Rosa Luxemburg


Geknickte Hoffnungen

(1903)


Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/1904, 1. Bd., Nr. 2, S. 33–39.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 394–402.
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Das Verhalten der gesamten bürgerlichen Presse gegenüber den Vorgängen in unserer Partei [1*] beweist wieder einmal, wie untrüglich der Klasseninstinkt über alle äußeren Differenzen der bürgerlichen Parteien triumphiert. Sie sind wieder einmal einig, die Nationalliberalen und das Zentrum, der Knuten-Oertel [2*] und die Vossischen Erben [3*], einig in der larmoyanten Freude und dem Triumphgeschrei über die Jämmerlichkeit der Sozialdemokratie. Die einen freuen sich über die „gegenseitige Abtuerei“, die endlich begonnen habe und die schöne Hoffnung in Erfüllung zu bringen anfange, die Sozialdemokratie, gegen die kein Kraut auf bürgerlicher Wiese gewachsen, würde sich einmal selbst „zerfleischen“. Die anderen triumphieren über das Mißgeschick einiger Akademiker in der Sozialdemokratie als über den Beweis, daß zwischen dem „gebildeten Manne“ und der „blinden Masse“ eine unüberbrückbare Kluft gähne, bei deren Überspringen „man sich den Hals breche“. Die dritten jubeln, daß nunmehr die Sozialdemokratie nicht mehr erhobenen Hauptes wird auf die bürgerliche Welt herabblicken dürfen, denn auch sie habe das Gerippe der Korruption im eigenen Hause – tout comme chez nous [ganz wie bei uns]. Und alle stimmen sie unisono [einstimmig] das Lied an: das Ansehen, die faszinierende Gewalt der Sozialdemokratie sei vernichtet! Für immerdar!

Die Freude ist gut geheuchelt. So gut, daß ein Parteiblatt sie sogar allen Ernstes als aufrichtiges „Frohlocken“ aufgefaßt hat, das es mit pathetischem Seufzer der Partei zur Warnung und Ernüchterung vor die Augen halten zu müssen glaubte.

Und doch gehört nur ein wenig geschärftes Gehör dazu, um aus diesem schrillen Konzert der Freude und des Triumphes die zähneknirschende Enttäuschung, die verhaltene Wut herauszuhören. Gerade das allgemeine Mitgefühl und die Sympathie der bürgerlichen Presse für die angeblich von der heulenden Barbarenhorde mißhandelten paar „gebildeten Männer“, die Schmähungen über die „blinde Masse“ und ihre „Auflehnung gegen die Akademiker“, zeigen deutlich, wo die Wunde liegt, in die jetzt von der Partei rücksichtslos die Finger gelegt werden.

Lächerlich und barbarisch kann im heutigen bürgerlichen Milieu allerdings bis zu einem gewissen Grade der große Lärm erscheinen, der in der Sozialdemokratie um „Bagatellen“ geschlagen wird, die in jeder bürgerlichen Partei mit stillschweigendem Achselzucken des innigen Verständnisses aufgenommen worden wären. Grotesk das Bild einer Dreimillionenpartei reifer Männer, die sich so ereifert und eine Haupt- und Staatsaktion aus ein paar „Unaufrichtigkeiten“ macht, welche neben der Summe von Lügen, die einer der Helden der Zollmajorität in einer einzigen Reichstagssitzung oder ein Konservativer in einer einzigen Wahlrede leistet, wie ein armseliges Talglicht im blendenden Lichte der Mittagssonne verschwinden.

Rein persönlich, beschämend „persönlich“, ist freilich auch die Auseinandersetzung mit dem Revisionismus jetzt geworden, auch das muß von uns mit zerknirschtem Sinne zugegeben werden. Wir sind eben nicht in der bequemen Lage der Nationalliberalen oder des Zentrums, des Junkertums oder des Freisinns, die politische Korruption und den Betrug der Massen zur Grundlage der Parteiexistenz selbst gemacht zu haben, in der jeder einzelne unwürdige Streich, wie ein Tropfen Wasser im gleichartigen Element des Meeres, spurlos aufgeht.

Wenn übrigens die Auflehnung der proletarischen Masse in unserer Partei gegen die vereinzelten Erscheinungen der Korruption unter den „Akademikern“ die Bourgeoisie so in Harnisch bringt, so muß man ihr zugeben, daB sie mit sicherem Instinkt in den jetzigen Vorgängen bei uns gerade diejenige Seite der modernen Arbeiterbewegung herausgefühlt hat, die für sie in dem letzten halben Jahrhundert so verhängnisvoll geworden ist, – den von der Sozialdemokratie herbeigeführten radikalen Umschwung in dem Verhältnis zwischen „Masse“ und „Führer“.

Das Goethesche Wort von der „widerwärtigen Majorität“, die aus wenigen kräftigen Vorgängern bestehe, aus Schelmen, die sich akkomodieren, Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die „nachtrollt, ohne im mindestens zu wissen, was sie will“ [4*], dieses Wort, mit dem bürgerliche Skribenten die sozialdemokratische Masse treffen wollen, ist nämlich nichts anderes als das klassische Schema der „Majoritäten“ in den bürgerlichen Parteien. In allen bisherigen Klassenkämpfen, die im Interesse von Minoritäten ausgefochten wurden, oder wo, wie Marx sagt, „die gesamte historische Entwicklung im Gegensatz zu der großen Volksmasse“ stattgefunden hat, da bildete die Unklarheit der Masse über die eigentlichen Ziele, den materiellen Gehalt und die Grenzen der historischen Aktion, die Vorbedingung selbst dieser Aktion. Dieses Mißverständnis war auch der spezifische geschichtliche Boden der „Führerschaft“ auf seiten der „gebildeten“ Bourgeoisie, der das „Nachtrollen“ der Masse entsprach.

Aber, schrieb Marx schon 1845, „mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist“. [5*] Der proletarische Klassenkampf ist die „gründlichste“ aller bisherigen historischen Aktionen, sie umfaßt die gesamten unteren Volksschichten und sie ist die erste Aktion seit dem Bestehen der Klassengesellschaft, die dem eigenen Interesse der Masse entspricht.

Die eigene Einsicht der Masse in ihre Aufgaben und Wege ist deshalb hier eine ebenso unerläßliche geschichtliche Vorbedingung der sozialdemokratischen Aktion, wie früher ihre Einsichtslosigkeit die Vorbedingung der Aktionen der herrschenden Klassen war.

Damit ist aber der Gegensatz zwischen der „Führerschaft“ und der „nachtrollenden“ Majorität aufgehoben, das Verhältnis der Masse zu den Führern auf den Kopf gestellt. Die einzige Rolle der sogenannten „Führer“ in der Sozialdemokratie besteht darin, die Masse über ihre historischen Aufgaben aufzuklären. Das Ansehen, der Einfluß der „Führer“ in der Sozialdemokratie wächst nur im Verhältnis zu der Menge Aufklärung, die sie in diesem Sinne leisten, das heißt also gerade im Verhältnis, wie sie die bisherige Grundlage jeder Führerschaft, die Blindheit der Masse, zerstören, in dem Verhältnis mit einem Worte, wie sie sich selbst ihrer Führerschaft entäußern, die Masse zur Führerin und sich selbst zu Ausführern, zu Werkzeugen der bewußten Massenaktion machen. Die „Diktatur“ eines Bebel, das heißt sein enormes Ansehen und sein Einfluß, beruht nur auf seinem enormen Werk der Aufklärung der Masse zur politischen Mündigkeit, und die Früchte dieser Arbeit erntet er heute, wo die Masse ihm begeistert folgt, soweit er, wie in diesem Augenblick, ihrem Wollen und Denken Worte verleiht. Und wenn die Heranbildung der klaren, bewußten, durchgeistigten Führerin Masse, der Lassalleschen Vereinigung der Wissenschaft mit den Arbeitern nur ein dialektischer Prozeß ist und bleibt, da immer frische Elemente aus Arbeiterkreisen und Mitläufer aus anderen Schichten herbeiströmen, so ist und bleibt doch die herrschende Tendenz der sozialdemokratischen Bewegung: die Abschaffung der „Führer“ und der „geführten“ Masse im bürgerlichen Sinne, dieser historischen Grundlage aller Klassenherrschaft.

Allerdings hieße es den Schatten der alten bürgerlichen Freiheitskämpfer schmähen, wollte man sie mit den heutigen bürgerlichen „Führern“ auf eine Stufe stellen. Das Aufkommen der Sozialdemokratie hat auch auf das Verhältnis der Masse zu den Führern außerhalb des proletarischen Klassenkampfes, in dem bürgerlichen Milieu selbst in tiefgehender Weise zurückgewirkt. Die Klassenbewegungen der aufstrebenden Bourgeoisie beruhten nicht nur auf der Unklarheit der Volksmassen über die eigentlichen Ziele der jeweiligen Aktion, sondern auch in hohem Maße auf der Unklarheit der Führer selbst. Jetzt, nachdem die eigenen Klasseninteressen der Volksmasse aufgedeckt sind, vermag die Bourgeoisie ihre Gefolgschaft nur durch absichtliche Verschleierung der eigenen Klassenbestrebungen, wie der ihnen entgegengesetzten Interessen des Volkes aufrechtzuerhalten. Die revolutionären Vorkämpfer der Bourgeoisie waren Volksführer auf Grund einer historischen Selbsttäuschung. – Die Bachem, Bassermann, Richter, deren Soldschreiber über die „Diktatur“ Bebel zetern, sind Volksvertreter auf Grund eines politischen Betrugs.

Wenn nun unter diesen auf berufsmäßiger Täuschung der Masse begründeten Parteien gerade der Liberalismus gegenwärtig in Schmähungen über die „blinde Masse“ der Sozialdemokratie und die „Empörung der schwieligen Faust“ gegen den „heiligen Geist der Bildung“ allen anderen vorangehen, so zeigt dies nur drastisch, wie gründlich sich die geschichtliche Szenerie und der „Geist“ dieser Herren seit einem halben Jahrhundert geändert hat.

Es war der Hegelianer Bruno Bauer, der nach seiner Absage an die radikale Bewegung anfangs der vierziger Jahre mit den „liberalen Wortführern der Masse“ polemisierte, um ihnen klarzumachen, daß gerade „in der Masse, nicht anderwärts“, der „wahre Feind des Geistes“ zu suchen sei. Die „liberalen Wortführer“ von dazumal suchten eben noch den „wahren Feind des Geistes“ nicht in der „Masse“, die ihre liberalen Phrasen ernst nahm, sondern „anderwärts“, und zwar – in dem reaktionären preußischen Staate. Heute, nachdem die „liberalen Wortführer“ sich längst mit der Reaktion des preußischen Staats gegen die „Masse“ verschworen haben, heute freilich erblicken sie selbst in ihr „den wahren Feind des Geistes“. In der Masse nämlich, die ihnen mit Verachtung den Rücken gedreht hat, um auf eigene Faust gegen die Reaktion wie gegen den bürgerlichen Liberalismus zu kämpfen und die seine „Wortführer“ erst wieder am 16. Juni [6*] um eine so hübsche Strecke dem Grabe näher gebracht hat.

Es ist die alte Fabel von den Trauben, die zu sauer waren. Nachdem die Bourgeoisie ihre eigene Anhängerschaft in den breiten Volksschichten mit jedem Tage mehr an die Sozialdemokratie verlor, blieb ihr die einzige Hoffnung, die sozialdemokratische Arbeiterschaft wenigstens durch das Medium des Revisionismus in die Bahnen der bürgerlichen Politik zu drängen, dem proletarischen Klassenkampf das Rückgrat zu brechen und so für die Verluste im historischen Spiele auf Umwegen eine schwache Revanche zu nehmen.

So lange diese Hoffnung währte, schien die sozialdemokratische Masse großen Sinn für „Kultur“ und „Bildung“ zu verraten und versprach allmählich eine „zivilisierte“ Macht zu werden. Jetzt, nachdem sie so roh und kulturfeindlich war, alle Kuckuckseier, die ihr von der Bourgeoisie behutsam ins Nest gelegt worden waren, in Dresden mit grobem proletarischen Stiefel zu zertreten, kann es selbstverständlich keinem Zweifel unterliegen, daß es nur eine blinde Herde ist, die sich von ihren Führern und Diktatoren zu einer so unzivilisierten Handlung aufhetzen lassen konnte.

Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Komik, allein es kann zugegeben werden, daß der Schmerz der betrogenen Betrüger diesmal besonders ernste Gründe hat. Haben die früheren Parteitage die einzelnen Äußerungen der Praxis und die Theorie des Revisionismus verurteilt, so hat die Partei zu Dresden und nach Dresden nicht nur in verstärktem Maße jenes Urteil wiederholt sondern sie ist zugleich auch über eine andere Seite des Revisionismus zu Gericht gesessen – über seine politische Ethik und die damit verknüpfte persönliche Liaison mit der Bourgeoisie.

Für jedermann, der sich über die Vorgänge der letzten Tage in ihrem inneren Zusammenhang Rechenschaft ablegt, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der vielbesprochene Artikel über die Parteimoral [7*], so zufällig auch seine Entstehung sein mag und so wenig er die wirkliche Handlungsweise aller revisionistischen Genossen charakterisiert, doch als adäquater [angemessener] Ausdruck der Ethik des Revisionismus betrachtet werden kann, wie sie seinen Gedankengängen mit zwingender Logik entspricht. Die Masse, die wie ein Kind erzogen werden muß, der man nicht alles sagen, die man sogar zu ihrem Besten belügen und betrügen darf, und die „Führer“, die als tiefblickende Staatsmänner aus diesem weichen Ton den Tempel der Zukuft nach eigenen großen Plänen formen, das ist die politische Ethik sowohl der bürgerlichen Parteien wie des revisionistischen Sozialismus, wenn auch die dabei verfolgten Absichten hier und dort noch so verschiedene sein mögen.

Dieses Verhältnis der Masse und der Führer in ihrer praktischen Anwendung sehen wir im Jaurèsismus in Frankreich und in den Anläufen der Richtung Turati in Italien sich Bahn brechen. Die „autonomen“ zusammenhanglosen heterogenen „Föderationen“ der jaurèsistischen Partei, der Antrag Turatis in Imola auf Abschaffung des Zentralkomitees der Partei, das ist nichts anderes als die Auflösung der stramm organisierten Parteimasse, damit sie sich aus der selbständigen Führerin in ein ohnmächtiges Werkzeug ihrer Parlamentarier verwandelt, in jene „blinde Masse“, die „nachtrollen“ muß, weil sie „nicht im mindesten weiß, was sie will“, oder wenn sie es weiß, wie auf dem Kongreß in Bordeaux [8*], nicht die Kraft hat, ihrem Willen Gehorsam zu verschaffen. Dieses, sowohl wie das Bestreben der jauresistischen Abgeordneten, sich sogar von dem Einfluß und der Kontrolle der Parteiorganisationen frei zu machen, die sie ins Parlament geschickt haben, und über deren Kopf hinweg direkt an die unorganisierte, amorphe [gestaltlose] Wählermasse zu appellieren, das sind die organisatorischen Vorbedingungen des gegenseitigen Verhältnisses von Führer und Masse, wie es in dem Zukunft-Artikel als psychologische Notwendigkeit und als Norm jeder Massenbewegung dargelegt worden ist.

Dieser Verwischung der Grenzen zwischen der zielbewußten proletarischen Kerntruppe und der unorganisierten Volksmasse unten entspricht harmonisch die Verwischung der Grenzen zwischen der „Führerschaft“ der Partei und dem bürgerlichen Milieu oben – die Annäherung des sozialistischen Parlamentariers an den bürgerlichen Literaten auf dem Boden der „allgemein menschlichen Bildung“.

Unter den Fittichen der „Bildung“ und der „allgemein menschlichen Kultur“ fanden sich nämlich an den schönen Winterabenden sozialdemokratische Parlamentarier mit bürgerlichen Journalisten zusammen, um sich „von den Strapazen des Berufs“ und der „politischen Fachsimpelei“ zu erholen. Wie auf der Neige der Glanzperiode des alten Griechenlands um Perikles sich Staatsmänner, Philosophen, Politiker und Künstler vereinigten, um in freiem Meinungsaustausch die höchsten Gipfel des menschlichen Geistes zu erklimmen und die subtilsten Feinheiten der Kultur auszukosten, so sammelten sich in einer Berliner Kneipe um den Perikles-Harden die sozialdemokratischen Staatsmänner, um im Kreise liebenswürdiger Frauen und geistreicher Journalisten, fern vom rohen Gewühl des Klassenkampfes und dem Schweißgeruch der Massen, über Politik und Kunst, Erhabenes und Heiteres zu plaudern. Fehlten auch die griechischen Rosenkränze auf den Häuptern der Versammelten und mußte vielleicht der gemeine Pschorrbräu den edlen Saft der thessalischen Rebe ersetzen, so schwebte doch über dem Ganzen der wahre Geist antiker Freundschaft, feinster Bildung; und mit echter Toleranz höherer Geister wurden die verschiedensten Ansichten und Meinungen gegenseitig ausgetauscht und verglichen – mitunter auch Detektivmaterial gegen unbequeme Genossen. „Wie unter Gebildeten“, sagt Genosse Heine.

Und nun greift die rohe proletarische Faust, die kein Verständnis für feine Bildung und das perikleische Zeitalter hat, ein, um all die „zarten Bande freier Menschlichkeit“ barbarisch zu zerstören. Die von der bürgerlichen Gesellschaft bis weit in unser Lager hinein ausgestreckten Fühler ziehen sich, schmerzlich aufzuckend, mit Eile zurück. Des Herrn Jastrow gekränktes Wesen, der Vossischen Zetern, des Mosse-Freisinns [9*] Schmähungen quittieren über die geknickten Hoffnungen. Der revisionistische Nebel hat sich verzogen, und vor den haßerfüllten Blicken der Bourgeoisie ragt die steile, zackige Felswand der proletarischen Bastionen in alter Unnahbarkeit, in alter Schroffheit empor. Zwischen ihr und der bürgerlichen Welt gähnt wieder unüberbrückbar die tiefe Kluft, und was für die bürgerlichen Marodeure noch vor einem Augenblick nur ein Spaziergang hinüber zu sein schien, ist jetzt ein Sprung, „bei dem man sich den Hals bricht“ – wenn man nicht die ganze Persönlichkeit in das Wagnis setzt.

Der Zusammenhang der ethischen Erscheinungen der letzten Tage mit den revisionistischen Methoden ist nun klar. Eben jenes fröhliche Hinüber und Herüber über den Graben, der das Kampflager des Proletariats von den bürgerlichen Feinden trennt, das durch die revisionistische „freie Kritik“, „freie Meinungsäußerung“ und „freie Mitarbeit“ an der bürgerlichen Presse hergestellt war, das war der Boden, auf dem jene Erscheinungen gediehen, deren schönste Blüte die Verschwörung gegen Mehring [10*] darstellt. Zwischen der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Welt war eine geistige Endosmose hergestellt, durch die Giftstoffe der bürgerlichen Zersetzung in die Blutzirkulation des proletarischen Parteikörpers frei eindringen konnten.

Hinc illae lacrimae! Daher die Grimassen der bürgerlichen Presse und die Drohungen, daß wir nun unsere „Mitläufer“ verscherzt und den Zufluß von Akademikern abgesperrt haben. Der Genosse Göhre, meint ein Freisinnsblatt, wird jetzt, nachdem er sich zum Verzicht auf das Mandat veranlaßt sah, eingesehen haben, „welchen Fehler er begangen“, als er in die Sozialdemokratie eintrat. [11*] Dieses naive Bekenntnis einer schönen liberalen Seele zeigt, wie man in jenem Lager über die jeweilige Parteizugehörigkeit eines Menschen denkt. Der edle Freisinn faßt den Eintritt in die Sozialdemokratie als „einen Fehler“ auf, wie man einen Fehler begeht, indem man je nach dem Geschäftsgang in Kaffee statt in Baumwolle „macht“. Und dabei ist ihm nicht einmal eine Ahnung aufgestiegen, daß er bei dieser fachmännischen Taxierung der Vorgänge in der Sozialdemokratie die Politik im eigenen Hause auf das Niveau der Prostitution degradierte.

Nun, diejenigen Akademiker, die, von diesen Gesichtspunkten ausgehend, zu uns nicht mehr kommen oder uns jetzt verlassen würden, wir gönnen sie ruhig den werbenden Umarmungen des Liberalismus. Similia similibus – mag gleich und gleich sich gern gesellen. Wir fürchten bloß, der arme Freisinn wird auch bei dieser erwarteten teilweisen Liquidation „der Konkurrenz“ kein Geschäft machen, denn gerade die ihm geistesverwandten „Akademiker“ würden schon sicher „den Fehler“ nicht begehen, bei einer bankrotten Firma in Kondition zu treten.

Was aber unsere Kulturmission betrifft, um die nach der „Auflehnung der schwieligen Fäuste“ gegen die „Akademiker“ das Junkertum besonders besorgt zu sein scheint, so werden auch die ostelbischen Kulturfreunde bald zu ihrem Schmerze erfahren müssen, daß die kulturrettende Aktion der Sozialdemokratie gegen die junkerliche Reaktion nach der Abrechnung mit dem Revisionismus nur noch mit größerer Potenz hervortreten wird.

Denn auch der innige Zusammenhang der Sozialdemokratie mit der geistigen Kultur beruht nicht auf den Elementen, die von der Bourgeoisie zu uns herübergekommen sind, sondern auf der aufstrebenden proletarischen Masse. Er rührt nicht von der Verwandtschaft unserer Bewegung mit der bürgerlichen Gesellschaft her, sondern von ihrem Gegensatz zu dieser Gesellschaft. Seine Quelle ist das sozialistische Endziel, das die Wiedergabe der gesamten menschlichen Kultur an die menschliche Gesamtheit bedeutet. Und je schärfer der proletarische Charakter der Sozialdemokratie und ihr Endziel in den Vordergrund der Bewegung treten, um so sicherer wird die Geisteskultur Deutschlands vor ihren ostelbischen Freunden und Deutschland selbst vor dem Verfall in das konservative Chinesentum bewahrt bleiben.

Um so dringender aber die Reinigung der Partei von den Zersetzungserscheinungen, die sich als Folge des letzten Jahrfünfts ihrer Geschichte eingestellt haben. Denn „mit der Gründlichkeit“ auch dieser in gewissem Sinne „historischen Aktion“ wird auch „der Umfang der Masse“ zunehmen, die uns vertrauensvoll ins Lager folgt, als in das einzige politische Lager, wo ihre reinen Klasseninteressen unter reinem Schilde verfochten werden.

Anmerkungen

1*. Rosa Luxemburg bezieht sich auf den sozialdemokratischen parteitag in dresden vom 13. bis 20. September 1903, auf dem die Auseinandersetzungen mit den Opportunisten einen Höhepunkt erreichten

2*. Gemeint ist der Konservative Georg Oertel, Chefredakteur der Deutschen Tageszeitung und Mitglied des Reichstags.

3*. Gemeint ist die Freisinnige Volkspartei von eugen richter, der die Vossische Zeitung sehr nahestand.

4*. Goethes Werke, unter Mitwirkung mehrerer Fachgelehrter herausgegeben von Prof. Dr. Karl Heinemann, 24. Bd., Leipzig u. wien o.J., S.265/266.

5*. Karl Marx, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik, in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd.2, Berlin 1962, S.86.

6*. Am 16. Juni hatten die Wahlen zum deutschen Reichstag stattgefunden. Die Sozialdemokratie errang mit über drei Millionen Stimmen einen Wahlsieg und erhöhte die Zahl ihrer Abgeordneten gegenüber 1898 um 25 auf insgesamt 81.

7*. Georg Bernhard, Parteimoral, in Die Zukunft (Berlin), XI. Jg 1903, Nr.15, S.79-81.

8*. Der Kongreß der Französischen Sozialistischen Partei fand vom 12. bis 14. April 1903 in Bourdeaux statt.

9*. Das Berliner Tageblatt, das der Freisinnigen Vereinigung politisch und personell nahestand, und die Berliner Volkszeitung, die mit dieser Partei in innenpolitischen Fragen übereinstimmte, wurden von dem Zeitungsverleger Rudolf Mosse herausgegeben.

10*. Franz Mehring hatte vor dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei in Dresden in einigen Artikeln die Mitarbeit von sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse als unvereinbar mit ihrer Parteizugehörigkiet bezeichnet. Darufhin begannen die Revisionisten eine Hetzkampagne gegen ihn. Aus dem Artikel Wolfgang Heines Herr Maximilian Harder und ich im Vorwärts vom 30. September 1903 ging hervor, daß Heine maßgeblich an der Vorbereitung des Angriffs auf Mehring beteiligt war.

11*. Paul Göhre, Mitbegründer des Nationalsozialen Vereins und bis 1899 dessen zweiter Vorsitzender, war 1900 zur Sozialdemokratie übergetreten, wo er revisionistische Positionen bezog. Am 1. Oktober 1903 hatte Göhre sein Reichstagsmandat vom Juni 1903 niedergelegt, ohne vorher den Parteivorstand oder seine Wähler in Kenntnis gesetzt zu haben.


Zuletzt aktualisiert am 29. Juni 2019