Paul Levi


Unser Weg


III

Das Entscheidende freilich in allem ist für die Kommunisten ihr Verhältnis zur eigentlich revolutionären Klasse, zum Proletariat. Im Verhältnis zum Proletariat erweist sich die Lebensfähigkeit überhaupt der Kommunisten. Sind die Beziehungen der Kommunisten zu jenen andern, halbproletarischen, Mittelschichten taktischer Art, deren richtige oder falsche Einstellung den Gang der Revolution beschleunigen oder hemmen, begünstigen oder gefährden kann, so ist die Beziehung der Kommunisten zum Proletariat prinzipieller Art. Wer das Verhältnis der Kommunisten zum Proletariat nicht begriffen hat und wer nicht dementsprechend handelt, der hört auf, ein Kommunist zu sein. Wir hätten uns über die Frage kurz fassen können, wenn nicht die Ereignisse dieser Tage alles wieder erschüttert hätten, was wir als errungen wähnten.

„In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern überhaupt?“ Das ist die Frage, die Marx im Kommunistischen Manifest erhebt und die er wie folgt beantwortet:

Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariates getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariates hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder: sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariates die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.

Diese Sätze sind das Grundgesetz des Kommunismus. Alles andere ist nur dessen Ausführung und Erläuterung. Und unter diesen Gesichtspunkten wollen wir drei Fragen prüfen:

a) Welches ist das zahlenmäßige Verhältnis der deutschen Kommunisten zum deutschen Proletariat?

Wenn wir im nachfolgenden Zahlen aus den verschiedenen Wahlbewegungen erörtern, so bedeutet das beileibe nicht, daß irgendeine Aktion des Proletariates oder die Ergreifung der Macht durch das Proletariat erst möglich sei, wenn zuvor irgendein zahlenmäßiges Verhältnis durch Wahl oder Abstimmung festgestellt sei. Wir denken noch viel weniger an die köstliche Theorie, die der Vorwärts im vergangenen Jahr einmal aufstellte, eine Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat sei erst möglich, wenn 51% der Wähler sich für das Proletariat erklärt haben, damals, als der Vorwärts einen seiner Parteigenossen dafür abkanzelte, daß dieser behauptet hatte, eine Machtergreifung durch das Proletariat sei unter Umständen auch schon möglich, wenn erst 49 % der „Gesamtbevölkerung“ für die „Diktatur des Proletariates“ – was die Herrschaften so heißen – sei. Und wir denken am allerwenigsten daran, mit den Wahlzahlen die Möglichkeit andeuten zu wollen, die Ziele der Kommunisten durch Wahlen und Abstimmungen zu verwirklichen. Wir halten es vielmehr durchaus mit dem, was Lenin (Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariates, S. 22) sagt:

Das allgemeine Wahlrecht ist ein Gradmesser für die Reife des Verständnisses, das die verschiedenen Klassen ihren Aufgaben entgegenbringen. Es zeigt, wie die verschiedenen Klassen geneigt sind, ihre Aufgaben zu lösen. Die Lösung der Aufgaben selbst aber kann nicht durch Abstimmung geschehen, sondern durch alle Formen des Klassenkampfes bis hinauf zum Bürgerkrieg.

In diesem Sinne also werden wir einige Zahlen anführen. Dabei ist, und nicht nur aus diesem Grund, bedauerlich, daß die ersten Zahlen, die zum Vergleiche notwendig wären, fehlen; nämlich die Zahlen aus der ersten Wahl nach Beginn der Revolution, der Wahl vom 19. Januar 1919, von der die Kommunisten fern blieben. So müssen wir beginnen mit der Wahl zum Preußischen Landtag im Februar 1921. Es entfielen in dieser Wahl auf proletarische Parteien folgende Stimmen (auf tausend abgerundet):

Kommunisten

USPD

SPD

1.156.000

1.087.000

4.171.000

Diese Zahlen besagen: die Kommunisten sind zur Zeit etwa ein Fünftel der Proletarier, die sich überhaupt als Klassenangehörige betätigen. Selbst mit der USPD zusammen, die doch gewiß keine Kommunisten, sondern eher den Sozialdemokraten zuzuzählen sind, selbst mit diesen zusammen wären sie etwa ein Drittel jener Proletarier.

Doch ist an sich – wir kommen darauf noch später zu sprechen – diese Gesamtzahl nicht unbedingt entscheidend. Wir werden daher einzelne besonders markante Beispiele hervorheben.

VKPD

USPD

SPD

Berlin:

112.000

197.000

221.000

Groß-Berlin (Berlin mit Potsdam I und II):

233.000

397.000

564.000

Magdeburg:

26.000

  48.000

264.000

Halle:

204.000

  76.000

  71.000

Westfalen Nord:

  49.000

  23.000

196.000

Westfalen Süd:

108.000

  84.000

283.000

Düsseldorf Ost:

105.000

  84.000

131.000

Düsseldorf West:

  65.000

  23.000

  94.000

Rheinisch-Westfälisches Industriegebiet:

372.000

214.000

704.000

Wir werden, wie gesagt, auf die Bedeutung dieser Zahlen noch später zu sprechen kommen und wollen hier nur noch folgendes erwähnen. Aus dem Vergleich etwa der Berliner, aber auch aller anderen Zahlen, mit denen der Reichstagswahl des vergangenen Sommers ergibt sich, daß nach dem Zusammenbruch der USPD etwa ebensoviel Wähler zur Sozialdemokratie, zur Noskepartei, gewandert sind, als zu den Kommunisten. Diese Tatsache ergibt sich auch deutlich etwa aus den Zahlen der Mecklenburgischen Landtagswahl im Juni 1920 und im März 1921. Es erhielten (in runden Zahlen):

KPD

USPD

SPD

im Juni 1920

  1.200

24.500

128.000

im März 1921

15.000

  2.600

137.000

Danach beträgt der Stimmenverlust der USPD 22.000 Stimmen. Die Kommunisten haben gewonnen etwa 13.800 Stimmen, die Mehrheitler etwa 9.000 Stimmen. Rechnet man auf seiten der Kommunisten ab, was sie aus anderen Kreisen als aus denen der USPD gewonnen haben und berücksichtigt man auf Seiten der Sozialdemokratie, daß sie in diesem stark ländlichen Wahlkreis ohne den Stimmenzuwachs aus dem Lager der USPD einem Stimmenverlust ausgesetzt gewesen wäre, so ergibt sich, wie gesagt, daß die Wähler der USPD halb und halb nach rechts und links gingen, soweit sie nicht (wie es besonders kraß in Berlin stattfand) überhaupt in der Versenkung verschwanden.

Wir haben aber außerdem noch einen anderen Maßstab für das zahlenmäßige Verhältnis der Kommunisten zum Proletariat. Es ist das Verhältnis in den Gewerkschaften. Während in den Wahlzahlen die strenge Scheidung von proletarischem und nichtproletarischem Element nicht stattfindet – die Sozialdemokratie hat zweifellos einen starken kleinbürgerlichen Einschlag, und ein Teil des Proletariats findet in den Wahlziffern überhaupt keinen Ausdruck –, ist die Gewerkschaft rein proletarisch, und jeder kommunistische Gewerkschaftler ist auch zweifellos Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Zahl der Mitglieder der Kommunistischen Partei zur Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ergibt also eine Höchstzahl des augenblicklichen zahlenmäßigen (nicht geistigen) Einflusses der Kommunisten auf das gewerkschaftliche Proletariat.

Nun: die Gewerkschaften, die dem ADGB angeschlossen sind, hatten

Ende 1918

2.866.012

Mitglieder

Ende 1919

7.338.123

Mitglieder

Außerdem sind in den christlichen Gewerkschaften Ende 1919 organisiert gewesen 858.283 Mitglieder.

Ende 1919 waren also in Deutschland rund 8,2 Millionen Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Die Zahlen sind, jedenfalls soweit der ADGB in Frage kommt, 1920 wohl noch gestiegen. Setzen wir aber auch nur diese Zahlen in das Verhältnis zur Zahl der Kommunisten Anfang 1921, zu 500.000, so ergibt sich: vom gewerkschaftlich organisierten Proletariat waren die Kommunisten rund 1/16, vom freigewerkschaftlich organisierten Proletariat waren die Kommunisten rund 1/14.

Das ist das zahlenmäßige Verhältnis, das, auch so, wie es ist, nicht zu schrecken braucht. Denn in revolutionären Situationen ändern Zahlenverhältnisse sich schnell und über den zahlenmäßigen Einfluß hinaus reicht oder wenigstens sollte reichen der geistige Einfluß.

Wir werden über diesen geistigen Einfluß, dessen Bedeutung und darüber, wie man ihn gewinnt und wie man ihn verliert, noch an anderer Stelle reden; hier wollen wir nur eines betonen, was wir schon des öfteren sagten. In gewissem Sinn ist trotz der wachsenden kommunistischen Organisation und trotz des – wenigstens bisher – wachsenden kommunistischen Einflusses die Situation der Kommunisten eine schwierigere geworden. Die Sozialreformisten jeglicher Art waren bei Beginn der deutschen Revolution völlig in der Defensive. Sie hatte zwar große Massen hinter sich, aber ihre Reihen waren ungeordnet; wir hatten freien Zutritt zu ihnen, wir konnten sie beeinflussen. Heute hat der Sozialreformismus einen bewußten und zähen Widerstand gegen den Kommunismus organisiert; ja, teilweise schon geht er aus der Defensive in die Offensive über, um die Kommunisten aus ihren Positionen zu verdrängen. Das heißt: der geistige Einfluß der Kommunisten auf die noch unentschiedenen oder noch reformistisch gesinnten proletarischen Massen fällt den Kommunisten nicht mehr in den Schoß. Er muß errungen werden. Und vorläufig, das steht fest, sind die Kommunisten eine Minderheit im Proletariat.
 

b) Welche sind die Voraussetzungen für eine Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat?

Wir haben bereits oben gesagt, was die Voraussetzung nicht sei. Nicht Voraussetzung ist, daß die Mehrheit des deutschen Proletariates ein Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei in Händen habe. Nicht Voraussetzung ist auch, daß zuvor das Proletariat männiglich zur Wahlurne schreite und seine Bereitschaft durch beschriebenen oder bedruckten Zettel bekunde. Voraussetzung ist auch nicht unbedingt, daß jene Mittelschichten, von denen wir oben sprachen, kommunistisch seien oder durchweg mit den Kommunisten sympathisierten. Ihre Sympathie freilich wird in jedem Fall eine außerordentliche Erleichterung der Aufgabe des Proletariates bei wie nach Ergreifung der Macht sein, und Umstände sind auch denkbar, wo die Feindschaft und Ablehnung diesen Schichten die Machtergreifung unmöglich macht. Das sind aber Dinge, die sich zumeist wohl erst im Kampf ergeben und bei denen es schwer ist, sich von vornherein auf bestimmte Formeln festzulegen, die dann, mechanisch angewendet, nur den Offensivgeist schwächen. Aber davon abgesehen gibt es gewisse Voraussetzungen für die Ergreifung der Staatsgewalt. Lenin sagt (Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariates, S.12):

Wir können drei Bedingungen feststellen, die dem Bolschewismus zum Siege verhalfen:

  1. eine ausschlaggebende Mehrheit unter dem Proletariat;
  2. fast die Hälfte der Stimmenzahl im Heere;
  3. ein erdrückendes Übergewicht im entscheidenden Augenblick und an entscheidender Stelle, nämlich: in den Hauptstädten und an den dem Zentrum naheliegenden Heeresfronten.

Was diese drei Voraussetzungen in Deutschland angeht, so haben wir zur ersten, Mehrheit, ausschlaggebende Mehrheit im Proletariat, schon das Zahlenmäßige gesagt und werden das andere noch nachholen. Die zweite, nahezu die Hälfte der Stimmenzahl im Heere, ist in ihrer Kleinheit zahlenmäßig überhaupt nicht auszudrücken. Wir haben in der Armee keinen Einfluß, verscherzen ihn uns immer wieder, wenn wir eben einigen gewonnen haben, müssen aber sagen: die ausschlaggebende Bedeutung, die die Armee in Rußland hatte, hat die jetzige deutsche Armee nicht. Lenin sagt (Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariates, S. 12): „Die Armee war bereits im Oktober–November 1917 zur Hälfte bolschewistisch. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten wir nicht siegen können.“ Diese Bedeutung hat die Armee in Deutschland nicht.

Die dritte Voraussetzung ist „das erdrückende Übergewicht im entscheidenden Augenblick an der entscheidenden Stelle“. Dieses ist ein durchaus richtiger Gesichtspunkt. Um eine Schlacht zu gewinnen, braucht man nicht in der Mehrheit zu sein. Es genügt, an der Stelle des Schlachtfeldes in der Mehrheit zu sein, an der die Entscheidung fällt. Um einen Krieg zu gewinnen, braucht man nicht in der Mehrheit zu sein; es genügt, das erdrückende Übergewicht an den Stellen zu haben, an denen Schlachten geschlagen werden.

Welches sind die entscheidenden Stellen? Für Rußland bezeichnet Lenin als solche: die Hauptstädte und die ihnen naheliegenden Heeresfronten. Dieser letztere Faktor scheidet für uns aus den erwähnten Gründen vorläufig aus. Bleiben die Hauptstädte und zunächst die Hauptstadt, die einer haben muß mit ihren Regierungsgebäuden und ihrem zentralen Apparat, wenn er die Staatsgewalt ergreifen will.

Unglückseligerweise ist trotz – oder muß man sagen: wegen? – dem stark entwickelten Spürsinn einiger Berliner Genossen und dem nicht minder stark entwickelten Sprachtalent wider allen „Opportunismus“ die Berliner Organisation ungefähr die schlechteste, die wir im Reiche haben. Was nicht nur aus den Wahlzahlen, sondern auch aus anderem zu beweisen ist. Kurz: diese Berliner Genossen, die dafür verantwortlich sind, haben nichts getan, um diese Voraussetzung für das von ihnen heißer als von den anderen angestrebte Ziel zu erreichen.

Es bleiben aber in Deutschland noch andere Stellen, die unter Umständen entscheidend sein können.

Die Eisenbahnen. Mit den Eisenbahnen ist es nicht viel anders als mit dem Heer. Starken Einfluß, den wir schon hatten, haben wir uns durch eigene Dummheiten immer wieder verdorben. Hier in diesen halbbürgerlichen und halbintellektuellen Kreisen, namentlich der Beamtenschaft, rächt sich am stärksten das, was wir in der Behandlung jener Schichten unterlassen haben. Immerhin haben wir unter den Eisenbahnern, wenn auch nur in einzelnen Orten oder Bezirken, einigen Einfluß. Dann die Industriebezirke. Einen Industriebezirk, der mit einem Streich den bürgerlichen Staat lahmlegen und zur Kapitulation zwingen könnte, so wie Berlin es kann, wenn es die Regierungsgebäude, die Banken usw. besetzt, einen solchen Industriebezirk haben wir in Deutschland nicht. In Deutschland sind zwei Industriebezirke, die für den Staat lebenswichtig sind, die ihn aber erst nach einiger Zeit zur Kapitulation zwingen können: Rheinland-Westfalen und Mitteldeutschland. Was Rheinland-Westfalen angeht, so haben wir eben gesehen, wie dort 372.000 kommunistischen Wählern 214.000 Unabhängige und 704.000 Mehrheitler gegenüberstanden. Danach kann von einem erdrückenden Übergewicht an dieser Stelle keine Rede sein. Das andere Revier ist Mitteldeutschland. Im Bezirk Halle hatten wir 204.000 kommunistische Wähler gegen 76.000 Unabhängige und 71.000 Mehrheitler. Dort hatten wir einen gewaltigen Anhang und eine starke, opferfreudige, heroische Organisation. Wir hatten sie.

Jedenfalls aber steht fest: wenn man von Mitteldeutschland absieht, das im Sinne des kurzen Schlages nicht entscheidend ist, haben wir an keiner Stelle das „erdrückende Übergewicht“. „Wer unter diesen Umständen jetzt, in dieser Situation, eine Aktion beginnt, um die Staatsgewalt zu erobern, der ist ein Narr, und wer der Kommunistischen Partei vorerzählt, sie, die Kommunistische Partei, brauche nur zuzugreifen, der ist ein Lügner.
 

c) Wie wird die Staatsgewalt erobert?

Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat wird im allgemeinen (Ausnahmen, siehe Ungarn, waren schon da) die Frucht eines siegreichen Aufstandes, sei es des Proletariates, sei es darüber hinaus noch anderer in die Revolution gezogener Schichten sein. Welche also sind die Voraussetzungen für einen Aufstand? Darüber sagt Lenin (Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, S. 61) folgendes:

Wenn es einer revolutionären Partei unter der Avantgarde der revolutionären Klassen und unter der Landbevölkerung an einer Mehrheit fehlt, so kann von einem Aufstand keine Rede sein. Außer dieser Mehrheit ist dafür notwendig:

  1. Das Anwachsen der revolutionären Welle im ganzen Lande.
  2. Der völlig moralische und politische Bankrott der alten – zum Beispiel der „Koalitions“-Regierung.
  3. Tiefgehende Unsicherheit im Lager aller schwankenden Elemente, das heißt jener, die nicht voll und ganz hinter der Regierung stehen, obwohl sie gestern noch voll und ganz hinter ihr standen.

Wir wollen auch hier wieder diese Voraussetzungen für Deutschland prüfen und, daran anknüpfend, die Vorgänge kritisieren, die in den letzten Tagen sich in Deutschland abspielten.

  1. Die Grundvoraussetzung, die, zu der alle anderen noch hinzutreten müssen, die „Mehrheit der revolutionären Partei unter der Avantgarde der revolutionären Klassen und unter der Landbevölkerung“ lag und liegt in Deutschland, wie wir gesehen haben, nicht vor. Selbst wenn wir die Landbevölkerung, die in Deutschland die ausschlaggebende Rolle wie in Rußland nicht spielt, beiseite lassen, hat die Kommunistische Partei („die revolutionäre Partei“) auch nicht die Mehrheit unter dem Proletariat (der „Avantgarde der revolutionären Klassen“).
  2. Die revolutionäre Welle im ganzen Lande war nicht im Anwachsen. Wohl wuchs die Erbitterung des vorgeschrittenen Teils der Arbeiterschaft täglich, wohl schwoll die Zahl der Arbeitslosen täglich an, wohl ward die Armut, die Verelendung der Massen größer. Aber der Augenblick war noch nicht eingetreten, wo die sich zeigende Unzufriedenheit in steigende Aktivität der Massen umschlug; sie setzte sich, wie das häufig der Fall ist, vorläufig erst in steigende Resignation um.
  3. Von dem völligen moralischen und politischen Bankrott der alten – z. B. der „Koalitions“ – Regierung konnte keine Rede sein. In Preußen, wo die Sozialdemokratie in Koalition mit den bürgerlichen Parteien steht, hatte sie soeben genau doppelt so viel Stimmen erhalten als alle übrigen proletarischen Parteien zusammengenommen und war gegenüber dem Juni vorigen Jahres gewachsen.
  4. Und ebensowenig konnte die Rede sein von jener tiefgehenden Unsicherheit im Lager aller schwankenden Elemente; die Kommunistische Partei hatte, auch bei guten Gelegenheiten, wie dem Londoner Diktat, noch nicht einmal etwas getan, um sie unsicher zu machen.

Wir glauben, daß über diese Verhältnisse bei niemandem in der deutschen Kommunistischen Partei ein Zweifel war. Was also waren die Voraussetzungen, wie kam die Aktion? Wir erklären hierbei im voraus folgendes: die Situation, in der die Partei sich befindet, ist schwerer als sie je war. Es kann sich in Wochen, in Tagen vielleicht schon entscheiden, ob die Kommunistische Partei Deutschlands, ob der Kommunismus in Deutschland als Partei noch weiter besteht. Es ist Pflicht, der Partei gegenüber, in dieser Situation mit aller Offenheit und Wahrhaftigkeit zu reden; wer die Verantwortung für diese Aktion übernommen hat, muß sie tragen, so wie der letzte Parteigenosse. Wir werden also nur zu vermeiden trachten, der weißen Justiz neue Opfer zu liefern und zu vermeiden trachten, daß das geschehene Unglück noch weitere Kreise ziehe als über die deutsche Kommunistische Partei hinaus. In diesem Rahmen aber muß Wahrheit, die volle Wahrheit herrschen. Wie kam es zu der Aktion? Der erste Anstoß zu dieser Aktion kam nicht aus der deutschen Partei. Wir wissen nicht, wer dafür die Verantwortung trägt. Der Fall war schon häufiger, daß Abgesandte des Exekutivkomitees über ihre Vollmacht hinausgingen, d. h. daß sich nachträglich ergab, die Abgesandten hätten zu dem oder jenem keine Vollmachten gehabt. Wir sind also nicht in der Lage, dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale die Verantwortung zuzuschieben, wenngleich nicht verhehlt werden darf, daß in Kreisen der Exekutive eine gewisse Mißstimmung über die „Inaktivität“ der Partei bestand. Abgesehen von schweren Fehlern in der Kapp-Bewegung konnten freilich positive Unterlassungen der deutschen Partei nicht nachgesagt werden. Es lag also ein gewisser starker Einfluß auf die Zentrale vor, jetzt, sofort und um jeden Preis in die Aktion einzutreten.

Und diese sofortige Aktion mußte dann begründet werden. In der Sitzung des Zentralausschusses vom 17. März dieses Jahres führte ein verantwortlicher Redner folgendes aus:

„Über die allgemeine Lage ist dasselbe zu sagen, was Levi in der letzten Sitzung ausgeführt hat, nur daß sich seit dem Referat (vier Wochen zuvor!! der Verfasser) die Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten verschärft haben, die Gegensätze zwischen Amerika und England sich zugespitzt haben. Wenn nicht durch eine Revolution eine andere Wendung eintritt, werden wir in Kürze (! der Verfasser) vor einem amerikanisch-englischen Krieg stehen ...

... innerpolitische Schwierigkeiten liegen im Bereich der Möglichkeit dadurch, daß am 20. März die Sanktionen verschärft werden (! der Verfasser), ferner am gleichen Tage die Abstimmung in Oberschlesien stattfindet, die mit großer Wahrscheinlichkeit militärische Konflikte zwischen den deutschen und polnischen Imperialisten heraufbeschwören wird. Soweit wir informiert sind, ist jetzt die alte französische Besatzungsformation abgelöst worden durch englische Truppen; während die französischen Truppen eine polenfreundliche Haltung eingenommen haben, sollen nach Informationen (!!) die jetzigen englischen Truppen eine ziemlich stark deutschfreundliche Stellung einnehmen. Es ist mit 90 % Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß es zum bewaffneten Konflikt kommt. Die polnische Konterrevolution rüstet, und die deutsche Regierung arbeitet planmäßig, wie dokumentarisch belegt ist, seit Anfang Oktober für militärische Konflikte vor. Der Redner gibt durch Verlesen Kenntnis von diesen Dokumenten, von denen er bemerkt, daß sie nicht veröffentlicht werden dürfen ... Unser Einfluß wird über unsere Organisation von 4–500.000 Mitgliedern hinausgehen. Ich behaupte, daß wir heute zwei bis drei Millionen nichtkommunistische Arbeiter im Reiche haben, die wir durch unsere kommunistische Organisation beeinflussen können, die in Aktionen, auch in Angriffsaktionen von uns, unter unserer Fahne kämpfen werden. Ist diese meine Auffassung richtig, dann verpflichtet uns dieser Stand der Dinge, daß wir den inner- und außerpolitischen Spannungen gegenüber uns nicht länger passiv verhalten können, nicht länger die außer- und innerpolitischen Dinge nur agitatorisch verwerten dürfen, sondern dann verpflichtet uns die jetzige Situation, mit Aktionen einzugreifen, um die Dinge in unserem Sinn zu ändern.“

Wir behaupten: in jeder Partei, die auf sich hält, würde ein verantwortliches Mitglied der Leitung, das behauptet, in der Zeit von Mitte Februar bis Mitte März dieses Jahres hätten sich die Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten verschärft, die Gegensätze zwischen England und Amerika sich zugespitzt, daß wir „in Kürze vor einem englisch-amerikanischen Krieg stehen“, statt in die Leitung der Partei in den Keller einer Kaltwasserheilanstalt gebracht. Es würde ein Mitglied der Leitung, das in einer so schwerwiegenden Entscheidung sich stützt auf „geheime Informationen“, „Dokumente, die nicht veröffentlicht werden dürfen“, „90 % Wahrscheinlichkeit“ für einen Krieg, kurz – einen Bericht gibt, gegen den sich ein Weismannscher [3] Spitzelbericht wie ein Dokument von geschichtlichem Wert ausnimmt, schleunigst von seinem Posten entfernt. Und daran knüpft ein verantwortlich leitender Genosse noch die Milchmädchenrechnung von den zwei bis drei Millionen Nichtkommunisten, die auch in „Angriffsaktionen“ kämpfen werden – und das war die politische Basis für die Aktion, die kam!

Zur Verdeutlichung dessen, was nun eine „Angriffsaktion sei, führte ein anderes verantwortliches Mitglied aus:

„Das, was die Zentrale jetzt vorschlägt, ist ein vollkommener Bruch mit der Vergangenheit. Bisher hatten wir die Taktik, oder vielmehr wir sind gezwungen gewesen zu der Taktik, daß wir die Dinge an uns herankommen ließen, und sobald eine Kampfsituation gegeben war, in dieser Situation unsere Entschlüsse faßten. Jetzt sagen wir: wir sind so stark und die Situation ist so verhängnisschwanger, daß wir darangehen müssen, das Geschick der Partei und der Revolution selbst zu zwingen ...

Wir haben jetzt von Partei wegen die Offensive zu übernehmen, zu sagen, wir warten nicht, bis man an uns herankommt, bis wir vor Tatsachen stehen; wir wollen, soweit das an uns ist, diese Tatsachen schaffen ... Wir können die Verwicklungen außerordentlich verschärfen dadurch, daß wir im Rheinland die Massen zum Streik führen, die die Differenzen zwischen der Entente und der deutschen Regierung außerordentlich verschärfen müssen.. ..

... in Bayern liegen die Dinge so, wie sie gelegen haben lange Zeit in Deutschland, daß wir warten mußten, bis der Angriff von der anderen Seite kam. Was ist unsere Aufgabe in dieser Situation? Wir haben durch unsere Tätigkeit dafür zu sorgen, daß dieser Ausbruch kommt, wenn es sein muß, durch Provokation der Einwohnerwehren ...“

Und ein dritter verantwortlicher Parteigenosse fügte dem noch hinzu:

„... es ergibt sich, daß mit der bisherigen Parteieinstellung gebrochen werden muß, die dahin ging, Teilaktionen zu vermeiden und zu vermeiden, Parolen auszugeben, die danach aussehen könnten, als fordern wir den Endkampf ...“

Das ist das theoretische Lehrgebäude, in dem das Spiel über Sein oder Nichtsein der Kommunistischen Partei Deutschlands gespielt wurde.

Zunächst eins. Es gibt Kommunisten, bei denen die Worte „Verschärfung“, „Zuspitzung“, „Konflikt“ usw. gewisse revolutionäre Zwangsvorstellungen erwecken. Man kann es nicht anders deuten, wenn dieser eine Redner von den Massenstreiks im Rheinland eine Verschärfung des Konfliktes Deutschlands mit der Entente errechnet. Die Probe aufs Exempel ist inzwischen gemacht. In Düsseldorf sind die Arbeiter in Streik getreten, und dieser Streik hat die französisch-deutschen Beziehungen so verschärft, daß die Düsseldorfer französische Besatzungsbehörde schleunigst – der Sipo [4] die Gewehre zurückgab, auf daß sie den Streik niederschlage.

Und eine zweite „Verschärfung“ wird in der Presse vom 4. April berichtet. Es kommt da die Meldung aus Moers:

„Offenbar auf höhere Weisung hat am Sonntag belgisches Militär zum Schutze der nichtkommunistischen Einwohner eingegriffen und hat, da sich die Kommunisten zur Wehr setzten, von der Waffe Gebrauch gemacht. Den belgischen Truppen gelang es, die Ruhe wieder herzustellen. Bei den Kämpfen mit den Kommunisten wurden drei Aufrührer getötet und 27 verwundet. Die Belgier nahmen viele Verhaftungen vor. Da die Kommunisten versuchten, ihre Genossen zu befreien, die Belgier weiter beschossen und mit Steinen bewarfen, erwiderten die Belgier das Feuer. Truppenverstärkungen nach Moers sind unterwegs. Die Schächte wurden von belgischen Soldaten besetzt.“

So sieht die „Verschärfung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Entente“ aus, und wenn sich der Redner der Zentrale überhaupt bei seinen Reden etwas gedacht hat, muß er gerade erwarten, daß die deutsche Regierung wegen der Erschießung deutscher Kommunisten gegen die Entente vom Leder ziehen werde.

Im übrigen aber erkennen diese Bezwinger des Geschicks der deutschen Kommunistischen Partei und der deutschen Revolution wenigstens an, daß eine Kampfsituation sein muß, d. h. eine Situation, in der die Massen begreifen, daß sie kämpfen müssen und dessen willig sind. Die „neue Taktik“, der „Bruch mit der Vergangenheit“ besteht nun darin, daß man solche Situationen schaffen könne. Das ist nun an sich nichts Neues. Die Auffassung haben auch wir immer vertreten: eine politische Partei kann und eine kommunistische Partei muß durch Klarheit und Entschiedenheit des Auftretens, durch Schärfe und Kühnheit der Agitation und Propaganda, durch geistigen und organisatorischen Einfluß, den sie auf die Massen gewinnt: kurz, sie muß durch politische Mittel Kampfsituationen schaffen. Das Neuartige, das den Bruch mit der Vergangenheit der KPD allerdings bedeutet, ist die Auffassung, man könne diese Kampfsituation auch schaffen durch unpolitische Mittel, durch Polizeispitzelmanieren, durch Provokation. Wie das mit der Provokation gemeint ist, hat ein anderer verantwortlicher Parteigenosse in einer anderen Sitzung enthüllt, die während der Aktion stattfand. Er sagte:

„Wir sind der Meinung, daß bei einer intensiven Propagandatätigkeit die Ruhe, mit der sich die Sipo bisher bewegte, verlorengehen wird und so die Arbeiterschaft gereizt wird, die heute in unserem Kampf nicht erfaßt wird.“

Und der gleiche Redner sagte späterhin – das war am 30. März, als die Aktion schon längst verloren war:

„Wir müssen versuchen, einen geschickten Rückzug anzutreten, Konflikte erzeugen, die Sipo reizen, alle konterrevolutionären Elemente zu reizen. Wenn es uns gelingt, mit diesen Mitteln die Bewegung zu erzeugen (! der Verfasser), wird es zu Zusammenstößen kommen ...“

Das freilich ist in der Geschichte der Partei, die Rosa Luxemburg gegründet hat, neuartig; es ist ein völliger Bruch mit der Vergangenheit, daß die Kommunisten arbeiten sollen wie Achtgroschenjungen, daß sie den Mord ihrer Brüder provozieren sollen. Man erspare uns den Beweis, daß diese letzte Deutung nicht zu weit geht und das, das wiederholen wir, war die neue theoretische Grundlage, auf der das Spiel begann. Die Aktion begann. Es ist der Zentrale zunächst erspart geblieben, die neuerworbene theoretische Grundlage in die Praxis umzusetzen. Hörsing kam ihr zuvor. Er rückte ins Mansfeldische ein und hatte damit bereits einen Erfolg für sich: den geeigneten Zeitpunkt. Mit der Gerissenheit eines alten Gewerkschaftsbürokraten suchte er sich die Woche aus, die Ostern voranging, wohl wissend, was die viertägige Schließung der Betriebe von Karfreitag bis Ostermontag bedeutet. Damit war die Zentrale schon von vornherein die Gefangene ihrer eigenen „Parolen“ geworden. Sie konnte diese Hörsingsche Provokation gar nicht mehr entsprechend der Lage ausnützen. Die mansfeldischen Arbeiter schlugen los. Ein Mitglied der Zentrale hat in einer Sitzung, die späterhin stattfand, gesagt:

„Unsere Genossen im Mansfeldischen haben die Parole der Zentrale etwas zu forsch aufgefaßt und nicht so befolgt wie sie war. Im Mansfeldischen lag keine Fabrikbesetzung vor, sondern ein Einmarsch.“

Diese Darstellung ist nichts anderes als eine Verleumdung der kämpfenden Genossen. Wenn eine Parole ausgegeben war gegen die Fabrikbesetzung, dann kann ein vernünftiger Mensch, er sei denn gerade Mitglied der Zentrale der VKPD, annehmen, daß sie nicht gelten solle bei den sichtbaren Vorbereitungen zur Fabrikbesetzung, dem Einmarsch. Und die Genossen im Mansfeldischen haben auch entsprechend den Parolen der Zentrale gehandelt, als sie zur Waffe griffen. Auch das scheint in dem oben angeführten Satz bestritten werden zu sollen. Dann liegt der – nicht erste – Fall vor, wo die Zentrale gar nicht weiß und erst später merkt, welche Parole sie ausgegeben hat. Am 18. März begann die Rote Fahne mit den Aufrufen zur Bewaffnung.

„Ein jeder Arbeiter pfeift auf das Gesetz und erwirbt sich eine Waffe, wo er sie findet!“

Mit diesem, für eine Massenaktion seltsamen Text läutete die Rote Fahne die Bewegung ein, und sie hat diesen Ton beibehalten. Am 19. März schrieb die Rote Fahne:

„Die Orgesch-Bande [5] trumpft auf mit dem Schwert. Sie führt die Sprache der offenen Gewalt. Die deutschen Arbeiter wären Hundsfötter, wenn sie nicht den Mut und die Kraft fänden, den Orgesch-Banden in ihrer klaren Sprache zu antworten.“

Am 20. März schrieb die Rote Fahne:

„Das Beispiel der Arbeiter im Bezirk Halle, die auf die Herausforderung Hörsings mit dem Streik antworten werden, muß nachgeahmt werden. Die Arbeiterschaft muß sich sogleich wappnen, um dem Feind gerüstet gegenüberzustehen. Die Waffen in die Hand der Arbeiter.“

Am 21. März schrieb die Rote Fahne:

„Nur das Proletariat kann die schändlichen Absichten der Orgesch-Banden zuschanden machen. Es kann dies nur tun, wenn es sich einig zusammenschließt zur Aktion, wenn es den sozialverräterischen Schwätzern den Laufpaß gibt und die Gegenrevolution schlägt wie sie allein geschlagen werden kann, mit der Waffe in der Hand!“

Gleichzeitig geht durch die Organisation die „neue Theorie“ samt dem Aufruf zur Aktivität und samt der Erklärung, loszuschlagen, sobald es geht, und sei es auch nur dank einer Provokation. In dieser Situation faßten die mansfeldischen Arbeiter die Parole so auf, wie sie auf jeden vernünftigen Menschen wirken muß. Es ist eine feige Verleumdung von toten Helden, die im guten Glauben gefallen sind, wenn jetzt diese selben mansfeldischen Arbeiter als die „Disziplinbrecher" hingestellt werden. Kein Mensch konnte denken, daß, wenn die Rote Fahne zu den Waffen rief, damit gemeint sei, die Waffen vorläufig hinter den Ofen zu stellen. Es konnte auch nicht jeder Arbeiter ohne weiteres das Gerede von der Waffe so auffassen wie es der Inseratenchef der Roten Fahne in der Nummer vom 24. März 1921 (Nr. 139 Beilage) tat:

Waffen der Kommunisten
bestehen im gegenwärtigen Augenblick nicht zuletzt in ihrer Parteipresse, die schonungslos das Geschwür des Kapitalismus aufsticht. Es ist die Pflicht eines jeden Kommunisten an dieser
Waffenverteilung
mitzuwirken und neue Mitkämpfer zu gewinnen. Werbt daher unermüdlich an der Arbeitsstätte und im Freundeskreis für die Parteipresse, damit
die Rote Armee
der proletarischen Kämpfer täglich neue Rekruten erhält!

Und so entbrannte der Aufstand im Mansfeldischen in der ungünstigsten Woche, in einer politisch völlig unmöglichen Situation, in der Defensive vom ersten Tage an, ohne jede organisatorische Vorbereitung, dank der Spielerei mit dem Aufstand, die man in der Zentrale getrieben hatte.

Es hatte offenbar kein Mitglied der Zentrale und auch nicht der „beste Marxist Westeuropas“ [6] die Worte von Marx gelesen oder beherzigt:

„Nun ist der Aufstand eine Kunst ebenso wie der Krieg oder andere Künste und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht. Diese Regeln, logische Folgerungen aus dem Wesen der Parteien und der Verhältnisse, mit denen man in solchem Falle zu rechnen hat, sind so klar und einfach, daß die kurze Erfahrung von 1848 die Deutschen mit ihnen ziemlich bekannt gemacht hat. Erstens darf man nie mit dem Ausstand spielen, wenn man nicht entschlossen ist, allen Konsequenzen des Spieles Trotz zu bieten. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich für jeden Tag ändern kann: die Streitkräfte, gegen die man zu kämpfen hat, haben den Vorteil der Organisation, Disziplin und der herkömmlichen Autorität ganz auf ihrer Seite; kann man nicht große Kräfte dagegen aufbringen, so wird man geschlagen und vernichtet. Zweitens: ist der Aufstand einmal begonnen, dann handele man mit der größten Entschiedenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jeder bewaffneten Erhebung; diese ist verloren, ehe sie sich noch mit dem Feinde gemessen hat.“ (Marx, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Aufl. 1919, S. 117)

Nun war das Geschick im Lauf. Vom Mansfeldischen sprang der Funke nach Hamburg über. Dort gab es sofort reichlich Tote, und wir können uns kein Urteil erlauben, ob dort die „neue Theorie“ auf fruchtbaren Boden gefallen war. Jedenfalls waren die Hamburger Genossen naiv genug gewesen zu glauben, eine Parteizentrale, die mit dem Aufstand herumfackle, wisse, was sie tue, und zu glauben, die Zentrale wolle, was sie sage. Sie gingen also „aufs Ganze“. Man sandte ihnen einen expressen Boten, der „bremsen“ sollte. Als der Expresse gebremst hatte, fand man, daß er zuviel gebremst hatte. Man sandte einen anderen Expressen, der die Bremsung bremsen sollte. Als aber der zweite Expresse kam, war die Hamburger Bewegung schon gebrochen. Und damit war die Gesamt„aktion“ im wesentlichen bereits am Ende ihrer Kräfte. Die „Aktion“, die entstanden war in einem Kopf, der zudem keinen blassen Schimmer hat von deutschen Verhältnissen, und die politisch vorbereitet und geführt war von unpolitischen Kindsköpfen, hatte die Kommunisten allein gelassen.

Es ist nun das natürlichste von der Welt – um eines vorwegzunehmen –, daß die Feldherren dieses Putsches anderswo als bei sich die Schuld suchen werden. In der Tat hat bereits das Geschrei begonnen von den „Saboteuren“, den „Miesmachern“, den „Defaitisten“ in der eigenen Partei. Die Herrschaften, die diesen Versuch unternehmen, gleichen darin völlig Ludendorff, mit dem wir auch sonst noch wesensverwandte Züge finden werden; sie gleichen Ludendorff nicht nur in der faulen Ausrede, die sie erfinden, um ändern die Schuld zu geben, sie gleichen ihm auch in dem Grundirrtum, den er begangen hat. Ludendorff war einer der Leute aus der Schule, die glaubten, man mache Kriege „mit den Prinzipien des Generalstabs oben und dem Kadavergehorsam unten“. Das mag in einem gewissen Zeitalter richtig gewesen sein. Zu Zeiten des Alten Fritz und der Potsdamer Wachtparade war es völlig genügend, wenn unten, in blindem Gehorsam, die Beine zu Karrees aufmarschierten und oben der Wille des Königs lenkte. Im Zeitalter der großen Armeen, der Volksheere, der Massenarmeen genügte das nicht mehr. Der „moralische Faktor“ erforderte mehr und mehr sein Recht. Große Armeen sind nicht nur ein militärisches, sie sind auch ein politisches Instrument. Sie hängen mit tausend Fäden an den nichtuniformierten Massen; unsichtbar geht zwischen diesen und jenen ein Austausch des Wollens, des Fühlens, des Denkens vor sich: der Feldherr, der nicht versteht, in diesem Sinn eine Armee politisch zu führen, verdirbt damit die beste Armee – so wie Ludendorff es getan.

Nicht anders aber ist es mit politischen Parteien. Für einen anarchistischen Klub genügt es vollkommen, wenn der Wille des Führers befiehlt und der Todesmut der Gläubigen gehorcht. Für eine Massenpartei, die nicht nur Massen in Bewegung setzen will, sondern auch selbst Masse ist, genügt das nicht. Was von den Kommunisten erwartet werden muß, das ist, daß sie Kampfsituationen rasch erspähen, energisch ausnützen und jederzeit über das Kampfziel hinweg auf das Endziel weisen. Aber kein Kommunist ist kraft der Aufnahme in die Kommunistische Partei und der Übernahme des Mitgliedsbuches verpflichtet oder auch nur befähigt, eine Kampfsituation zu ersehen, wo keine ist und wo nur der Wille der Zentrale in einem unsichtbaren und geheimen Konventikel und aus anderen Gründen als denen, die den Proletariern vor Augen liegen, beschließt: eine Kampfsituation bestehe. Die Zentrale hat damit noch nicht einmal die simple Kunst jenes Indianerhäuptlings gezeigt, der, um seine Allmacht zu erweisen, jeden Morgen von Sonnenaufgang vor sein Zelt trat und sagte: Sonne, geh du den Weg, den ich dir weise. Er deutete dabei mit der Hand von Osten nach Westen. Die Zentrale, von denselben Allmachtsgefühlen beseelt, deutete aus Versehen mir der Hand von Westen nach Osten. Sie hat damit das Grundgesetz verletzt, nach dem eine Massenpartei überhaupt nur bewegt werden kann; nur eigener Wille, eigene Einsicht, eigene Entschlossenheit der Massen kann sie bewegen; auf Grund dieser Voraussetzungen kann eine gute Führung – führen. Die Zentrale hat aber auch die Bedingungen nicht erkannt, unter denen eine Massenpartei, die Masse unter Massen ist, die im persönlichen, im beruflichen Verkehr in den Betrieben, in den Gewerkschaften, überall mit den Proletariern zusammenhängt, die von da dem bestärkenden und beflügelnden Einfluß der Sympathie, dem lähmenden der Antipathie oder Feindschaft unterliegt, Überhaupt nur kämpfen kann und damit kommen wir zurück zu der Frage: wie muß das Verhältnis der Kommunisten zu den Massen in einer Aktion sein? Eine Aktion, die lediglich dem politischen Bedürfnis der Kommunistischen Partei und nicht dem subjektiven Bedürfnis der proletarischen Masse entspricht, ist verfehlt an sich. Die Kommunisten haben nicht die Möglichkeit und zumal nicht, solange sie eine solche Minderheit im Proletariat sind, die Aktion an Stelle des Proletariates, ohne das Proletariat, am Ende gar gegen das Proletariat zu machen. Sie können nichts anderes, als vermöge der oben erwähnten politischen Mittel Situationen schaffen, in denen das Proletariat die Notwendigkeit des Kampfes sieht, kämpft, und in den Kämpfen können dann die Kommunisten durch ihre Parolen das Proletariat führen.

Wie aber dachte sich die Zentrale das Verhältnis der Kommunisten zu den Massen? Wie schon oben angeführt, dachte sie zunächst, man könne die Situation auch mit nichtpolitischen Mitteln scharfen. Nun hatte sie ihre Toten. In Hamburg und im Mansfeldischen lagen sie. Aber die Situation war von Anfang an so ohne jede Voraussetzung für eine Aktion, daß nicht einmal die Toten die Massen m Bewegung zu bringen vermochten. Man hatte aber noch ein anderes Mittel bereit. In Nr. 133 der Roten Fahne vom Sonntag, dem 20. März, steht ein Artikel mit der Überschrift:

„Wer nicht für mich ist, der ist wider mich! Ein Wort an die sozialdemokratischen und unabhängigen Arbeiter.“

Im Artikel ist zwar nur das „für mich“, erörtert und lediglich am Schluß den Arbeitern gesagt, unter welchen Bedingungen sie „mittun dürfen“. Es heißt da:

„Unabhängige und sozialdemokratische Arbeiter! Euch strecken wir brüderlich die Hand entgegen. Aber wir sagen euch auch, wenn ihr mit uns kämpfen wollt, so müßt ihr ebenso hart wie die Kapitalisten die treffen, die in euren Reihen die Sache der Kapitalisten führen, die mit der Orgeschbande ins Feld ziehen gegen euch Arbeiter und auch die feigen Memmen, die euch einschläfern und entmutigen, wo euch Orgesch die Schwertspitze auf die Brust setzt.“

Man denke sich: für die unabhängigen und sozialdemokratischen Arbeiter lag m dieser Situation kein Grund zu einer Aktion vor. Der geniale Kopf, der die Aktion ersonnen, war ihnen unbekannt, ein Beschluß der Kommunistischen Partei war für sie kein Ereignis, das sie, ohne daß sie eine Begründung kannten, in eine Aktion riß, und wir vermuten: hätten sie die Begründung gekannt, so würde ihr Wille zur Aktion nicht größer geworden sein. Man verstehe: diesen Arbeitern, die der Aktion völlig verständnislos gegenüberstanden, stellt man als Bedingungen dafür, daß sie mitmachen dürfen, die, daß sie möglichst ihre bisherigen Führer an die Laterne knüpfen. Und für den Fall, daß sie sich dieser Bedingung nicht willig fügen, wird ihnen die Alternative gestellt: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!“ Eine Kriegserklärung für vier Fünftel der deutschen Arbeiter zu Beginn der Aktion!

Wir wissen nicht, ob der Verfasser jenes Artikels erfahren genug ist, um zu wissen, daß er mit diesem Artikel einen Vorgänger hat. Dieser Vorgänger freilich besaß wenigstens die Bescheidenheit zu sagen: „Wer nicht für uns ist, der ist wider uns.“ Er war nun freilich kein Marxist, er war kein Sozialist; er hieß – Bakunin, der russische Anarchist, der im Jahre 1870 einen Aufruf an die russischen Offiziere unter dieser Alternative richtete. Der Artikelschreiber der Roten Fahne mag in Marx und Engels Schrift: Die Allianz der sozialistischen Demokratie und die internationale Arbeiterassoziation Marx’ Urteil darüber und einiges andere Zeitgemäße nachlesen. Wobei überhaupt bemerkt werden muß, daß die ganze Einstellung zu den revolutionären Klassen unter den Gesichtspunkt: „Wer nicht für ist, der ist gegen“ die dem Anarchismus eigentümliche ist, daß der Satz: „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns“ geradezu das Lieblingswort sowohl Bakunins [7] als seines Schülers Netschajev ist, und daß nur aus dieser Gesamteinstellung sich die ganzen Methoden ergeben, die der Anarchismus anwendet – nicht um die Konterrevolution zu besiegen, sondern, um mit einem Mitglied der Zentrale der VKPD zu sprechen, „um die Revolution zu zwingen“. Der Kommunismus ist nie und nimmer gegen die Arbeiterklasse. Aus dieser Bakunistischen, allem Marxistischen Hohn sprechenden Grundeinstellung der Aktion, diesem völligen Verkennen, der völligen Verleugnung aller marxistischen Stellung der Kommunisten zu den Massen, ergeben sich dann alle folgenden, bewußten oder unbewußten, gewollten oder ungewollten, gezwungenen oder freiwilligen, bereuten oder nicht bereuten anarchistischen Wesenszüge dieses Märzaufstandes ganz von selbst: der Kampf der Arbeitslosen gegen die Arbeitenden, der Kampf der Kommunisten gegen die Proletarier, das Hervortreten des Lumpenproletariates, die Dynamitattentate – das alles waren die logischen Folgen. Durch das alles wird die Märzbewegung als das charakterisiert, was sie ist: der größte Bakunisten-Putsch der bisherigen Geschichte.

Also: die Kriegserklärung an die Arbeiterschaft war da. Die Zentrale scheint auch das nicht bemerkt zu haben. Denn ein oben erwähntes Mitglied der Zentrale gab auch für diese „falsche Einleitung“ der Bewegung – den mansfeldischen Arbeitern die Schuld. Und für das, was nun geschah, gibt es kein Wort der Bezeichnung. Das Wort Blanquismus auf diese Aktion anzuwenden, wäre eine Schändung von Blanqui. [8] Denn auch Blanqui war immerhin nur der – von Marx wie Engels in jedem Teil gemißbilligten – Auffassung: „daß Revolutionen überhaupt sich nicht selbst machen, sondern gemacht werden; daß sie gemacht werden von einer verhältnismäßig geringen Minderzahl“, und daß diese Minderheit die Mehrheit durch ihr Beispiel mit fortreißt. In der Roten Fahne aber, unter der Autorität der Zentrale der VKPD, erklärt ein Artikelschreiber zu Beginn der Aktion den Arbeitern den Krieg, um sie dann zur Aktion zu prügeln. Und der Krieg begann. Die Arbeitslosen wurden als Sturmkolonnen voran geschickt. Sie besetzten die Tore der Fabriken. Sie drangen in die Betriebe ein, löschten hier und da die Feuer und versuchten, die Arbeiter aus den Betrieben herauszuprügeln. Es kam zum offenen Krieg der Kommunisten gegen die Arbeiter. Aus dem Moerser Bezirk kam folgende Nachricht:

„Auf der Kruppschen Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen ist es am Donnerstagmorgen zu heftigen Kämpfen gekommen zwischen Kommunisten, die das Werk besetzt hielten, und Arbeitern, die zur Arbeit wollten. Die Arbeiter gingen schließlich mit Knüppeln auf die Kommunisten los und erzwangen sich den Zutritt zur Arbeitsstelle mit Gewalt. Dabei gab es acht Verwundete. In die Schlägerei griffen schließlich belgische Soldaten ein, die die Kämpfenden auseinanderbrachten und 20 Kommunisten verhafteten. Die aus den Betrieben herausgeworfenen Kommunisten kehrten später mit Verstärkung zurück und besetzten erneut das Werk.“

Noch erschütterndere Berichte werden aus Berlin gegeben. Es sei, so sagt man uns, ein entsetzlicher Anblick gewesen, wie die Arbeitslosen, laut weinend vor Schmerz über die Prügel, die sie empfangen, aus den Betrieben hinausgeworfen wurden, und wie sie denen fluchten, die sie dahin gesandt. Freilich, als es dann zu spät war, als der Krieg der Kommunisten gegen die Arbeiter schon begonnen und für die Kommunisten schon verloren war, kam auch die Rote Fahne plötzlich mit guten Lehren. Am 26. März setzte offenbar ein anderer Redakteur der Roten Fahne als der, der den Artikel „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich“ in Druck gegeben hatte, Mahnungen in die Zeitung: kein Kampf von Arbeitern gegen Arbeiter! Dieser Pontius Pilatus wusch seine Hände in Unschuld.

Aber nicht genug damit. Waren nicht schon Arbeitslose genug da, so schuf man neue. Die Kommunisten in den Betrieben waren in der schweren Lage, zu entscheiden, ob sie aus den Betrieben herausgehen sollten, in denen sie die Minderheit waren, in denen also ihr Streik keine Stillegung, oft nicht einmal eine Behinderung bedeutete. Die Zentrale will die Anweisung gegeben haben, dieses Falles in den Betrieben zu bleiben. Der Berliner Sekretär will dasselbe getan haben, aber es liegt ein Schreiben der Berliner Organisation vorn 29. März vor, in dem es heißt: „Unter keinen Umständen darf ein Kommunist, auch wenn er Minderheit ist, zur Arbeit schreiten.“ Die Kommunisten gingen heraus aus den Betrieben. In Trupps von 200, 300 Mann, oft mehr, oft weniger, gingen sie aus den Betrieben: der Betrieb ging weiter; sie sind heute arbeitslos, die Unternehmer haben die Gelegenheit benutzt, die Betriebe „kommunistenrein“ zu machen in einem Falle, in dem sie selbst ein groß Teil der Arbeiter auf ihrer Seite hatten. Kurzum, die „Aktion“, die begann mit der Kriegserklärung der Kommunisten gegen das Proletariat und der Arbeitslosen gegen die Arbeiter, war verloren vom ersten Augenblick an und in einer Aktion, die so beginnt, können die Kommunisten nie und nimmer irgend etwas, auch nur moralische Werte, gewinnen.

Die Zentrale hatte zu entscheiden, was weiter geschah. Sie entschied sich für „Steigerung der Aktion“. Die Aktion, die irrsinnig begonnen war, in der kein Mensch wußte, worum man eigentlich kämpfe, in der die Zentrale – offenbar weil ihr nichts anders einfiel und weil sie den Kniff für furchtbar klug hielt – zurückgriff auf die Gewerkschaftsforderungen aus dem Kapp-Putsch (!), die Aktion, die Narretei sollte gesteigert werden. Sie war steigerungsfähig. Zu den Toten im Mansfeldischen und Hamburg kamen die Toten in Halle. Auch sie brachten nicht die „Stimmung“. Nach den Toten in Halle kamen die Toten in Essen. Aber die „Stimmung“ blieb aus. Nach den Toten in Essen kamen die Toten in Mannheim. Aber noch immer keine „Stimmung“. Man wird nervös in der Zentrale wegen des Ausbleibens der Stimmung. In dieser Situation dann am 30. März sprach jenes Zentralmitglied jenen Stoßseufzer aus, daß doch vielleicht in Berlin die Sipo „die Ruhe verlieren“ möge, damit die Arbeiterschaft „gereizt“ werde.

Und daneben wurde die Arbeiterschaft, die „gereizt“ werden sollte, in der Roten Fahne weiter „behandelt“. Am selben 30. März 1921 schrieb dieses Blatt folgendes:

„Wir sagen den unabhängigen und mehrheitssozialistischen Arbeitern mit aller Deutlichkeit: nicht nur auf das Haupt eurer Führer, auf das Haupt jedes einzelnen von euch kommt die Blutschuld, wenn ihr stillschweigend oder auch nur unter lahmen Protesten duldet, daß die Ebert, Severing, Hörsing den weißen Schrecken und die weiße Justiz gegen die Arbeiter loslassen, daß sie dem gesamten Proletariat vorankämpfen ...

Die Freiheit fordert eine Intervention der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Parteien. Wir spucken auf eine Intervention der Schurken, die selbst den weißen Schrecken der Bourgeoisie entfesselt haben, die selbst für die Bourgeoisie das Henkerswerk ausüben ... Schmach und Schande über den Arbeiter, der jetzt noch beiseite steht, Schmach und Schande über den Arbeiter, der jetzt noch nicht weiß, wo sein Platz ist.“

Das war freilich ein „vollkommener Bruch mit der Vergangenheit“ der Kommunistischen Partei, auf diese Weise die Arbeiter zu „reizen“, in die Aktion zu treten. Das war freilich nichts mehr: nichts vom Geiste von Karl Liebknecht geschweige denn von Rosa Luxemburg, und darum konnte es auch füglich unterbleiben, daß in der Nummer der Roten Fahne vom 26. März (Kampfruf Nr. 1) ein – man verzeihe mir dieses eine harte Wort; doch ich verteidige das Andenken Toter, die sich nicht wehren können – ein Schandbube schrieb: „Der Geist Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs marschiert an der Spitze des revolutionären Proletariats Deutschlands.“ Man hatte genug frischer Leichen zum „reizen“; man konnte die alten in Frieden lassen.

Und was nun folgte, war ein erschütterndes Schauspiel. Die Zentrale „steigerte die Aktion“. Fähnlein um Fähnlein erhob sich. Da war kein Unterschied zwischen „Altkommunisten“ und „Neukommunisten“, über die die ganz Gesalbten noch immer die Nase rümpfen. Mit Heldenmut und Todesverachtung ohnegleichen standen die Genossen auf. In den Städtchen und Dörfern Mitteldeutschlands, im Leunawerk, in den kleinen und großen Fabriken: Fähnlein um Fähnlein trat an zum Sturm – wie es die Zentrale gebot. Fähnlein um Fähnlein ging vor in den Kampf – wie es die Zentrale gebot. Fähnlein um Fähnlein ging in den Tod – wie es die Zentrale gebot. Ave morituri te salutant! Da ward nicht einmal, da ward dutzende Male in Mitteldeutschland das Geschick der dreihundert Spartaner unter Leonidas erfüllt. Dutzende und Hunderte von mallosen Gräbern in Mitteldeutschland sprechen heute zum Wanderer, der vorübergeht: „Verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl!“

Und die Zentrale? Sie saß in Berlin und „steigerte die Aktion“. Seit Tagen bereits vor Abbruch der Aktion stand in einer Sitzung der Zentrale das Stimmenverhältnis der anwesenden Mitglieder auf fünf zu drei für Abbruch der Aktion. Aber es zeigte sich auch hier: in die Grube der „Schlappheit“, des „Opportunismus“, der „Inaktivität“, die sie anderen gegraben, fielen sie nun selbst. Gegenüber der Minorität von drei Stimmen, die für „Durchhalten“ waren, wagten die fünf nicht, ihre Meinung durchzudrücken, um nicht in den Geruch mangelnden revolutionären Willens zu kommen. Drei vage „Berichte“ aus drei Bezirken, daß wahrscheinlich „etwas losgehe“, daß die Landarbeiter in Ostpreußen sich „rühren“, genügten. Und so gingen von neuem die Boten hinaus, um „die Aktion zu steigern“. Und was waren die Gründe jener drei Unentwegten? Wir wissen nicht, ob alle drei ihn teilten, aber einer äußerte als Grund, man müsse jetzt, nachdem die Aktion verloren sei, sie noch so weit treiben, daß, man nach Abbruch sich wenigstens nicht auch noch nach „links“, sondern nur nach „rechts“ zu verteidigen brauche.

Was soll man dazu sagen? Da verblaßt auch der Name Ludendorff. Der schickte, die Niederlage sicher vor Augen, Klassenfremde, Klassenfeinde in den Tod. Die aber schickten ihr eigen Fleisch und Blut zum Sterben für eine Sache, die sie selbst schon als verloren erkannt, zum Sterben, damit ihre, der Zentrale Position, nicht gefährdet werde. Wir wünschen den Genossen, mit denen wir selbst lange frohe und trübe Zeit durchlebt haben, keine Buße für das, was sie getan; nur eine Kasteiung mögen sie sich auferlegen, um ihrer selbst und um der Partei willen, in deren Nutzen zu handeln sie wohl glaubten, und das ist: deutschen Arbeitern nie mehr unter die Augen treten.

Es hätte also müssen mit dem Teufel zugehen, wenn in diesem anarchistischen Hexensabbat, den die Zentrale der VKPD aufgespielt hat, nicht auch das Element mit aufgetreten wäre, das schon die Lieblingsgarde Bakunins, des Erfinders solcher Sorte von „Revolution“ gewesen war: das Lumpenproletariat. Wobei wir zunächst eines vorausschicken. Wir nehmen – ohne, aber auch nach den vorliegenden Versicherungen – an, daß die Kommunistische Partei und ihre Zentrale weder offiziell noch inoffiziell mit den Dynamitattentaten der vergangenen Zeit etwas zu tun hat. Die Parteizentrale wird aber nicht umhin können, diese Dinge öffentlich zu desavouieren, politisch zu ihnen Stellung zu nehmen, sie abzulehnen, von wem auch immer sie ausgegangen sein mögen. Sie ist dazu um so eher gezwungen, als, nachdem einmal der „vollkommene Bruch mit der Vergangenheit“ vollzogen ist, die Selbstverständlichkeit, die früher über solche Dinge bestand, nach dem oben Ausgeführten nicht mehr besteht. Was aber das Lumpenproletariat angeht, so müssen wir bemerken, daß die Liebe dafür bereits über die engere Schule Bakunins hinausgegangen ist. Wir haben bereits vor einigen Monaten lediglich mit einem Worte von Engels auf das Lumpenproletariat und auf die Gefahr einer Verbindung der Kommunisten mit dem Lumpenproletariat hingewiesen. Diese Warnung hat es einigen Genossen angetan. Der Genosse Frölich [9] in der Hamburger Volkszeitung versuchte auf den Busch zu klopfen, ob er gleich genau wußte, welcher Hase dahinter saß. Der Genosse Frölich hat unterdessen Sukkurs bekommen. In einem Artikel des Genossen Radek, der bis jetzt noch nicht erschienen ist und von dem wir auch nicht wissen, ob sein Verfasser die Veröffentlichung noch wünscht, steht zu lesen:

„Mit seinem revolutionären Instinkt fühlte Genosse Frölich sofort, daß es sich hier um irgend etwas Faules handle. Es handelte sich um nicht mehr und um nicht weniger als die Tatsache, daß bei dem rapiden Verfall des Kapitalismus und der langsamen Entwicklung der Revolution immer größere proletarische Massen in die Reihen der Arbeitslosen hineingedrängt werden und hier verelenden und verlumpen. Wer jetzt nach alter sozialdemokratischer Manier seine theoretische Nase über dieses „Lumpenproletariat“ zu rümpfen beginnt, der wird diese Massen niemals zur revolutionären Aktion zu mobilisieren verstehen.“

Also, wohl gemerkt: das „Faule“, das der Genosse Frölich „mit revolutionärem Instinkt“ fühlte, war nicht das Lumpenproletariat, sondern die Warnung vor einer Verbindung damit. Und nun erlaube der Genosse Radek mir, der ich selbst ein armer und irrender Mensch, „selbst der klaren Einsicht bar und in Entwicklung begriffen“ zudem ein „revolutionärer Erfolgspolitiker“ bin, ihm, dem großen Marxisten aus meinem schwachen Verstande heraus einige Bemerkungen zu machen. Genosse Radek redet von „theoretischem Naserümpfen“ über das Lumpenproletariat „nach alter sozialdemokratischer Manier“. Die Manier ist freilich schon sehr alt. Die Manier hat bereits begonnen in der ersten „sozialdemokratischen“ Schrift, die es gibt – im Kommunistischen Manifest. Dort heißt es:

„Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert; seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben kaufen zu lassen.“

Man sieht also: das „theoretische Naserümpfen“ begann schon Marx und leidlich früh. Der geistige Stammvater dieses vergangenen Kommunistenaufstandes, Michael Bakunin, war darüber anderer Meinung. In der oben erwähnten Schrift von Marx und Engels wird folgende Ausführung Bakunins zitiert:

„Das Räubertum ist eine der ehrenvollsten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Verteidiger, der Rächer des Volkes, der unversöhnliche Feind des Staates und jeder durch diesen begründeten sozialen und zivilen Ordnung, der auf Leben und Tod jede Zivilisation der Beamten, der Vornehmen, der Priester und der Krone bekämpft... Wer das Räubertum nicht begreift, wird auch nichts von der russischen Volksgeschichte begreifen. Wem es nicht sympathisch ist, kann keine Freude am Volksleben haben und hat kein Herz für die Jahrhunderte alten und unermeßlichen Leiden des Volkes; er gehört ins feindliche Lager, zu den Parteigängern des Staates ... Die in den Wäldern, Städten und Dörfern ganz Rußlands verstreuten und die in den zahllosen Gefängnissen des Reiches festgehaltenen Räuber bilden eine einheitliche und unteilbare, stark verbundene Welt, die Welt der russischen Revolution. In ihr, in ihr allein lebt seit langem die wirklich revolutionäre Verschwörung.“

Man sieht, ich muß dem Genossen Radek dankbar sein. Während er mich nur mit „theoretischem Naserümpfen“ und „jeder Einsicht bar“ abstraft, ging sein Herr und Meister, Bakunin, mit denen nicht so glimpflich um, die seiner Räubereroika nicht lauschen wollten. Er erklärte sie für „ins feindliche Lager gehörig“, für „Parteigänger des Staates“. Marx und Engels ertrugen das Geschick, von Bakunin für „Parteigänger des Staates“ erklärt zu werden, also werde auch ich mein Schicksal tragen müssen; denn vorläufig vermögen auch die Gründe Radeks mich ebensowenig zu überzeugen, wie Bakunin Marx und Engels zu überzeugen vermochte.

Was sind die Radekschen Gründe? Im Lumpenproletariat sieht der Genosse Radek „die immer größer werdenden Massen, die in die Reihe der Arbeitslosen hineingedrängt werden“. Davon kann gar keine Rede sein. Die Arbeitslosigkeit ist weder überhaupt, noch ihrem Umfang, höchstens ihrer Dauer nach für den Kapitalismus etwas Neues. Sie ist der stetige Schatten, der den Kapitalismus begleitet. Es hat noch nie ein Mensch daran gedacht, die „industrielle Reservearmee“ mit dem Lumpenproletariat zu identifizieren. Die Lumpenproletarier sind klassenlos, Verfaulungsprodukte aus allen möglichen Klassen und Schichten. Die Arbeitslosen, eben weil ihre Arbeitslosigkeit eine stetige und notwendige Folge ihrer ökonomischen Lage als Verkäufer von Arbeitskraft ist, sind Angehörige der Klasse der Verkäufer von Arbeitskraft, der Proletarier. Sie nehmen teil und müssen teilnehmen am Klassenleben ihrer Klasse. Durch die Bande der Gewerkschaften, der Genossenschaften, der politischen Organisationen und – vor allem – der politischen Betätigung müssen die Arbeitslosen Proletarier sein und bleiben. Gewiß ist, daß die Dauer der Arbeitslosigkeit einzelne Individuen aus der Schicht der Arbeitslosen deklassiert und ins Lumpenproletariat hinabstößt. Dem Prozeß leistet aber gerade der Vorschub, der jene Bande zwischen Arbeitslosen und ihren arbeitenden Klassengenossen, wer vor allem das Band gemeinschaftlicher politischer Betätigung von Arbeitenden und Arbeitslosen zerschneidet. Und das ist geschehen. Nicht nur dadurch, daß man die Arbeitslosen als Sturmkolonne gegen die Arbeitenden schickte. Auch dadurch, daß man die durch Hunger und Elend zermürbten Arbeitslosen zu Methoden mißbrauchte, die sonst dem Lumpenproletariat eigentümlich sind, deklassiert man sie und wirft sie mit Gewalt (und mit schlimmeren Mitteln als Gewalt) in die Reihe des Lumpenproletariates.

Aber, so wird man sagen, wo doch die Kommunisten, wie wir schon oben gesehen haben, sich mit allen anderen revolutionären Klassen verbinden, warum nicht auch mit den Lumpenproletariern? Darauf ist die Antwort sehr einfach. Die anderen Klassen, mit denen sich die Kommunisten zum Zweck des Sturzes des bestehenden Staates verbinden können, die Kleinbauern, die Handwerker, die Bourgeoisie da, wo sie revolutionär ist, sind Klassen. Das heißt eine Vielheit von Menschen, die durch ihre Gleichartigkeit in Beziehung auf die gesellschaftlichen Produktionsmittel zu einem sozialen Körper verbunden sind. Die Lumpenproletarier sind keine Klasse. Sie gehören nicht zu den Arbeitskraftverkäufern wie arbeitende und arbeitslose Proletarier, sie gehören nicht zu den Besitzern von Produktionsmitteln; sie sind verwehte Blätter aus allen Wäldern, sie sind gewiß Opfer einer ungerechten Gesellschaftsordnung, aber ihr schwerster Verlust, den sie erlitten haben, ist der, daß sie eben deklassiert, klassenlos sind und nicht einmal mehr das haben, was der Proletarier noch hat: als Klasse für die Änderung der Zustände kämpfen zu können, deren Opfer sie sind. Gewiß kann aus irgendeiner Bewegung einiger Lumpenproletarier, Räuberbanden usw. eine Situation entstehen, die den Kommunisten erlaubt, sie politisch auszunützen – der Staat muß dann freilich schon sehr geschwächt sein – und ein Tor wäre, wer dann sich nicht der Situation bedienen würde und „theoretisch vernagelt“ der, der eine solche Situation ausließe, nur weil sie von Lumpenproletariern geschaffen ist. Aber was die Verbindung mit den Lumpenproletariern anbetrifft, bleibt es bei dem Wort von Engels:

„Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dieses Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich ... Jeder Arbeiterführer, der diese Lumpen als Garde verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung.“

Der große Unterschied zwischen einem kämpfenden Proletarier und einem „politischen“ Lumpenproletarier ist eben immer der: der kämpfende Proletarier begeht auch kriminelle Handlungen zu politischen Zwecken, und der Lumpenproletarier begeht auch politische Handlungen zu kriminellen Zwecken. Wir haben nun zu allem hin in Deutschland schon unsere praktischen Erfahrungen gemacht. Man muß auch hier mit der Eigentümlichkeit des deutschen Arbeiters rechnen. Ich möchte dem Genossen Radek die Versuchung ersparen, hier einen billigen Witz zu machen und sage; wie der russische Arbeiter seine Vorzüge und Schwächen hat, so hat auch der deutsche die seinen, und einer der Vorzüge der deutschen Arbeiter ist, um mit Engels zu reden,

„daß sie dem theoretischsten Volk Europas angehören, und daß sie sich den theoretischen Sinn bewahrt haben, der den sogenannten ‚Gebildeten‘ Deutschlands so ganzlich abhanden gekommen ist.“

Und zumal auf diese Eigentümlichkeit wirkt eine auch nur äußerliche Verbindung mit dem Lumpenproletariat im höchsten Grade ungünstig. Wir haben unsere Erfahrungen gesammelt im Spartakusbund, wo wir sicherlich nicht und nirgendwo mit dem Lumpenproletariat uns verbündet hatten, wo wir nur in der raschen Tagen des November und Dezember 1918 uns das Lumpenproletariat nicht genügend vom Halse schaffen konnten, so daß es nahe daran war, daß auch in der Meinung der Arbeiter dieses uns die Farbe gab. Wir haben uns im langen Kampfe, womit ich nicht unsere Auseinandersetzung mit der KAPD [10] meine, davon gereinigt – nicht ohne auch die Erfahrung gemacht zu haben, daß sich das Lumpenproletariat viel lieber von der Bourgeoisie kaufen läßt, als mit den Proletariern zu gehen – so, daß die Arbeiter uns ernst nahmen und unser Einfluß bei den Arbeitern wuchs und sie Vertrauen zu uns bekamen. Und nun der Kommunistenaufstand von 1921! Ich will hier nur die Stimme eines einzigen, freilich in Eisenbahnersachen außerordentlich erfahrenen Genossen wiedergeben, der gar nicht zu meiner, sondern eher zur „Berliner“ Schule gehört. Er sagte in einer Sitzung vom 30. März folgendes:

„Die Spielerei dort bei Ammendorf, den D-Zug zum Entgleisen zu bringen, bringt die Arbeiterschaft gegen uns auf. Jetzt kommen die Eisenbahner, das ganze Zugbegleitpersonal und sagen: wenn ihr doch wenigstens einen Munitionszug oder Militärtransportzug in die Luft jagen würdet. Dresden stellt glattweg Militärtransporte zusammen. Wir müssen dort mit allen Kräften daran arbeiten, diese Zusammenstellung von Zügen zu verhindern. Diese Verhinderung wird uns unmöglich durch die blödsinnigen Attentate. Die Regierung hat die Eisenbahner auf ihre Seite bekommen. Ich schreibe das den blödsinnigen Dynamitattentaten zu. Die haben dazu beigetragen ...“

So hat das gewirkt. Wobei ich rundweg erkläre: mit einem einzigen, aus Solidaritätsgefühl und Einsicht in die Lage von Eisenbahnern nicht zusammengestellten Zuge in Dresden war der Sache der Arbeiter in Mitteldeutschland, wie Deutschland überhaupt, viel mehr genützt als mit fünf in die Luft gejagten Zügen.

Das sind unsere deutschen Erfahrungen. Und so werde ich auch weiterhin vorziehen, lieber mit Marx und Engels zu irren, als mit Radek und Bakunin die Wahrheit zu finden. Wobei mir übrigens erlaubt sei, noch einmal auf die „alten sozialdemokratischen Manieren“ zurückzukommen. Genosse Radek ist der letzte, der diese Stellung von Marx und Engels nicht wüßte. Ihm habe ich wohl mit alledem nichts Neues gesagt. Diese Tatsache wirft aber ein eigentümliches Licht auf diese Art von Marxismus. Ich bin gewiß nicht der, der irgendeines Toten oder Lebendigen Wort hinnimmt mit dem „autos epha“, „der Meister hat gesprochen“. Das Gewaltige und Überwältigende an der Marxschen Gedankenwelt, das, was auch die anerkennen, die sie als Ganzes ablehnen, ist, daß sie nicht nur die Tausendfältigkeit der staatlichen und sozialen Geschehnisse erkennt und auflöst, sondern daß sie das Tausendfältige zurückführt auf jene Simplizität, jene Einfachheit, die allem Großen eigentümlich ist. Darum ist es für mich unmöglich, im einzelnen Falle, wenn es gerade so paßt, einige Kapitel des Marxismus in die hintere Hosentasche zu stecken und über „alte sozialdemokratische Manier“ nun die „Nase zu rümpfen“. Aber auch das kommt vielleicht daher, daß ich ein armes und einfältiges Menschenkind bin, „jeder Einsicht bar“, und daß es eines größeren Geistes bedarf, um gelegentlich, weil man kein „Erfolgspolitiker“ ist, aber weil es gerade sich so trifft oder weil eine achtmonatige Karenz zu wirken beginnt, bei Michael Bakunin eine Stippvisite zu machen.

Wie also erobern die Kommunisten die Staatsgewalt? Mit einem Wort gesagt; nachdem man mit der Vergangenheit „vollkommen gebrochen hat“, nur dadurch, daß man zunächst vollkommen, gründlich und unnachsichtig mit dieser Gegenwart breche:, mit einem Zustand, von dem niemand weiß, wo der Hanswurst endigt und das politische Verbrechen beginnt. Es gibt nur die Rückkehr zu dein Satze des Kommunistischen Parteiprogrammes:

„Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland, nie anders als Kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.“

Dieses bedeutet zunächst folgendes. Niemals wieder in der Geschichte der Kommunistischen Partei darf es geschehen, daß die Kommunisten den Arbeitern den Krieg erklären. Wer nach Bakuninscher Methode glaubt, mit Dynamit oder Prügeln die Arbeiter in Aktionen treiben zu können, hat keinen Platz in einer kommunistischen Partei.

Niemals wieder in der Geschichte der Kommunistischen Partei darf es geschehen, daß auch nur ein Versuch gemacht wird, mit Polizeispitzelmanieren „Kampfsituationen zu schaffen“. Die Kommunistische Partei ist eine Kampfpartei, sie freut sich des Tages und erwartet den Tag, an dem sie mit dem Proletariat und an dessen Spitze kämpfen darf, und sie arbeitet politisch und organisatorisch auf diesen Tag hin, sie sucht mit politischen Mitteln Kampfsituationen zu schaffen, statt, wie die Sozialreformisten tun, sie durch Kompromisse zu umgehen.

Die Kommunistische Partei ist nur der Vortrupp des Proletariats und niemandes Büttel gegen das Proletariat; sie kann auch nicht darauf losmarschieren, daß sie die Verbindung mit dem Haupttrupp verliert.

Dazu ist zunächst die erste Vorbedingung, daß das ungeheure Mißtrauen, das nach dieser tollen Eskapade die Mehrheit der deutschen Arbeiter beseelt, wieder beseitigt wird. Hier liegt der größte Schaden, den die Märzvorgänge dieses Jahres angerichtet haben. Niemand täusche sich über die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Noch nie war das Mißtrauen, um kein stärkeres Wort zu gebrauchen, der deutschen Arbeiter gegen die Kommunisten so stark wie heute. Und doch war es ein unendlich schwerer Kampf, in der Arbeiterschaft organisatorisch und vor allem geistig Fuß zu fassen. Die Frucht dieser Arbeit ist jetzt zerstört, und es gilt offen auszusprechen: solange die Arbeiterschaft nicht wieder Vertrauen zur Kommunistischen Partei gewinnt, ist von einer Aktionskraft der deutschen Kommunistischen Partei nicht die Rede. Es muß also nach außen hin sichtbar die Korrektur für die Märzvorgänge erfolgen in einer für die Arbeiter sichtbaren Weise. Würde die Kornmunistische Partei auf ihrem Standpunkt, auf ihrer Gegenwart, verharren, so wäre sie eine Sekte, der das Schicksal aller Sekten: Unbedeutendheit an Zahl und Einfluß, in drei Monaten beschieden wäre.

Daneben aber ist es notwendig, sofort und energisch mit einer politischen Führung der Parteigeschäfte zu beginnen. Auch hier zeigt sich der ungeheure Schaden, den die Bewegung angerichtet hat. Hätte die Zentrale, statt in „geheimen Informationen“ herumzuschmökern, die politischen Vorgänge betrachtet, so würde sie wohl anders gehandelt haben. In England brach in diesen Tagen der Bergarbeiterstreik aus. In England ist der Belagerungszustand verhängt. Nicht unerwartet. Wer die Vorgänge auf dem englischen Kohlenmarkt verfolgte – der ganze englische Kohlenexport, eine Säule der englischen Weltmacht, brach zusammen; seit Oktober vorigen Jahres exportieren die Vereinigten Staaten mehr Kohle als England produziert, die ganze englische Kohlenwirtschaft beruhte auf einem Exportpreis von 150 Schilling, während Amerika Kohle frei Frankreich und Belgien für 90 Schilling anbot –, wußte, daß das kam. Hätte die Zentrale, statt meine Reichstagsrede vom 12. März nach „Opportunismus“ zu durchschnüffeln, sie gelesen, so würde sie das dort bereits vorausgesagt gefunden haben. Ohne „geheime Informationen“! Die Blockade Deutschlands beginnt. Nicht, wie die „geheimen Informationen“ sagten, am 20. März, sondern allmählich. Ein langsames Aushungern wie im Kriege. Der Konflikt zwischen Bayern und dem Reich wird offen, weil das Reich die Entwaffnung durchführen muß. Nicht wegen, sondern trotz dem Kommunistenaufstand. Ja freilich, „die Situation schreit nach Kampf“. Aber durch ein bakunistisches Abenteuer, in das sich die Zentrale durch einen putschistischen Wirrkopf hat hetzen lassen, um des Ruhmes „gesteigerter Aktivität“ willen, ist die Kampfkraft der Kommunistischen Partei gebrochen und, was schlimmer ist: ist die Kampfkraft des deutschen Proletariats gebrochen, weil es in den kommenden Kämpfen zu dem, was ihr Kopf sein sollte, kein Vertrauen haben würde. „Es hätte nur des Zusammenschlusses zur proletarischen Einheitsfront bedurft, um geschlossen den Kampf aufzunehmen.“ So schreibt die Zentrale am Schluß ihres Putsches, um zu zeigen, daß sie auch später nichts gelernt hat. Ja „nur“. Es hätte nur der Einsicht der Zentrale bedurft, um zu begreifen, daß man nicht heute Offenen Brief [11] und morgen Krieg der Kommunisten gegen die Arbeiter machen kann! Es hätte nur der Einsicht der Zentrale bedurft, daß die Einheit des Proletariats die Frucht eines politischen Prozesses und nicht die Frucht von Spitzelprovokationen sein kann.

Es hätte nur der Einsicht der Zentrale bedurft, daß die Einheit des Proletariats die Frucht eines politischen Prozesses und nicht die Frucht von Spitzelprovokationen sein kann. Es hätte nur der Einsicht der Zentrale bedurft, daß sie für das Proletariat und die Partei und nicht die Partei und das Proletariat für sie da sei. Dann, ja dann ständen wir heute in einer glänzenden Situation, stark und kampfgerüstet. Dann hätten wir sagen können: Weg mit der Regierung! So müssen wir uns bescheiden und sagen:

Weg mit den Putschisten!


Anmerkungen

3. Weismann, Robert, unter der Regierung Wirth Preußischer Staatskommissar für Öffentliche Ordnung.

4. Sipo: Abkürzung für Sicherheitspolizei.

5. Orgesch: Abkürzung für Organisation Escherich, eine 1920–1921 an der Niederwerfung der bayerischen Räterepublik beteiligte Freischärlerorganisation, hier allgemein für Freicorps gebraucht.

6. „bester Marxist Westeuropas“: gemeint ist Karl Radek (1885–1938?), 1921 Sekretär der Komintern, Spezialist für deutsche Angelegenheiten 1927–29 als Trotzkist verbannt, dann rehabilitiert, 1937 zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, im Arbeitslager gestorben.

7. Bakunin, Michail. (1814–1876), russischer Anarchist, arbeitete meist in Westeuropa, Mitglied der I. Internationale, auf Betreiben von Marx ausgeschlossen.

8. Blanqui, Louis Auguste (1805–1881), an den Aufstanden 1830, 1848 und an der Kommune 1871 beteiligt, insgesamt, über 30 Jahre im Gefängnis. Die „Blanquisten“, zusammengeschlossen im Parti socialiste de France, lehnten jede Regierungsbeteiligung ab.

9. Frölich, Paul (1884–1953), Mitbegründer der KPD, deren linkem Flügel er angehörte. Mitglied der Parteileitung. 1921–1924 und 1928–1930 Reichstagsabgeordneter der KPD. Nach der Oktoberniederlage der KPD stand er in Opposition gegen die ultralinke Führung.

10. KAPD: Abkürzung für „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“. Auf dem Heidelberger Parteitag der KPD 1919 abgespaltener linker Flügel. Die Rest-KPD nannte sich nach ihrer Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD 1920 eine Zeitlang VKPD: „Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands“.

11. Offener Brief: mit ihm hatte sich Levi im Januar 1921 im Namen der VKPD an alle Arbeiterorganisationen gewandt. Der Brief enthielt eine Art Einheitsfrontvorschlag mit Forderungen wie Lohnerhöhung, Auflösung der Freicorps, Schaffung eines proletarischen Selbstschutzes etc.


Zuletzt aktualisiert am 27. März 2018