Rosa Luxemburg


Aus dem literarischen Nachlaß
von Karl Marx

(Januar 1905)


Rosa Luxemburg, Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Vorwärts, Nr. 7, 8. Januar 1905.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 462–476.
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Ergänzende Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Theorien über den Mehrwert
Aus dem nachgelassenen Manuskript Zur Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx,
herausgegeben von Karl Kautsky,
Bd.I: Die Anfänge der Theorie vom Mehrwert bis Adam Smith, Stuttgart 1905.

Bald ist ein Vierteljahrhundert seit dem Tode von Karl Marx ins Land gegangen, und immer noch ist die Fundgrube seiner gewaltigen Gedankenarbeit nicht erschöpft. Das wissenschaftliche Werk, das Marx in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen, speist noch das 20. Jahrhundert, und man muß es bekennen – seit den ersten Geistesprodukten des jungen Genies, wie sie uns Mehring in seinem Nachlaß [1*] jüngst wieder lebendig vor die Augen geführt, bis zu dem soeben erschienenen letzten nichtveröffentlichten Werke, das uns Kautsky darbietet, ist nichts auf dem Gebiete der Nationalökonomie, ja der Sozialwissenschaften überhaupt erschienen, was an Tiefe und Universalität der Gedanken neben diese Arbeiten gestellt werden könnte. Der tote Marx ist es immer noch, der dem kämpfenden Proletariat der Welt die fruchtbarsten neuen Anregungen und leitenden Gedanken hinwirft, und der tote Marx ist es immer noch, der als ein Lebender unter den Larven der bürgerlichen Sozialwissenschaft mit siegreichem Lächeln wandelt. Zwar sind es – wie uns Kautsky in der Vorrede mitteilt – rein äußere, zufällige Umstände, die zuerst Engels und dann Kautsky selbst verhindert haben, das bereits Anfang der 60er Jahre von Marx geschriebene und von Engels schon 1885 in Aussicht gestellte Werk früher herauszugeben. Daß aber dieses Werk, das fast ein halbes Jahrhundert verborgen lag, heute noch nicht im geringsten veraltet, überholt, überflüssig gemacht worden ist, daß es wie glänzendes Gold frischester Prägung direkt in die geistige Zirkulation des heutigen Tages geworfen werden kann – das ist durchaus kein zufälliger Umstand. Das Werk ist ein historisches – eine Geschichte der bürgerlichen Nationalökonomie, aber gerade deshalb ist es nicht veraltet; denn die bürgerliche Nationalökonomie hatte wohl einst eine Geschichte, nämlich die, die Marx eben kritisch seziert, seitdem jedoch hat sie keine mehr. Ihre Geschichte wie ihr Lebensfaden sind bald nach den Klassikern, mit dem Entstehen der Marxschen Lehre, abgelaufen. Seitdem haben wir nur ein Fortvegetieren, ein Drehen im Kreise der Vulgärökonomie, die lebendige, pulsierende Ader der ökonomischen Forschung ist in den Strom der proletarisch-sozialistischen Gedankenwelt abgeleitet, und aus dieser revolutionären Gedankenwelt taucht jetzt auch das erste – und einzige – Geschichtswerk über das Glück und Ende der bürgerlichen Nationalökonomie auf.

Äußerlich freilich ist das neue Werk von Marx nichts weniger als eine fertige, ausgearbeitete Geschichte, vielmehr nur ein Brouillon, ein erster Entwurf einer Arbeit, deren Fertigstellung einer späteren Zeit vorbehalten blieb. Man braucht sich nur die an jedem Kapitel unten angebrachten Vermerke über die korrespondierenden Manuskriptseiten anzusehen, um sich einen Begriff von der Riesenarbeit zu bilden, die die Fertigstellung dieses Manuskripts erforderte. Es galt, in einem enormen, fortlaufenden Text ohne alle äußere Einteilungen, dafür mit unzähligen Wiederholungen und Abschweifungen, mit einem gänzlich durcheinandergewürfelten Stoff, wie er eben im Prozeß der Selbstverständigung, der ersten Untersuchung des Gebietes entsteht, einen Plan, eine logische und historische Entwicklung herauszufinden und zur äußeren Gestaltung zu bringen, dabei jedoch dem Cäsar zu lassen, was des Cäsars ist, und durch keine eigenen Zusätze die Lücken auszufüllen oder Brücken zu bauen. Kautsky hat für sich den schwierigsten und undankbarsten Teil der Herausgeberrechte und -pflichten gewählt, indem er sich darauf beschränkt hat, sich so in den Gedankeninhalt des verwickelten und verworrenen Marxschen Manuskripts hineinzuarbeiten, um es gleichsam nur mit unsichtbarer Hand zu einem inneren Ganzen zu ordnen und, trotzdem er mit dem Stoffe außerordentlich frei schaltete und waltete, dem Publikum schließlich doch nichts anderes als Marx selbst und nur Marx zu bieten.

Und diese Aufgabe ist ihm allerdings vollständig gelungen. Das Buch ist ganz von Kautsky, aber jeder Gedanke und jedes Wort ist von Marx, und was uns geboten wird, ist ein organisches Ganzes von hoher Formreife. Wer nicht seinen Form- und Stilgeschmack an der modernen glatten Schönschreiberei, an der pedantisch ziselierten, in kleinen Schnörkeln kokett gearbeiteten Form verdorben hat, wird sogar mit ästhetischem Genuß den nachlässig hingeworfenen Rohbau betrachten, bei dem der innere, grobkörnige Marmor.des Gedankenstoffes um so schimmernder zutage tritt. Die ganz ungekünstelte Disposition, die Kautsky gewählt hat, ist auch deshalb glücklich, weil sie den Leser je weiter, je angenehmer enttäuscht und stärker fesselt. Zuerst finden wir nur lose Bemerkungen und Zitatenbündel, wie wenn man in einem privaten Notizhefte mit nachlässiger Hand aus der Mitte blättern würde. Bald tauchen mitten in den Fragmenten einzelne Gedankenblitze auf, die mit einemmal auf ganze Epochen und Schulen ein grelles Licht werfen und dem Leser das sichere Bewußtsein einer festgefügten allgemeinen Konzeption geben, die den Fragmenten zugrunde liegt. Nach und nach verbinden sich einzelne kritische Striche und Fragmente zu einem großangelegten Geschichtswerk, und schließlich kommen noch drei umfangreiche Abschweifungen, in denen Marx, aus der Geschichte in die Theorie der Nationalökonomie fallend, sich in die Lösung wichtiger Probleme vertieft, auf die ihn seine kritische Analyse der bürgerlichen Ökonomie gebracht hat. Mit liebevoller Sorgfalt und innigstem Verständnis hat Kautsky, unbeschadet der durchsichtigen und einheitlichen Buchkomposition, jedes kleinste Gedankenkörnlein aus der letzten nachgelassenen Arbeit Marxens herauszulesen, zu retten und in dem Ganzen anzubringen gewußt.
 

I.

Das Buch heißt Theorien über den Mehrwert, und dieser Titel deckt sich auch formell mit dem überwiegenden Inhalt des vorliegenden ersten Bandes. Doch wer die Rolle und die Bedeutung der Mehrwerttheorie in dem Marxschen ökonomischen Lehrgebäude kennt, wird von vornherein wissen, daß es sich hier nicht um eine Teiluntersuchung, um eine geschichtliche Monographie, sondern um das innerste Wesen selbst der Nationalökonomie in ihrem historischen Werdegang handelt. Friedrich Engels sagt in seinem Anti-Dühring:

„Indem Marx ... nachwies, wie Mehrwert entsteht und wie allein Mehrwert unter der Herrschaft der, den Austausch von Waren regelnden Gesetze entstehn kann, legte er den Mechanismus der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der auf ihr beruhenden Aneignungsweise bloß, enthüllte er den Kristallkern, um den die ganze heutige Gesellschaffsordnung sich angesetzt hat.“ [2*] [Hervorhebung – R.L.]

Wenn indes die umfassende Bedeutung dieser Tatsache in allen ihren Konsequenzen für die kapitalistische Wirtschaft noch aus den bisher veröffentlichten Untersuchungen Marx’ – aus Zur Kritik [der politischen Ökonomie], aus dem Kapital – nicht deutlich und klar genug hervorgetreten sein sollte, dann trägt gerade das jetzt erschienene Buch in vollkommenem Maße dazu bei. Nachdem Marx nämlich im ersten Teil des vorliegenden Bandes die verschiedenen bürgerlichen Konzeptionen über die Entstehung des Mehrwertes untersucht, gibt er im zweiten Teile eine kritisch historische Analyse des Begriffs von der „produktiven Arbeit“. Und hier entfaltet sich vor dem Leser fortschreitend die Bedeutung des Mehrwertes aus einer fragmentarischen Einzelerscheinung, aus einem Element der Wirtschaft zur zentralen Triebfeder des ganzen sozialen Mechanismus.

Was ist „produktive Arbeit“? Für den Vulgärökonomen eine reine Definitionsfrage, wie alle Grundbegriffe der Nationalökonomie. Ist doch das Arbeiten mit Definitionen die erprobte Methode, die es dem Ökonomen gestattet, nach einem höchst wissenschaftlich schillernden Prozeß der Untersuchung an ihrem Schluß genau dieselbe Portion Weisheit glücklich herauszufischen, die er selbst in ihrem Anfang hineingeschmuggelt hat. Ein amüsantes Beispiel dieses harmlosen Spieles, das auf dem Wege eigener ausgeklügelter Definitionen hinter das Geheimnis einer wirtschaftlichen Erscheinung kommen will, bieten ja in unserer Zeit die Untersuchungen über die Kartelle, die wohl ein gutes Dutzend Definitionen von beliebiger Länge und für jeden Geschmack – freilich wenig darüber hinaus – produziert haben.

Auch die Frage nach der „Produktivität der Arbeit“ ist für den bürgerlichen Ökonomen lediglich Geschmacksache. Ob man die Arbeit „produktiv“ nennen soll, je nachdem sie Waren oder materielle Güter überhaupt, oder auch noch allgemeiner „nützliche Dienste“ leistet, ob wir die Arbeit des Schusters, des Seiltänzers und des Reichskanzlers gleichmäßig „produktiv“ nennen, oder nur einzelne Kategorien davon mit dem schmeichelhaften Titel auszeichnen sollen, das ist ein Streitpunkt der bürgerlichen Ökonomie, der ebenso alt ist wie diese Ökonomie selbst und an dessen Lösung um so mehr Scharfsinn der „Gelehrten“ verwendet wurde, je tiefer die Nationalökonomie in den Vulgarismus versank – ohne jedoch, daß sich die bürgerlichen Theoretiker je der tief einschneidenden Bedeutung dieses Problems für ihre Wissenschaft bewußt geworden wären.

Marx wendet hier wie in allen Fragen die dialektische Methode an und weist nach, daß der Begriff der „produktiven Arbeit“ nicht Gegenstand der Privatliebhaberei oder des Esprit des einzelnen Ökonomen, sondern ein geschichtliches Produkt der Gesellschaft sei. Genau wie er das Bevölkerungsproblem auf einen neuen Boden gestellt hat, indem er nachgewiesen, daß es kein allgemeines absolutes Bevölkerungsgesetz für alle Zeiten und Länder gäbe, vielmehr jede historische Gesellschaftsform ihr eigenes, allerdings in ihren Schranken mit der Kraft eines Naturgesetzes wirkendes Bevölkerungsgesetz habe, so behandelt Marx den Begriff der „produktiven Arbeit“ nicht als etymologische Definition, sondern als historische Kategorie. Jede Wirtschaftsform stempelt die Arbeit zur „produktiven“ vom anderen Gesichtspunkt, je nach ihrem eigenen Zweck. In der primitiven, auf direkten Selbstgebrauch der Arbeitenden gerichteten kommunistischen Gesellschaft erscheint offenbar als „produktiv“ jede Arbeit, die zur Herstellung und Vergrößerung der Summe von Gebrauchsgütern der Kommune dient. In der Periode der einfachen handwerksmäßigen Warenproduktion gilt diejenige Arbeit als gesellschaftlich „produktiv“, die sich in der Herstellung von Waren materialisiert. Endlich in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die weder auf die Herstellung von Gebrauchswerten, noch von Waren gerichtet ist – erstere sind nur die notwendige allgemeine Voraussetzung, letztere sind die herrschende Form der kapitalistischen Produktion, deren eigentlicher Zweck die Produktion von Kapital ist –, in dieser Gesellschaft erscheint logischerweise als produktiv nur diejenige Arbeit, die den Kapitalstoff, den Mehrwert schafft. Darin ist aber bereits eingeschlossen, daß es Arbeit für andere, ausgebeutete Arbeit, Arbeit unter der Klassenherrschaft ist. Der Begriff der Produktivität der Arbeit liegt in der Marxschen Beleuchtung nicht im Verhältnis zwischen Mensch und Arbeitsstoff, allgemeiner: zwischen Mensch und Natur, allwo ihn der Vulgarus seit einem Jahrhundert im Schweiße seines Angesichts sucht, sondern zwischen Mensch und Mensch, es ist ein gesellschaffliches Verhältnis, das unter dem Begriff der „produktiven Arbeit“ steckt, genau wie unter dem Begriff von Kapital. Durch das Prisma dieses Begriffes gesehen, ersteht vor uns die kapitalistische Gesellschaft wie auf flacher Hand in deutlichsten Farben und Konturen, in all ihrem objektiven Wahnsinn der Gesetze und in all ihrer subjektiven Verkehrtheit der Anschauungen, die Gesellschaft, in der als innerer, gleichsam von Gott und Natur bestimmter Zweck der menschlichen Arbeit – die Bereicherung anderer erscheint, die Gesellschaft, in der die Ausbeutung als die Norm, dagegen die Arbeit zum eigenen Wohl des Arbeitenden als Abnormität, Überflüssigkeit, Zweckwidrigkeit gilt, die Gesellschaft, in der die stets wachsende Masse des Volkes nur in dem Maße unter den Begriff der „produktiven Arbeiter“ fällt, in dem sie – die eigene soziale Sklaverei produziert.

Erst in dieser Beleuchtung wird die Generalattacke begreiflich, die die bürgerliche Ökonomie sofort mit allen Geschützen gegen den alten Adam Smith eröffnete, nachdem er hier, wie in den meisten Hauptgesetzen der kapitalistischen Wirtschaft, mit klassischem Freimute hart an die Grenze der Erkenntnis gestoßen, damit zugleich aber die sterblichen Seiten dieser Gesellschaftsform entblößt hatte. Die kritische Revue der großen Kontroverse zwischen der klassischen und der Vulgärökonomie über den Begriff der „produktiven Arbeit“ ist die tiefste und glänzendste Partie des vorliegenden Marxschen Werkes, die auf einem ganz neuen Wege, wenn auch in vollkommenster logischer Verknüpfung mit dem ganzen Marxschen System, zur Einsicht in den Gesamtcharakter der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer historischen Bedingtheit führt.

Im Lichte dieser Einsicht erscheint auch erst in ihrer wahren Bedeutung die kritische Geschichte der bürgerlichen Mehrwerttheorien, die den Hauptinhalt des vorliegenden Bandes ausmacht. Indem Marx die große Linie in der Entwicklung der Mehrwerttheorie verfolgt, von der ursprünglichen Vorstellung, daß der kapitalistische Profit auf dem landwirtschaftlichen Acker als wogendes Kornfeld wächst und reift, bis zu der Einsicht, daß die Grundrente umgekehrt in der Fabrik unter Gestampf industrieller Dampfmaschinen produziert wird, entwirft er die Geschichte desjenigen „Kristallkerns“, um den sich alle übrigen Begriffe der jeweiligen Richtung und Schule der Nationalökonomie in logischem Zusammenhang ansetzen.

Was namentlich den ökonomischen Forscher in diesem historischen Bilde frappieren müßte, ist die äußerlich ganz unzusammenhängende Entwicklung der so innig miteinander verbundenen Wert- und Mehrwerttheorie. Beide bewegen sich vielmehr in zwei getrennten und anscheinend selbständigen Linien, indem wir zum Beispiel bereits bei den Merkantilisten sehr klare Ahnungen in bezug auf die Arbeitswerttheorie finden, und zugleich die vulgärste Ableitung des Profits aus der Übervorteilung im Handel, während andererseits die erste wissenschaftliche Erklärung des Mehrwerts bei den Physiokraten sich mit einer ganz rohen Werttheorie verträgt, die den Wert grob-materialistisch als Naturstoff auffaßt. Erst durch das Zusammentreffen der ausgebildeten Arbeitswerttheorie mit der aus dem Produktionsprozeß abgeleiteten Erklärung des Mehrwerts entsteht jene abgerundete Lehre, die alle Probleme der kapitalistischen Wirtschaft auflöst. Warum nun derjenige Knotenpunkt, in dem die Werttheorie mit der Erklärung des Mehrwerts wissenschaftlich zusammentrifft, nicht mehr auf dem Pfade der bürgerlichen Ökonomie gefunden werden konnte, vielmehr selbst den Lebensknoten dieser Ökonomie bildet, den nur Marx durchhauen konnte, das findet in jedem einzelnen Falle im vorliegenden Marxschen Buche seine Erklärung.

Wenn einer von den drei selbständigen theoretischen Anhängen der Geschichte das bezeichnete Problem der „produktiven Arbeit“ behandelt, so befassen sich die beiden anderen in verschiedener Form mit der Zirkulation und Reproduktion des Kapitals. Kautsky entschuldigt sich gleichsam in der Vorrede dafür, daß er hier nicht Ausführungen ausgeschaltet habe, die eigentlich Wiederholungen desjenigen darstellen, was Marx in seinen anderen ökonomischen Werken behandelt. In der Tat ist dasselbe Problem der Erklärung des Quesnayschen Tableau économique in dem von Marx selbst bearbeiteten nationalökonomischen Kapitel des Engelsschen Anti-Dühring mit großer Kürze und Einfachheit behandelt; desgleichen findet sich das Problem der Auflösung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in Arbeitslohn und Revenue bereits im 2. Band des Kapitals, und zwar unvergleichlich reifer und präziser dargestellt. Allein, wenn wir Kautsky für etwas zu Dank verpflichtet sind, so ist es ganz besonders für die sorgfältige Sichtung und Veröffentlichung dieses großen zweiten Anhanges im vorliegenden Bande.

Nicht bloß, daß wir hier diejenige Partie der Marxschen ökonomischen Lehre in ihrem Entstehen verfolgen können, die zu den wichtigsten und bis jetzt am wenigsten gewürdigten gehört. Der ganze Anhang ist, gerade weil er uns nicht die fertigen Resultate, sondern den Prozeß der Marxschen Forschung selbst vor die Augen führt, ein Muster der theoretisch-ökonomischen Analyse, wie sie von der bürgerlichen Nationalökonomie weder vor Marx noch nach ihm je angewendet worden ist. Daß die deutsche „historische Schule“ an Stelle einer Analyse die bloße Deskription betreibt, ergibt sich schon logisch aus ihrem „historischen“ Beruf, die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen zu verdecken. Ebenso selbstverständlich ist es, daß die früheren Vulgärökonomen, deren Methode darin bestand, die sozialen Vorgänge nicht in ihrem inneren objektiven Zusammenhange, sondern in ihrer Verzerrung durch die Gesetze der Konkurrenz an der sozialen Oberfläche vom Standpunkt des Einzelinteressenten zu kopieren, unter der Vorspiegelung einer wissenschaftlichen Untersuchung bloß eine Serie von Trivialitäten des „gesunden Menschenverstandes“ leisteten, wofür der Schwätzer Say ein Vorbild für alle Zeiten bleibt. Aber auch bei den Klassikern beruht ihre deduktive Methode mehr auf genialen Ahnungen der großen Zusammenhänge der kapitalistischen Wirtschaft, auf der Intuition, die sich aus der völlig unbefangenen Stellung der Petty, Smith, Ricardo gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft ergibt, die sie zugleich als die einzige, die absolute Gesellschaftsform betrachten. Erst aus der völlig veränderten Stellung Marx’ zu seinem Forschungsstoffe, aus der Stellung des Sozialisten, der die Grenzen der bürgerlichen Wirtschaftsform von einer höheren Warte überblickt, kurz aus der dialektischen Methode Marx’ ergab sich die Möglichkeit, auch in bezug auf Einzelprobleme der Ökonomie die Analyse anzuwenden. Wie meisterlich und streng wissenschaftlich Marx dabei das analytische Verfahren auf die Nationalökonomie anwendete, das zeigt eben der zweite Anhang in seinem neuen Buche, wo er mit peinlicher unermüdlicher Sorgfalt ans Werk geht und stufenweise durch die Fragestellung, Ausschaltung variabler Momente, Fixierung des eigentlichen Problems, Konfrontierung mit angrenzenden Begriffen, Probelösungen und Beweisführungen a contrario [vom Gegensatz aus] Schritt für Schritt wie mit einem Meißel sich in die Materie einbohrt, um schließlich zu derjenigen Lösung vorzudringen, die er uns im zweiten Bande des Kapitals in fertiger Gestalt unter der Form einer Konstruktion a priori [von vornherein], nämlich seiner originellen Theorie des Austausches zwischen der Produktion von Genußmitteln und der Produktion von Produktionsmitteln darstellt. Für diejenigen, die sich mit dem Krisenproblem ernst beschäftigen wollen, wird dieses Fragment vielfach ebenso wichtig und anregend sein wie die entsprechenden Kapitel im zweiten Bande des Kapitals.
 

II.

Die Nationalökonomie stellt unter den Wissenschaften in gewisser Hinsicht ein Unikum dar, als das einzige Beispiel einer Disziplin, der es vorenthalten ist, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Zur Geschichtsschreibung gehört nämlich in diesem Falle als erste Bedingung diejenige Einsicht in den Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Prozeß und seinem theoretischen Reflex, deren Fehlen gerade die wissenschaftliche Grundlage der bürgerlichen Nationalökonomie und ihrer Methoden bildet. Und daraus ergibt sich schon der merkwürdige Umstand, daß die Nationalökonomie über ihren Forschungsgegenstand, ihren Stoff selbst im Dunkeln ist, indem ihre gelehrten Historiker krampfhaft den Anfängen der nationalökonomischen Theorien im ersten Morgengrauen der menschlichen Geschichte, im klassischen Orient, beinahe bei dem Affenmenschen, kurz, überall da nachspüren, wo sie ebensowenig zu finden ist, wie ihr einziger wirklicher Gegenstand – die kapitalistische Produktionsweise. Der Vorstellung von der bürgerlichen Gesellschaft als einer absoluten und ewigen Gesellschaftsform in bezug auf die Zukunft entspricht logisch die Vorstellung von der Nationalökonomie als einer absoluten und ewigen Wissenschaft in bezug auf die Vergangenheit. Und aus beiden ergibt sich, daß die Geschichte der Nationalökonomie nur von einem Sozialisten, genauer nur vom Marxschen Standpunkte geschrieben werden konnte.

Anscheinend liegt freilich nirgends der materielle Hintergrund der gesellschaftlichen Bewußtseinsform, der Ideologie, so zum Greifen nahe, ist nirgends so leicht zu fassen, wie bei den Theorien über das wirtschaftliche Leben selbst. Allein gerade hier zeigt es sich auch, was es mit jenen naturwüchsigen, instinktiven Anwendungen des historischen Materialismus ohne die Marxsche Dialektik auf sich hat, mit denen so manche „Überwinder“ der Marxschen „Dogmas“ viel Wesens machen. Nichts zeigt so schlagend wie die Geschichte der Nationalökonomie, daß bei den nichtmarxistischen Anwendungen des Materialismus gerade jene rohe Ableitung der abstraktesten ideologischen Formen direkt aus der Suppenschüssel herauskommt, die eingeschworene Vertreter des historischen Eklektizismus der Marxschen „einseitigen“ Geschichtsauffassung unermüdlich nachsagen.

Abgesehen von dem rein chronologischen „Historismus“ wie ihn Professor Roscher zum Beispiel darstellt, der es fertig gebracht, einen Riesenband über die Geschichte der deutschen Nationalökonomie zu schreiben, die – ausgenommen den Deutschen Karl Marx – gar keine Geschichte hat, in dem er mit derselben pedantischen Wichtigtuerei die ernestinischen und albertinischen Pamphlete, die Katzbalgereien über die mittelalterlichen Kipper- und Wipper-Praktiken der deutschen Fürsten auftischte, wie zum Beispiel die Smithschen Entdeckungen und ihren Abglanz in Deutschland, abgesehen von solchen geistlosen Chronisten, für die jedes Schriftchen wie in Gottes Tiergarten dazu dient, den Geist des Schöpfers – hier die Gelehrsamkeit des Historikers – abzuspiegeln, sind manche Geschichten der Nationalökonomie, wie namentlich die von Adolphe Blanqui, an materialistischen Hinweisen und Erklärungen reif. Dieser Materialismus erschöpft sich aber meistens in solchen empirischen Trivialitäten, wie die Beobachtung, daß die Merkantilistentheorie mit dem Aufkommen der Städte und des internationalen Handels zusammenhänge, die Manchesterlehre aber mit dem Aufschsunge der Manufaktur und der kapitalistischen Produktion und dergleichen. Dabei zeigen schon die Schicksale des ersten wissenschaftlichen Systems der Ökonomie, die Physiokratenschule, allein, wie sehr die ökonomische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft für diese selbst ein Buch mit sieben Siegeln ist. Während zum Beispiel ein Spezialist auf dem Gebiete, der Berner Professor Oncken, den Staub von dreizehn Bibliotheken aufwirbelt und alle staatswissenschaftlichen Fakultäten zum Nießen bringt, um die epoche-machende Tatsache festzustellen, wer von den Physiokraten zuerst das Wort „laisser faire, laisser passer“ [gehen-, geschehenlassen] gebraucht habe, bleibt diese Kampfparole des anbrechenden Kapitalismus bei den Physiokraten mit ihrem schlagenden Widerspruch zu der Verherrlichung der Landwirte als der einzigen „produktiven Klasse“ und der Degradierung des industriellen Mittelstandes zum Parasiten der Grundbesitzer für die bürgerliche Geschichte ein undurchdringliches Rätsel. Und der Spezialist Oncken weiß uns nur mit vollem Ernste zu versichern, daß der Angelpunkt der ganzen volkswirtschaftlichen Theorie Quesnays die Preislehre sei! Ein naives Bekenntnis, daß er von dem genialen Schöpfer des Tableau économique nicht das Abc verstanden hat.

Ein anderer, von der deutschen Zunftgelehrsamkeit sehr ernst genommener bürgerlicher Historiker, der Engländer Ingram, speist uns gar mit der tiefsinnigen Betrachtung ab, daß „die Vorliebe der (physiokratischen) Schule für die Landwirtschaft“ ein Ausdruck des im vorrevolutionären Frankreich herrschenden Geschmacks für das „Natürliche“ und für „ursprüngliche Einfachheit“ à la Rousseau gewesen sei, sozusagen eine Übersetzung der Watteauschen Fêtes galantes und der gepuderten Schäferszenen von Boucher ins Nationalökonomische. Marx gibt auf wenigen Seiten eine allgemeine Analyse des Physiokratismus, die zugleich die erste wissenschaftliche Lösung aller scheinbaren Widersprüche dieses Systems und das glänzendste Beispiel der Anwendung der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung darstellt, indem er nachweist, daß „dies alles Widersprüche der kapitalistischen Produktion“ seien, „die sich aus der feudalen Gesellschaft herausgearbeitet und letztere nur mehr bürgerlich interpretiert, ihre eigene, eigentliche Form aber noch nicht gefunden hat, wie etwa die Philosophie, die sich erst in der religiösen Form des Bewußtseins herauskonstruiert und damit einerseits die Religion als solche vernichtet, andererseits positiv [sich] selbst nur noch in dieser idealisierten, in Gedanken aufgelösten religiösen Sphäre bewegt“. [3*]

In derselben Weise bringt Marx in alle Wendungen des theoretischen Gedankens der bürgerlichen Ökonomie historischen Zusammenhang und damit helles Licht hinein. Namentlich scheinen uns dabei die eigenartigen Schicksale der Werttheorie ein besonderes Augenmerk zu verdienen. Es ist dies in der Tat eine interessante Tatsache, daß wir bereits im 17. Jahrhundert, also unter der Herrschaft der zunftmäßigen Warenproduktion, ein so tiefes Verständnis für die Arbeitswerttheorie finden, wie es von Petty, Locke, North an den Tag gelegt wird, während seit Ricardo, gerade im gleichen Schritt mit der vollen Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise, die jedenfalls durch die täglichen Preisrevolutionen im Zusammenhange mit technischen Umwälzungen die Grundlage des Arbeitswertes klarer als je zum Bewußtsein bringt, eine radikale Abkehr von der Arbeitswerttheorie und schließlich eine Flucht in die psychologischen Nebel der „subjektiven Schule“ stattfindet. Marx löst die Frage durch einige kurze Fingerzeige, indem er aufzeigt, daß gerade die ersten Konzeptionen der Arbeitswerttheorie nicht Sonntagsbetrachtungen müßiger „Erfinder“ der Nationalökonomie, sondern polemische Waffen des aufkommenden Kapitals gegen den herrschenden Grundbesitz, nicht Eingebungen eines in der Luft schwebenden „Forschungsgeistes“, sondern ideologische Abspiegelungen des Klassenkampfes der Bourgeoisie gegen den Feudalismus waren. Und daraus wird ohne weiteres klar, daß, sobald die Arbeitswerttheorie umgekehrt zur theoretischen Waffe des aufstrebenden Proletariats gegen die Bourgeoisie geworden war, sie für die letztere und ihre offizielle „Wissenschaft“ ein überwundener Standpunkt wurde – genauso wie der Liberalismus, wie die Demokratie. In striktem Parallelismus zu ihren politischen Wandlungen bleibt die Bourgeoisie auch in der Nationalökonomie nur so lange Trägerin der wissenschaftlichen Forschung, wie sie sich gegen die feudale Gesellschaft wendet, sie verfällt sofort in den Vulgarismus und das Apologetentum, sobald sie sich gegenüber die aufstrebende Arbeiterklasse erblickt. Und wenn sich die theoretische Geschichte des Sozialismus in der Richtung von der Utopie yjtr Wissenschaft bewegt, so schildert uns Marx zum erstenmal die Geschichte der bürgerlichen Ökonomie von der Wissenschaft zur Utopie – von der Erkenntnis der inneren Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zur apologetischen Lehre von der Verewigung dieser Gesellschaft entgegen ihren eigenen Bewegungsgesetzen.

Im vorliegenden Bande analysiert Marx ausführlich die vulgäre Reaktion, die bereits auf Adam Smith eingetreten ist. In den weiteren Bänden verspricht uns Kautsky die Analyse Ricardos und die Auflösung seiner Schule zu geben, damit auch den Untergang der wissenschaftlichen Nationalökonomie überhaupt, also mit anderen Worten – die theoretische Inaugurierung des proletarischen Klassenkampfes.
 

III

Mit der jetzt erscheinenden Geschichte der Nationalökonomie wird das Marxsche „Kapital“ und damit sein Werk der wissenschaftlichen Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft vollendet. Das Buch ist wie alle grundlegenden Werke der Marxschen Lehre nicht nur eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges, sondern eine geschichtliche Tat, die erst im Zusammenhang mit dem historischen Kampfe der Sozialdemokratie und im Lichte dieses Kampfes gewürdigt werden kann.

Für die offizielle bürgerliche Wissenschaft freilich ist auch diese glänzende Frucht des Marxschen Geistes nicht geschaffen. Der Moment, in dem sie erscheint, zeigt die bürgerliche Nationalökonomie in einem noch viel vorgeschritteneren Zersetzungsstadium, als es zur Zeit des Erscheinens des „Kapitals“ war. Als der erste Band des Marxschen Hauptwerkes erschien, stand noch die „historische Schule“ in ihrer Blüte, zur Zeit des zweiten Bandes aber und bis in die 90er Jahre hinein machte der „Subjektivismus“ in den bürgerlichen Kreisen falsche Vorspiegelungen eines neuen Aufschwunges der Nationalökonomie als Wissenschaft. Heute ist von der „historischen Schule“ außer einem allgemeinen Katzenjammer als einziger praktischer Niederschlag bloß die Lotz-Brentanosche Massenfabrik hoffnungsvoller Doktoren mit einem mikroskopisch-anatomischen Institut für den „wissenschaftlichen“ Tagesbedarf des geschäftemachenden Kapitals übriggeblieben. Die „subjektive“ Böhm-Jevonssche Gemeinde [4*] aber weiß, nachdem sie an allen grundlegenden Problemen der Nationalökonomie schon früher ihre dürre Sterilität bewiesen, mit dem einzigen neuen Problem, mit dem sie wirklich etwas zu tun hat – mit den Kartellen –, nicht das geringste anzufangen. Der hie und da erschallende Ruf zur Rückkehr zu der deduktiven Methode der alten Klassiker ist ein sprechendes Symptom dieses verzweifelten Zustandes.

Daß aber dieser Ruf selbst aus einer hoffnungslosen Unklarheit der heutigen Ökonomen über sich selbst wie über das Wesen der klassischen Nationalökonomie geboren ist, beweist der Umstand, daß sich z. B. als jüngster Herold der „deduktiven Methode“ kein anderer als der Frankfurter Professor Pohle meldet, der wissenschaftliche Vertreter des Hausbesitzervereins, die denkende Materie des städtischen Bodenwuchers, der theoretische Sachwalter des ins moderne, großstädtische Zeitalter übersetzten Shylockschen Rechts auf das proletarische Pfund Fleisch. Der Herr Professor hat also nicht die leiseste Ahnung, daß die „deduktive Methode“ der Klassiker nicht ein mechanisches Denkwerkzeug ist, das wie ein Korkzieher nach Belieben aus dem Schrank geholt und von jedem Kellner zur Bedienung der Herrschaften gebraucht werden kann, sondern daß es jener heiter-unbefangene homerische Blick auf die junge Welt ist, mit dem der Erzvater der Ökonomie, Adam, im Paradies der noch in Knospen stehenden bürgerlichen Gesellschaft in göttlicher Nacktheit lustwandelte. Nachdem die bürgerliche Wissenschaft vom Baume der Erkenntnis der Klassengegensätze genossen und, über ihre Nacktheit erschrocken, in den Beamtenfrack des besoldeten Professors schlüpfte, nachdem namentlich auch die Marxsche Erkenntnis in drei Millionen denkender Köpfe Fleisch geworden ist, ist es für die heutige Ökonomie ebenso möglich, zu der deduktiven Methode und zum Verständnis der Klassiker zurückzukehren, wie es für die heutige „naive“ deutsche Überbrettl-Lyrik möglich ist, zum süßen „Tandaradei“ Walthers von der Vogelweide „zurückzukehren“.

Deshalb vermögen wir auch nicht der optimistischen Erwartung Kautskys zuzustimmen, der in seiner Vorrede von einer nunmehr zu erwartenden Umkehr der bürgerlichen Nationalökonomie zum vertiefenden und befruchtenden Studium der klassischen Schule spricht. Immerhin mögen sich aber die Leuchten der Kathederweisheit merken, daß es gerade derjenige Vertreter des Marxismus ist, über dessen starre Exklusivität und doktrinäre Ketzerrichterei sie am meisten zu klagen pflegen, der in milder, weitherziger Menschlichkeit so weit geht, sogar von ihrem geistigen Distelstrauch zu erwarten, daß er noch einmal Feigen der wissenschaftlichen Erkenntnis tragen werde.

In gewissem Sinne ist allerdings nicht zu bezweifeln, daß sich auch die Professoralwissenschaft die neue Gabe Kautskys aneignen wird, wie sie von den früheren Entdeckungen Marxens bis auf den heutigen Tag zehrt – in der Weise nämlich, daß sie den gewaltigen Stoff in einzelne Partikelchen zerpflückt und damit ihrer wissenschaftlichen Leere einige Brocken wirklichen Wissens einfügt. In seiner ganzen Größe und seinem revolutionären Geist kann auch das neue Werk von Marx nur in dem kämpfenden Proletariat lebendig werden.

Auf den ersten Blick scheint freilich der Zusammenhang zwischen einer kritischen Geschichte der bürgerlichen Nationalökonomie und dem Tageskampf der Sozialdemokratie schwer zu erfassen sein, wie denn überhaupt das lebendige Gefühl für die Bedeutung der Theorie in dem mächtig in die Breite gewachsenen Strom der proletarischen Bewegung in der letzten Zeif nicht deutlich genug zutage tritt. Zweifellos ist der ganze Kampf der Sozialdemokratie von der Marxschen Einsicht in die sozialen Bedingungen und Ziele beseelt, wie etwa ein auf ein bestimmtes Geleise gestellter Zug schon durch das Gesetz der Trägheit die vorgeschriebene Bahn befolgt. Allein, die praktische Kleinarbeit und das wirtschaftliche und politische Scharmützel des Tages drohen immer mehr den unumgänglichen bewußten Prozeß der Umbildung, Umwertung der ganzen Gedankenwelt des Proletariats im Geiste der revolutionären Marxschen Weltanschauung in den Hintergrund zu drängen. Wie sehr aber dieser Prozeß eine unaufhörliche, dringende Notwendigkeit ist, das hat unter anderem in den letzten Tagen wieder ein Fall dargetan, wo ein mit Amt und Würden bekleideter, also formell zur Vertretung der Partei und Erziehung der Massen berufener Sozialdemokrat die Theorie von einem metaphysischen „religiösen Gefühle“ entwickelte, das in jeder Menschenbrust wohne, und von der Notwendigkeit, auch in Zukunft dem Volke die Religion ohne die Pfaffen Zu erhalten, gewissermaßen eine Theorie der „Aushöhlung“ der Kirche, die sich in voller Analogie zu der famosen Theorie der Aushöhlung des Kapitalismus befindet und mit ihr die volle Entfremdung von der materialistischen Geschichtsauffassung zur gemeinsamen Wurzel hat. Derselbe Fall wie so viele andere zeigt deutlich, daß es unsere Aufgabe ist, nicht bloß möglichst breite Massen für die formelle Anerkennung des Programms der Sozialdemokratie zu gewinnen, sondern die Denkweise dieser Massen, vor allem also unserer Agitatoren, von Grund aus durch die Marxsche Lehre zu revolutionieren. Nur auf diese Weise und nicht bloß durch die Aufnahme der frischen Truppen in die Wählermassen der Sozialdemokratie, in die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen wird die geistige Loslösung des Proletariats von der Herrschaft der Bourgeoisie und von ihrer Klassenkultur vollzogen.

In diesem Sinne ist das neue Buch von Marx ein reicher Born geistiger Anregungen, der namentlich die intellektuellen Kräfte desjenigen bedeutenden Trupps unserer Agitatoren zu erfrischen und zu beflügeln berufen ist, die durch das Medium der Presse und der parlamentarischen Tätigkeit auf die große Masse des Proletariats einwirken. Sich in die grundlegenden Werke von Marx mit ehrlichem Fleiß hineinzuarbeiten und die Brücke zwischen seinen wissenschaftlichen Theorien und der auf ihnen basierten Praxis der Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt zu finden, um dadurch sich selbst wie die Massen aus der drohenden geistigen Verödung und Verflachung im Tageskampfe emporzureißen – das ist die Aufgabe der sozialdemokratischen Redakteure, Journalisten und Parlamentarier. Für sie ist auch vor allem das Buch, das uns Kautsky darbietet, bestimmt, wie es denn durch den hohen geistigen Genuß, den es bietet, zum Ausgangspunkt einer neuen eifrigen Pflege der Theorie in den Reihen der Partei werden sollte. Etwas weniger himmelstürmende Begeisterung bei der Abwehr pfäffischer Attentate auf die bürgerliche Kunst oder bei der Gründung eines Konsumvereinsladens, dafür mehr begeisterte Anstrengung zum Verständnis der historischen, philosophischen und ökonomischen Wurzeln des sozialdemokratischen Klassenkampfes, ein Zurückgehen von der abgegriffenen kupfernen Scheidemünze der notdürftigen Tageslosungen und -lösungen zum lauteren Gold der Marxschen Konzeption in ihrer ganzen weltumspannenden Gewalt – das ist es, wozu das neue letzte Werk aus dem wissenschaftlichen Nachlaß Marx’ mahnt.

Anmerkungen

l*. Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. I: Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Von März 1841 bis Mäi 1844, Stuttgart 1902.

2*. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wirtschaft (Anti-Dühring), in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 190.

3*. Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26, Erster Teil, Berlin 1965, S. 22.

4*. Eugen Böhm-Bawerk, ein österreichischer Ökonom, war Hauptvertreter der sogenannten Grenznutzenschule. Er vertrat eine vulgäre Kapital- und Zinstheorie. William Stanley Jevons, ein englischer bürgerlicher Ökonom und Philosoph, war einer der Begründer der sogenannten Grenznutzenschule. Er versuchte, mit Hilfe subjektiv-psychologischer Faktoren und mathematischer Methoden die Grundlage des geschlossenen, gegen den Marxismus gerichteten ökonomischen Systems zu formulieren.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012