Rosa Luxemburg


Sozialreform oder Revolution?


Vorwort [1]

Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blick überraschen. Sozialreform oder Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet, der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.

Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der Theorie von Ed. Bernstein, wie er sie in seinen Aufsätzen: Probleme des Sozialismus, in der Neuen Zeit 1896/97 [2] und namentlich in seinem Buche: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie dargelegt hat. Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am schärfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: „Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung alles.“ [3]

Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage „Sozialreform oder Revolution?" im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage: Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern handelt es sich in letzter Linie nicht um diese oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung.

Doppelt wichtig ist diese Erkenntnis für die Arbeiter, weil es sich hier gerade um sie und ihren Einfluß in der Bewegung handelt, weil es ihre eigene Haut ist, die hier zu Markte getragen wird. Die durch Bernstein theoretisch formulierte opportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes, als eine unbewußte Bestrebung, den zur Partei herübergekommenen kleinbürgerlichen Elementen die Oberhand zu sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln. Die Frage von der Sozialreform und der Revolution, vom Endziel und der Bewegung ist von anderer Seite die Frage vom kleinbürgerlichen oder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung.


Anmerkungen

1. Grundlage für diese Version der Arbeit ist die Version in Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Berlin 1982, S. 367–445, überarbeitet mit den Änderungen aus der 1908 erschienen Ausgabe.

2. Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 164–71, 204–13, 303–11, 772–83; Zweiter Band, S. 100–7, 138–43.

3. „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 556.


Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019