitet worden sind, in denen eine ganze Reihe von Äußerungen der Gewerkschaftspresse gegen uns ausgeschlachtet werden. Diese Äußerungen beweisen, daß in der Tat manche Gewerkschafter nicht mehr auf dem Boden des Klassenkampfes stehen und daß diese Gewerkschaftler, die die Gegensätze zur Partei schüren, nicht in der Phantasie, sondern in der traurigen Wirklichkeit leben. Das erste Flugblatt geht vom Zentrum aus und ist betitelt Nieder mit der Maske! Da heißt es:

„Der Correspondent für Deutschlands Buchdrucker richtet gegen die Sozialdemokratie den Vorwurf der politischen Ohnmacht anläßlich der Frage des politischen Massenstreiks. Er schreibt in Nr. 65 dieses Jahres: ‚Mit dem Mystizismus des politischen Massenstreiks verhüllt man doch nur eine unfähige Politik des jakobinischen Systems, das einst die agitatorische Kraft der Sozialdemokratie entwickeln half, aber untauglich ist zu politischem Schaffen, zu wirklich politischer Macht im Sinne positiver und dauernder Erfolge. Die Gewerkschaftsbewegung bedarf nicht des geschichtlichen Hinweises Bernsteins, seine Auslassungen sind nur ein Beweis für die politische Hilflosigkeit der Partei, die nicht vorwärts und nicht rückwärts kann, weil sie durch ein veraltetes Programm an Händen und Füßen gebunden ist an ihre daraus resultierende verkehrte Politik.‘“

In einem zweiten Flugblatt des Zentrums heißt es: In dem Fachgenossen Nr. 23 schreibt der Sozialdemokrat Edmund Fischer:

„Man mag die Arbeiterversicherung noch so gering einschätzen, eins wird ein jeder zugeben: daß der heutige Alters- und Invalidenrentner eine ganz andere soziale Stellung einnimmt als der arbeitsunfähige Großvater vor 25 Jahren, der seinen Kindern zur Last fiel oder es als eine Schande empfand, von der Gemeindeunterstützung zu leben.

Die sozialen Gesetze sind zwar immer erst Fundamentmauern. Aber sie sind immerhin Fundamente und dadurch wird der Anfang zu einem großen Gebäude menschlicher Solidarität gelegt. Und der Wettstreit um den Ausbau dieses Gebäudes hat den Gedanken der Gemeinsamkeit, der Gleichheit, der Solidarität auch in Kreisen geweckt und gestärkt, die sich nicht zu den Arbeitern zählen, und er hat damit zur Veredelung des geistigen Lebens beigetragen.“

Und zu dieser wunderbaren Auslassung eines Gewerkschaftsblattes brauchte das Zentrum natürlich nur den Satz hinzuzufügen: „Ist das nicht ein vernichtendes Urteil für die Verneinungspolitik der Sozialdemokratie??“

So wird von diesen Gewerkschaftlern die Arbeiterversicherung eingeschätzt, die unsere Abgeordneten nicht müde werden zu kritisieren. Diese Äußerungen beweisen, daß es in der Tat Gewerkschaftsführer gibt, die einen Zwiespalt zwischen sozialdemokratischer Politik und gewerkschaftlicher Praxis schaffen. Tatsächlich besteht dieser Zwiespalt nicht zwischen Partei und Gewerkschaften, sondern innerhalb der Gewerkschaften, wie, bis zu einem gewissen Grade, innerhalb der Partei. Es ist dies der Zwiespalt zwischen der „revidierten“ Auffassung einer Minderheit von Führern und der gesunden revolutionären Auffassung der Arbeitermasse. Die Masse der Gewerkschaftsmitglieder ist auf unserer Seite und fühlt wohl, daß es im Interesse sowohl der Partei wie der Gewerkschaften liegt, daß die gesamte Arbeiterbewegung von dem gleichen Geiste durchhaucht ist, daß sie in allen ihren Teilen vom Geiste des Sozialismus getragen sein muß. (Lebhafte Zustimmung) Sie alle fühlen, daß sich die Gewerkschaften und Sozialdemokratie sagen müssen, wie Bertha im Wilhelm Tell: „Es ist ein Feind, vor dem wir alle zittern, und eine Freiheit macht uns alle frei.“ [6*] (Lebhafter Beifall)
 

III.

Rede in der Debatte über den politischen Massenstreik [7*]

22. September 1905

Wenn man die bisherigen Reden in der Debatte zur Frage des politischen Massenstreiks hier gehört hat, muß man sich wirklich an den Kopf fassen und fragen: Leben wir denn tatsächlich im Jahre der glorreichen russischen Revolution oder stehen wir in der Zeit zehn Jahre vor ihr? („Sehr richtig!“) Sie lesen tagtäglich in den Zeitungen die Berichte von der Revolution, Sie lesen die Depeschen, aber es scheint, daß Sie keine Augen haben zu sehen und keine Ohren zu hören. Da verlangt man, daß wir sagen, wie werden wir den Generalstreik machen, mit welchen Mitteln, zu welcher Stunde wird der Generalstreik erklärt, habt ihr schon die Magazine für die Lebensmittel? Die Massen werden verhungern. Könnt ihr es auf euer Gewissen nehmen, daß Blut fließt? Ja, alle, die solche Fragen stellen, haben nicht die geringste Fühlung mit der Masse, sonst würden sie sich nicht so weit den Kopf um das Blut der Massen zerbrechen, denn die Verantwortlichkeit ruht gerade nicht bei den Genossen, die diese Fragen stellen. Schmidt sagt, warum sollen wir auf einmal unsere alte bewährte Taktik dem Generalstreik zuliebe aufgeben, warum sollen wir auf einmal diesen politischen Selbstmord begehen? Ja, sieht denn Robert Schmidt nicht, daß die Zeit gekommen ist, die unsere Großmeister Marx und Engels vorausgesehen haben, wo die Evolution in die Revolution umschlägt? Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten. Da stellt sich Heine hin und fragt Bebel, ja haben Sie auch darüber nachgedacht, daß im Fall des Generalstreiks nicht nur unsere wohlorganisierten Kräfte, sondern auch die unorganisierten Massen auf dem Plan zu erscheinen haben, und haben Sie auch diese Massen im Zügel? Aus diesem einen Wort geht die ganze bürgerliche Auffassung von Heine hervor, das ist eine Schande für einen Sozialdemokraten. (Unruhe) Die bisherigen Revolutionen, namentlich die von 1848, haben bewiesen, daß man in revolutionären Situationen nicht die Massen im Zügel halten muß, sondern die parlamentarischen Rechtsanwälte, damit sie die Massen und die Revolution nicht verraten. Schmidt hat sich auf das belgische Experiment [8*] und auf den Ausspruch von Vandervelde [9*] bezogen; ich glaube, wenn irgend etwas gezeigt hat, daß man eine großartige spontane revolutionäre Massenbewegung durch Kleingeisterei ruinieren kann, so war es dieser Streik, und Vandervelde konnte meiner Kritik gegenüber nicht eine einzige Tatsabe anführen, sondern suchte sich durch allgemeine Redensarten herauszureden, als ich ihm nachwies, daß diese ganze großartige Massenstreikbewegung durch das parlamentarische Techtelmechteln mit den Liberalen zugrunde gegangen war. (Bernstein: „Unwahr!“) Ach, was verstehen Sie davon? (Große Unruhe) Heine hat das rote blutige Gespenst heraufbeschworen und gesagt, ihm sei das Blut des deutschen Volkes teurer als – das war der Sinn seiner Worte – dem leichtsinnigen Jüngling Bebel. Ich will die persönliche Frage beiseite schieben, wer mehr berufen und mehr befähigt ist, die Verantwortung zu tragen, Bebel oder der vorsichtige staatsmännische Heine, aber wir sehen doch an der Geschichte, daß alle Revolutionen mit dem Blut des Volkes erkauft sind. Der ganze Unterschied ist, daß bis jetzt das Blut des Volkes für die herrschenden Klassen verspritzt wurde, und jetzt, wo von der Möglichkeit gesprochen wird, ihr Blut für ihre eigene Klasse zu lassen, da kommen vorsichtige, sogenannte Sozialdemokraten und sagen, nein, dies Blut ist uns zu teuer. Es handelt sich augenblicklich nicht darum, die Revolution zu proklamieren, es handelt sich nicht einmal darum, den Massenstreik zu proklamieren. Und wenn uns Heine, Schmidt und Frohme zurufen, organisiert die Massen und klärt sie auf, so werden wir ihnen antworten, das tun wir, aber wir wollen es nicht in eurem Sinne! (Zuruf: „Ach, ach!“) Nicht in dem Sinne der Verkleisterung und Vertuschung der Gegensätze, wie es alle diese Genossen seit Jahr und Tag tun. Nein, nicht die Organisation vor allem, sondern vor allem der revolutionäre Geist der Aufklärung Das ist noch viel wichtiger. Erinnern Sie sich an die Zeit des Sozialistengesetzes! Man hat unsere Gewerkschaften zertrümmert und sie sind wie Phönixe aus der Asche emporgestiegen. Ebenso wird es auch künftig in Perioden heftiger Kämpfe sein. Es gilt vor allem, die Massen aufzuklären, und da brauchen wir gar nicht so vorsichtig zu sein wie die Gewerkschaftsführer in Köln [10*] es gewesen sind. Die Gewerkschaft darf nicht zum Selbstzweck und dadurch zum Hemmschuh für die Bewegungsfreiheit der Arbeiter werden. Lernen Sie einmal aus der russischen Revolution! Die Massen sind in die Revolution getrieben, fast keine Spur von gewerkschaftlicher Organisation, und sie festigen jetzt Schritt für Schritt ihre Organisationen durch den Kampf. Es ist eben eine ganz mechanische undialektische Auffassung, daß starke Organisationen dem Kampfe immer vorausgehen müssen. Die Organisation wird auch umgekehrt selbst im Kampf geboren, zusammen mit der Klassenaufklärung. Gegenüber der ganzen Kleingeisterei müssen wir uns sagen, daß für uns die letzten Worte des Kommunistischen Manifests nicht nur eine schöne Phrase für Volksversammlungen sind, sondern daß es uns blutiger Ernst ist, wenn wir den Massen zurufen: Die Arbeiter haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, aber eine Welt zu gewinnen. (Beifall und Widerspruch)

Anmerkungen

1*. Redaktionelle Überschrift – die Redaktion der Gesammelten Werke haben dem Text den Titel Rede über das Verhältnis von Partei und Gewerkscahften gegeben.

2*. Dei Fünfzehnerkommission war vom Parteitag eingesetzt worden, um den sachlichen Inhalt einiger Anträge zu prüfen, in denen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen, besonders dem Vorwärts und der Leipziger Zeitung, über taktische Fragen, vorwiegend den politischen Massenstreik, als „Literatengezänk“ bezeichnet wurden und die unter diesem Deckmantel die Einstellung der Auseinandersetzung forderten. Die Kommission verwarf diesen Standpunkt.

3*. H. Fischer, Neutrale oder parteiische Gewerkschaften? in Die Neue Zeit (Stuttgart), 18. Jg. 1899/1900, 2. Bd., S. 537.

4*. Friedrich Naumann, evangelischer Pfarrer, Gründer des Nationalsozialen Vereins, versuchte auf kleinbürgerlich-reformistischen Weg mit sozialliberalen Phrasen die Arbeiterklasse mit dem imperialistischen Staat zu versöhnen. Er arbeitete eng mit dem Finanzkapital zusammen und hatte Verbindungen zu opportunistischen Führern der deutschen Sozialdemokratie.

5*. Martin Kasprzak, ein polnischer revolutionär, hatte im April 1904 bei einem Überfall der Polizei auf die geheime Druckerei der SDKPiL in Warschau bewaffneten Widerstand geleistet und war übewrwältigt worden. Nach einem Jahr Kerkerhaft, am 30 August 1905 wurde er zum Tode verurteilt und am 7. September hingerichtet.

6*. Friedrich Schiller, Gesammelte Werke, 4. Bd., Berlin 1959, S. 497.

7*. Redaktionelle Überschrift – Die Redaktion der Gesammelten Werke hat dem Text den Titel Rede über die erste russische Revolution und die deutsche Arbeiterbewegung gegeben.

8*. Am 14. April 1902 begann in Belgien der Massenstreik, an dem sich über 300.000 Arbeiter beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

9*. Émil Vandervelde hatte in der Neuen Zeit auf Rosa Luxemburgs Artikel Das belgische Experiment geantwortet. Aus dieser Antwort zitierte Robert Schmidt in seiner Diskussionsrede auf dem Parteitag folgende Stelle: „Was vermochten die Tausende von Manifesten bei all ihrem Mute gegen die Gewehre der Gendarmerie und der Zivilgarde auszurichten, die sich den sechzigtausend Bajonetten der regulären Armee angliederten, einer Armee, die gewiß der Regierung unzuverlässig erschien, deren großer Teil zum mindesten sich jedoch dem Kommando zum Massaker gefügt hätte.“ (Émile Vandervelde, Nochmals das belgische Experiment, in Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, 2. Bd., S. 167)

10*. Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln statt.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012