MIA > Deutsch > Marxisten > Léon > Judenfrage
Das größte Verdienst des kapitalistischen Systems ist die großartige Ausdehnung der Produktivkräfte, die Begründung der Weltwirtschaft und ein nie gekannter Aufschwung von Technik und Wissenschaft. Der Stagnation der feudalen Welt setzte der Kapitalismus eine Dynamik ohnegleichen entgegen. Viele Millionen Menschen, bisher in einem hoffnungslosen Routinealltag eingepreßt, fühlten sich plötzlich von dem Strom einer intensiven, fiebernden Existenz erfaßt.
Die Juden lebten in den Poren der feudalen Gesellschaft. Als die feudale Ordnung in sich zusammenstürzte, stieß sie zunächst die Elemente ab, die ihm zugleich fremd und unentbehrlich waren. Noch bevor der Bauer sein Dorf gegen das Industriezentrum eintauschte, verließ der Jude die mittelalterliche Kleinstadt, um in die Großstädte der damaligen Welt einzuwandern. Der Verlust der jahrhundertealten Funktion der Juden in der Feudalgesellschaft geht einher mit einer Art passiven Eindringens in die kapitalistische Gesellschaft.
Wenn jedoch der Kapitalismus der Menschheit auch wertvolle Eroberungen ermöglichte, so kann die Menschheit sich diese erst mit seinem Abtreten dienstbar machen. Allein der Sozialismus ist in der Lage, die materiellen Grundlagen der Zivilisation der ganzen Menschheit zugänglich zu machen. Aber der Kapitalismus überlebt sich selbst und all seine großartigen Errungenschaften wenden s ich mehr und mehr gegen die elementarsten Interessen der Menschheit.
Der Fortschritt von Technik und Wissenschaft verwandeln sich in Fortschritte der Wissenschaft und Technik des Todes. Die Entfaltung der Produktionsmittel ist gleichbedeutend mit dem Wachstum der Vernichtungsmittel. Die Welt, zu klein geworden für den vom Kapitalismus geschaffenen Produktionsapparat, wird noch weiter eingeengt durch die verzweifelten Bemühungen jedes Imperalismus, seine Einflußsphäre zu erweitern. Obwohl der Export im Übermaß ein untrennbarer Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise ist, versucht der dekadente Kapitalismus sich seiner zu entledigen; d.h., seinen alten Übeln noch die mit seiner Selbstauflösung verbundenen Übel hinzuzufügen. Mächtige Barrieren behindern die freie Zirkulation der Waren und der Menschen. Unüberwindbare Hindernisse bauen sich vor den Massen auf, die infolge des Zusammensturzes der traditionellen feudalen Welt weder Brot noch Arbeit finden. Der Auflösung des Kapitalismus hat nicht nur die Auflösung der feudalen Gesellschaft beschleunigt, sondern auch die hieraus resultierenden Leiden vervielfacht. Die „Zivilisatoren“ in der Sackgasse versperren denjenigen den Weg, die sich zivilisieren wollen. Ohne die Möglichkeit, sich zu zivilisieren, können jene aber noch weniger im Stadium der Barbarei verharren. Der Kapitalismus verschließt denjenigen Völkern, deren traditionelle Existenzgrundlage er zerstört hat, den Weg in die Zukunft, nachdem er den Weg in die Vergangenheit abgeschnitten hat.
An diese allgemeine Phänomene knüpft die jüdische Tragödie des 20. Jahrhunderts an. Die extreme und tragische Situation des Judentums in unserer Zeit erklärt sich durch die außerordentliche Ungesichertheit seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Position. Als erste von dem zerfallenden Feudalismus abgestoßen, werden die Juden auch als erste von dem sich im Todeskampf aufbäumenden Kapitalismus zurückgeworfen. Die Juden finden sich so zwischen dem Amboß des absterbenden Feudalismus und dem Hammer des niedergehenden Kapitalismus.
Die ganze Situation des Judentums in Osteuropa erklärt sich aus der Verbindung des Zerfalls der alten feudalen Formen mit dem Niedergang des Kapitalismus. Die gesellschaftliche Differenzierung, die sich in den Dörfern infolge des Vordringens des Kapitalismus durchsetzt, hat zur Folge, daß reiche wie proletarisierte Bauern in die Städte strömen; erstere bringen ihr Kapital, letztere ihre Arbeitskraft auf den Markt. Aber es gibt ebensowenig Möglichkeiten für die Unterbringung von Kapital wie Möglichkeiten, Arbeit zu finden. Kaum geboren, zeigt das kapitalistische System bereits Anzeichen von Senilität. Die allgemeine Dekadenz des Kapitalismus offenbart sich in Krise und Arbeitslosigkeit.
Im Inneren Osteuropas stellen sich der Auswanderung immer unüberwindbarere Schwierigkeiten entgegen. 7 bis 8 Millionen Bauern bleiben ohne Land und nahezu ohne Arbeit im „unabhängigen“ Polen. Die Juden befinden sich zwischen zwei Feuern. Sie dienen Kleinbürgern und Bauern, die sich auf ihre Kosten sanieren wollen, zur Zielscheibe.
“Die Stellung der Juden ist besonders bedroht von der polnischen Bourgeoisie und den reichen Bauern, die die Lösung ihrer Schwierigkeiten in einem wilden Wirtschaftsnationalismus suchen. Die polnische Arbeiterklasse dagegen, die unter ständiger Arbeitslosigkeit leidet, sucht ihre Rettung eher in der wirtschaftlichen und politischen Befreiung, als in einer sterilen und mörderischen Konkurrenz (...).“ [1]
Gerade in den vom Kapitalismus am weitesten entwickelten Gebieten bildet sich schnell eine nicht- jüdische Handelsklasse heraus. Hier tobt der Antisemitismus am wildesten.
“In den zentralen Wojwodschaften ging man am weitesten mit der Zerstörung jüdischer Geschäfte. Dies waren Gegenden mit rein polnischer Bevölkerung. Die Bauern hatten h ier einen relativ hohen L ebensstandard erlangt, die Industrie war relativ fortgeschritten, was für die materielle und intellektuelle Lage des Dorfes sehr wichtig war.“ [2]
Während 1914 72 % der Geschäfte in den Dörfern jüdisch waren, sank dieser Prozentsatz 1935 auf 34 %, d.h. um mehr als die Hälfte. Die Lage der Juden war in den wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten besser.
“Die jüdische Teilnahme am Handel ist in den rückständigeren Wojwodschaften größer.“ (Lipovski)
“Die östlichen, von Weißrussen besiedelten Gebiete sind in ökonomischer, intellektueller und politischer Hinsicht der rückständigste Teil Polens. In diesen Gebieten hat s ich die absolute Mehrheit der jüdischen Händler um 1/3 vergrößert.“ [3]
1938 befanden sich in den rückständigen Gebieten Polens 82,6 % der Geschäfte in jüdischen Händen.[4] Alle diese Tatsachen beweisen noch einmal, daß dem jüdischen Problem in Osteuropa die Zerstörung des Feudalismus zugrunde liegt. Je weiter zurück in seiner Entwicklung ein Gebiet ist, desto leichter gelingt es den Juden ihre jahrhundertalte Position zu halten. Aber der allgemeine Zerfall des Kapitalismus macht eine Lösung der jüdischen Frage unmöglich: Krise und Arbeitslosigkeit versperren den Juden den Zugang zu anderen Berufen. Sie erzeugen einen wilden Andrang auf die von den Juden ausgeübten Berufe und tragen zur Verschärfung des Antisemitismus bei. Die Regierungen der Junker und der Großkapitalisten bemühen sich natürlich, die antijüdische Bewegung zu organisieren und so die Massen von ihrem wahren Feind abzulenken. „Die Lösung der jüdischen Frage“ wird für sie synonym für die Lösung der sozialen Frage. Um den nationalen Kräften Spielraum zu verschaffen, organisiert der Staat einen systematischen Kampf, um alle Berufe vom jüdischen Element zu reinigen. Die Mittel, um den Handel in Polen zu polemisieren, reichen von dem einfachen Boykott der jüdischen Geschäfte durch entsprechende Propaganda bis zu Judenprogromen und -bränden.
Als Beispiel möge der „Siegesbericht“ in dem polnischen Regierungsblatt Ilustrowany kurjer codzienny aus dem Jahre 1936 dienen: 160 polnische Handelsgeschäfte seien während der ersten 3 Monate des Jahres im Kreis von Radom erworben worden. Allein in Przytyk (berühmt wegen seiner Pogrome) seien 50 Handelspatente von Polen aufgekauft worden. Im Ganzen seien in den verschiedenen Bezirken 2.500 polnische Handelsgewerbe von Juden gesäubert worden. [5]
Das jüdische Handwerk wurde von der polnischen Regierung nicht besser behandelt. Boykott, übermäßige Steuern, Prüfungen nur auf Polnisch (Tausende von jüdischen Handwerkern beherrschten diese Sprache nicht) trugen dazu bei, die jüdischen Handwerker zu vertreiben. Ohne Arbeitslosenunterstützung ist das Handwerkerproletariat ganz besonders benachteiligt. Die Gehälter der jüdischen Arbeiter sind sehr niedrig und die Lebensbedingungen unerträglich (ein Arbeitstag hat bis zu 18 Stunden).
Die Universitäten wurden das Lieblingsterrain des antisemitischen Kampfes. Die polnische Bourgeoisie unternahm alles, um den Juden den Zugang zu den intellektuell en Berufen zu versperren. Die polnischen Universitäten wurden zum Schauplatz von wirklichen Pogromen und Fensterstürzen. Lange vor den Judensternen Hitlers führte die polnische Bourgeoisie die Ghettobanken in den Universitäten ein. „Legale Methoden“, diskreter, aber nicht weniger wirksam, m achten der jüdischen Jugend, deren intellektuelle Fähigkeiten auf Grund des Lebensstils ihrer Vorfahren stark entwickelt waren, den Zugang zu den Universitäten so gut wie unmöglich. Der Prozentsatz der jüdischen Studenten in Polen verringerte Sich zwischen 1923 und 1934 um 24,5 %, zwischen l 933 und 1936 um 13,2 %. [6]
In derselben Weise ging man In Lettland und Ungarn gegen die jüdischen Studenten vor. Der Anteil der jüdischen Studenten sank in Lettland von 15,7 % im Jahre 1920 auf 8,5 % im Jahre 1931; in Ungarn von 31,7 % (1918) auf 10,5 % (1931). Alles in allem glich die Lage der Juden in Ungarn jahrhundertelang der der polnischen Juden.
In diesem Land der großen Feudalmagnaten spielten die Juden lange Zeit hindurch die Rolle der Vermittlerklasse zwischen Herren und Bauern.
“Einer unserer Berichterstatter erinnert uns daran, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein gewisser Graf v. Palugyay, der sich selbst mit der industriellen Verarbeitung der auf seinen Ländereien gewonnenen Produkte beschäftigen wollte, insbesondere mit der Destillation von Kartoffelschnaps und Branntwein, mit Mühe und Not dem Ausschluß aus dem nationalen Verein des ungarischen Adels entging. Er hatte sich sogar erlaubt, den Verkauf zu übernehmen.“
Auch die liberalen Berufe waren Opfer dieses Vorurteils, das sowohl In der hohen Aristokratie wie beim niedrigen Adel verbreitet war. Kurz vor dem Sturz der Doppelmonarchie äußerte sich ein ungarischer Magnat verächtlich über die Adeligen die „für Geld“ den Hals von Individuen untersuchten, die sie nicht kannten. Natürliche Folge dieser Haltung war, daß die Juden insbesondere in den Städten gezwungen waren, die Rolle der Vermittlerklasse zwischen Bauern und Adel zu übernehmen. Der Handel, vor allem der Kleinhandel, war in den Augen des Volkes Judensache. Noch heute ist der Kaufladen und alles, was mit dessen Betrieb zusammenhängt, in den Augen des ungarischen Volkes eine jüdische Angelegenheit, selbst wenn dieser Kaufladen längst zu einem Instrument des wirtschaftlichen Kampfes gegen die Juden geworden ist.
Folgende Anekdote offenbart diesen Bewußtseinsstand in erstaunlicher Weise: Eine Bäuerin schickt ihren Sohn um Einkäufe. Sie will, daß er dies in der halbstaatlichen Kooperative Mangya tut und nicht in einem jüdischen Laden und sie sagt ihm: „Piesta, gehe zum Juden, aber nicht zu dem, der Jude ist, sondern in das neue Geschäft.“ [7]
Die Juden wurden in ganz Osteuropa aus ihren wirtschaftlichen Positionen vertrieben. Die jüdischen Massen gerieten in eine aussichtslose Lage. Eine von allem ausgeschlossene Jugend vegetierte ohne Aussicht auf Integration in das Wirtschaftsleben in hoffnungslosem Elend dahin. Vor dem 2. Weltkrieg baten 40 % der jüdischen Bevölkerung bei philantropischen Institutionen um Hilfe. Die Tuberkulose wütete. Geben wir den Berichterstattern der wirtschaftlichen und statistischen Abteilung des jüdischen Wissenschaftsinstitutes, das sich in einem Gebiet befand, wo Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unter der jüdischen Jugend regierten, das Wort:
“Die Lage der jüdischen Jugend ist sehr schwierig, besonders die der Kaufmannssöhne und -töchter, die ohne Arbeit sind, da Ihre Eltern ihrer Mithilfe nicht bedürfen. Unmöglich, neue Unternehmen zu eröffnen. 75 junge Männer, 120 junge Mädchen zwischen 15 und 28 Jahren, leben ohne jede Hoffnung, sich in die Wirtschaft des Landes zu integrieren.“
Von Sulejow (Wojwodschaft Lodz) verfügen wir über ein detaillierteres, für die polnischen Kleinstädte charakteristisches Bild:
“Nahezu 50 % der Kinder jüdischer Händler arbeiten bei ihren Eltern mit, aber nur, weil es ihnen nicht gelingt, eine andere Beschäftigung zu finden. 25 % erlernen Irgendeinen x-beliebigen Beruf und die restlichen 25 % sind zum Nichtstun verurteilt. 70 % der Kinder von Handwerkern bleiben in den Werkstätten ihrer Eltern, obwohl diese nahezu ohne Arbeit sind und sehr gut ohne Hilfe auskommen könnte. 10 % erlernen neue Berufe, 20 % haben nichts zu tun. Die Söhne von Rabbinern und Angestellten der jüdischen Gemeinschaften neigen dazu, Ihren Lebensunterhalt durch die Erlernung eines Berufes zu sichern. Die ganze Jugend möchte auswandern, 90 % nach Palästina, aber ihre Chancen sind gering, da die Zahl der Auswanderungsgenehmigungen beschränkt ist. Aber das macht nichts, sie gingen selbst auf den Nord- oder Südpol, nur um dieser Stagnation zu entfliehen. Die Jugend wendet sich mehr und mehr dem Handwerk zu und ihre Beteiligung am Handel nimmt ab.“ [8]
Die Lage des Judentums – in Osteuropa in hoffnungsloser Verstrickung zwischen dem zusammenbrechenden Feudalismus und dem in Gärung befindlichen Kapitalismus – schuf eine Treibhausatmosphäre wilder Antagonismen, die sich in gewisser Weise auf die ganze Welt ausdehnte. West- und Mitteleuropa werden z um Schauplatz eines grauenvollen Antisemitismus. Während das Zurückgehen der jüdischen Emigration, deren jährlicher Durchschnitt von 155.000 in den Jahren 1901 bis 1914 auf 43.657 in den Jahren 1926 bis 1935 sank [9], die Lage der Juden in Osteuropa fürchterlich erschwerte, machte die allgemeine Krise des Kapitalismus selbst diese beschränkte Auswanderung für die westeuropäischen Länder untragbar. Die jüdische Frage spitzte sich ungeheuer zu, nicht nur in den Emigrations-, sondern auch in den Immigrationsländern. Schon vor dem ersten imperialistischen Krieg schuf die massive Ankunft jüdischer Immigranten eine starke antisemitische Bewegung in den Mittelklassen mehrerer Länder in Mittel- und Westeuropa. Es genügt, an die großen Erfolge der antisemitischen Christlich-Sozialen Partei in Wie n und an ihren Führer Lueger zu erinnern, an das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland (Treitschke) und an die Afaire Dreyfus. [10] Der Antisemitismus zeigte seine Wurzeln am deutlichsten in Wien, einem der großen Zentren der jüdischen Immigration vor dem ersten imperialistischen Krieg. Das Kleinbürgertum, ruiniert durch die Entfaltung des Monopolkapitalismus, auf dem Wege der Proletarisierung, geriet bei dem massiven Einbruch des jüdischen Elements, das seiner Tradition nach kleinbürgerlich und handwerklich war, in äußerste Erbitterung.
Nach dem ersten Weltkrieg sahen die Länder West- und Mitteleuropas, Deutschland, Österreich, Frankreich und Belgien, zehntausende jüdische Einwanderer aus Osteuropa zerlumpt und ohne jegliche Reserven einströmen. Der sichtbare Nachkriegswohlstand erlaubte diesen Elementen, in alle kaufmännischen und handwerklichen Bereiche vorzudringen. Selbst die jüdischen Immigranten, die Zugang zu den Fabriken gefunden hatten, blieben dort nicht lange. Die lange kaufmännische Vergangenheit der Juden begünstigte ihre Nachkommen, und die wirtschaftlich vorteilhaften Bedingungen der Nachkriegszeit führen zu e in er fühlbaren Entproletarisierung in Westeuropa und in den USA. Die jüdischen Arbeiter behielten ihre handwerkliche Struktur bei. In Paris betrieben von 1.083 gewerkschaftlich organisierten jüdischen Arbeitern im Jahre 1936 9.253 Heimarbeit.
Die wirtschaftlichen Katastrophen von 1929 machte die Lage der kleinbürgerlichen Massen aussichtslos. Die Überfüllung im Kleinhandel, im Handwerk und in den intellektuellen Berufen nahm ungewohnte Ausmaße an. Der Kleinbürger betrachtete seinen jüdischen Konkurrenten mit wachsender Feindseligkeit, dessen berufliche Überlegenheit – Ergebnis jahrhundertelanger Praxis – ihm oft leichter über „die schweren Zeiten“ hinweghalf. Der Antisemitismus gewann sogar bei den breiten Schichten der handwerklichen Arbeiter an Boden, die schon immer unter dem Einfluß des Kleinbürgerums gestanden hatten.
Es ist also falsch, das Großkapital zu bezichtigen, den Antisemitismus provoziert zu haben. Das Großkapital hat sich nur den elementaren Antisemitismus der kleinbürgerlichen Massen zunutze gemacht. Es benutzte ihn zu einem Meisterstück faschistischer Ideologie. Mit dem Mythos des „jüdischen Kapitalismus“ versuchte das Großkapital den Kapitalistenhaß der Massen von sich abzulenken. Die reale Möglichkeit einer Agitation gegen die jüdischen Kapitalisten lag in dem Antagonismus zwischen Monopolkapital und spekulativem Kaufmannskapital, das in der Regel in jüdischen Händen lag. Die Skandale innerhalb dieses spekulativen Kaufmannskapitals, insbesondere die Börsenskandale,sind in der Öffentlichkeit relativ besser bekannt geworden. Dies erlaubte es dem Monopolkapital, den Haß der kleinbürgerlichen Massen und teilweise sogar der Arbeiter zu kanalisieren und gegen den „jüdischen Kapitalismus“ zu lenken.
“Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt. Sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche, resp. scheinbare Triebkräfte.“ [11]
Bis jetzt haben wir versucht.die wirklichen Grundlagen des Antisemitismus unserer Zeit herauszuarbeiten. Man muß sich jedoch nur die Rolle vergegenwärtigen, die das erbärmliche Dokument der zaristischen Ochrana, die Protokolle der Weisen von Zion [12], für die Entwicklung des Antisemitismus spielte, um die Bedeutung der „falschen resp. scheinbaren Triebkräfte“ des Antisemitismus zu verstehen. In der Hitler’schen Propaganda heute spielt das wirkliche Motiv des Antisemitismus in Westeuropa, die wirtschaftliche Konkurrenz des Kleinbürgertums, keine Rolle mehr. Dagegen kommen die phantastischsten Aussagen aus den Protokollen der Weisen von Zion, die „Pläne der universellen Herrschaft des internationalen Judentums“, in jeder Rede und in jedem Manifest von Hitler zum Vorschein. Man muß also dieses mystische Element in der Ideologie des Antisemitismus analysieren.
Die Religion ist das charakteristischste Beispiel für eine Ideologie. Ihre wirklichen Triebkräfte müssen in dem außerordentlich prosaischen Bereich der materiellen Interessen einer Klasse gesucht werden, obwohl sie in scheinbar sehr viel mehr ätherischen Sphären liegen. Dennoch war der Gott, der der englischen Aristokratie die fanatischen Puritaner Cromwells als Geißel schickte, nichts anderes als der Reflex oder das Symbol der Interessen der englischen Bauern und Bürger. Jede religiöse Revolution ist in Wirklichkeit eine soziale Revolution.
Die ungezügelte Entfaltung der Produktivkräfte, die auf die engen Grenzen der Konsumtionsfähigkeit stößt – das ist die wirkliche Triebkraft des Imperialismus, dem höchsten Stadium des Kapitalismus. Statt dessen ist scheinbar jedoch die Rasse seine offensichtlichste Kraft. Der Rassismus ist also in erster Linie die ideologische Verkleidung des modernen Imperialismus. Die „für ihren Lebensraum kämpfende Rasse“ spiegelt nichts anderes wider als den ständigen Expansionszwang, der den Finanz- oder den Monopolkapitalismus charakterisiert.
Wenn der fundamentale kapitalistische Widerspruch zwischen der Produktion und der Konsumtion das Großbürgertum dazu zwingt, für die Eroberung ausländischer Märkte zu kämpfen, so zwingt er das Kleinbürgertum, für die Ausdehnung des Binnenmarktes zu kämpfen. Das Fehlen der Absatzmärkte im Ausland geht Hand in Hand mit deren Fehlen im Inland. Während die Großbourgeoisie verbissen gegen die Konkurrenz im Ausland kämpft, kämpft das Kleinbürgertum nicht wenig er verbissen gegen seine Konkurrenten im Inland. Der nach außen gerichtete Rassismus wird von einem internen Rassismus ergänzt. Die kapitalistischen Widersprüche, die sich im 20. Jahrhundert extrem verschärften, führen auch zu einer Verschärfung des externen und des internen Rassismus.
Die primär kaufmännische und handwerkliche Struktur des Judentums, das Erbe einer langen historischen Entwicklung, macht die Juden zum Feind Nummer eins des Kleinbürgertums auf dem Binnenmarkt. Es ist also der kleinbürgerliche Charakter des Judentums, der es dem Kleinbürgertum so verhaßt macht. Wenn jedoch die Vergangenheit des Judentums einen bestimmenden Einfluß auf seine heutige gesellschaftliche Zusammensetzung ausübt, so wirkt sie nicht weniger stark auf das Bewußtsein der Massen ein. Für diese ist und bleibt der Jude der traditionelle Vertreter der „Geldmacht“.
Dies ist sehr wichtig, denn das Kleinbürgertum ist nicht nur eine kapitalistische Klasse, d.h. eine Klasse, die alle kapitalistischen Tendenzen in Miniatur in sich trägt. Es ist zugleich antikapitalistisch. Es hat das starke, wenn auch vage Bewußtsein, vom Großkapital ausgeplündert und ruiniert zu werden. Aber sein Doppelcharakter, seine Lage zwischen zwei Klassen, erlaubt es ihm nicht, die wirkliche Struktur der Gesellschaft und den wirklichen Charakter des Großkapitals zu durchschauen. Es ist unfähig, die tatsächlichen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen, denn es ahnt, daß für es selbst diese Entwicklung nur tödlich sein kann. Es will antikapitalistisch sein, ohne aufzuhören, kapitalistisch zu sein. Es will den schlechten Charakter des Kapitalismus zerstören, d.h. die Tendenzen, die es selbst ruinieren, und zugleich den „guten Grundcharakter“ des Kapitalismus erhalten, der es ihm erlaubt zu leben und sich zu bereichern.
Aber da es einen Kapitalismus mit zugleich guten und schlechten Seiten nicht gibt, muß ihn das Kleinbürgertum erfinden. Nicht zufälligerweise ist es die Kleinbourgeoisie, die den „Superkapitalismus“ erfunden hat -die Verirrung und die Bösartigkeit des Kapitalismus. Es ist kein Zufall, daß seine Theoretiker, vor allem Proudhon [13], seit mehr als einem Jahrhundert zum Kampf gegen den „schlechten, spekulativen Kapitalismus“ aufrufen und den „nützlichen, produktiven Kapitalismus“ verteidigen. Der Versuch der nationalsozialistischen Theoretiker, zwischen dem „nationalen, produktiven Kapital“ und dem „jüdischen, parasitären Kapital“ zu unterscheiden, ist wahrscheinlich der letzte Versuch dieser Art. Der „jüdische Kapitalismus“ ist am ehesten geeignet, die Rolle des schlechten Kapitalismus zu übernehmen. Die Vorstellung des jüdischen Reichtums war in der Tat im Bewußtsein der Massen fest verankert. Es ging nur darum mit einer gut abgestimmten Propaganda, das Bild des jüdischen Wucherers, gegen den Bauern, Kleinbürger und Gutsbesitzer lange Zeit hindurch gekämpft hatten, wieder wachzurufen und zu aktualisieren. Das Kleinbürgertum und ein Teil der unter seinem Einfluß stehenden Arbeiterklasse lassen sich leicht von einer solchen Propaganda mitreißen und werden Opfer der Ideologie vom jüdischen Kapitalismus.
Historisch gesehen bedeutet der Erfolg des Rassismus, das es dem Kapitalismus gelungen ist, das antikapitalistische Bewußtsein der Massen auf eine dem Kapitalismus vorangehende, nur noch fragmentarisch erhaltene Gesellschaftsform abzulenken. Diese fragmentarischen Überreste genügen jedoch, um dem Mythos einen Anschein von Realität zu verleihen.
Man sieht, daß der Rassismus aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzt ist. Er spiegelt den Expansionswillen des Großkapitals wider. Er druckt den Haß des Kleinbürgertums gegen die „fremden“ Elemente auf dem inländischen Markt ebenso aus wie seine antikapitalistischen Tendenzen, als kapitalistisches Element bekämpft das Kleinbürgertum die jüdische Konkurrenz, als antikapitalistisches Element kämpft sie gegen das jüdische Kapital. Der Rassismus lenkt schließlich den antikapitalistischen Kampf der Massen gegen eine dem eigentlichen Kapitalismus vorangehende, nur noch fragmentarisch vorhandene, frühere kapitalistische Form.
Aber wenn es die wissenschaftliche Analyse auch erlaubt, die Komponenten der rassistischen Ideologie auseinanderzulegen, so muß sie doch als eine völlig homogene Doktrin erscheinen. Der Rassismus dient gerade dazu, alle Klassen in dem Schmelztiegel einer Rassengemeinschaft aufgehen zu lassen. Der Rassenmythos bemüht sich, als einheitliches Ganzes – mit nur sehr vagen Beziehungen zu seinen sehr verschiedenen Quellen – zu erscheinen. Er versucht, seine verschiedenen Elemente in perfekter Manier zu vereinen.
So muß z.B. der nach außen gerichtete Rassismus als ideologischer Deckmantel für den Imperialismus keineswegs schon per se einen antisemitischen Charakter haben. Aber aufgrund der Notwendigkeit einer Verschmelzungsideologie bedient er sich in der Regel dieser Erscheinungsform. Die antikapitalistische Tendenz der Massen, zunächst gegen das Judentum gelenkt, bezieht sich sehr bald auch auf den äußeren Feind, der mit dem Judentum identifiziert wird. Die „germanische Rasse“ muß gegen den Juden, ihren Hauptfeind, in allen seinen Verkleidungen kämpfen: der des Bolschewismus und Liberalismus im Inneren, der der angelsächsischen Plutokratie und der des russischen Bolschewismus.
Hitler schreibt in Mein Kampf, daß man die verschiedenen Feinde unter einem gemeinsamen Aspekt zeigen müsse, da sonst die Gefahr bestehe, daß die Massen zuviel über die bestehenden Unterschiede nachdenken würden. Der Rassismus ist als o keine Doktrin, sondern ein Mythos. Er fordert Glauben und fürchtet die Überlegung wie das Feuer. Der Antisemitismus ist am besten geeignet, die verschiedenen Elemente des Rassismus zu untermauern.
Ebenso, wie es nötig ist, die verschiedenen Klassen in einer Rassse aufgehen zu lassen, muß diese Rasse auch einen gemeinsamen Feind haben: den internationalen Juden. Der Rassenmythos ist konsequenterweise von einem Gegenmythos begleitet: dem der Antirasse, des Juden. Die Rassengemeinschaft baut auf dem Haß gegen die Juden auf. Dieser Haß hat sein solidestes Fundament in der Geschichte. Er wurzelt in der Epoche, in der die Juden ein wirklicher Fremdkörper für alle Klassen waren. Die Ironie der Geschichte will es, daß der radikalste Antisemitismus, den die Geschichte bisher kennt, zu einem Zeitpunkt ausbricht, wo sich das Judentum auf dem Weg zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration befindet.
Aber, wie immer in der Geschichte, ist das Paradoxon nur allzu verständlich. Zu der Zeit, da der Jude noch integrierbar war, zu der Zeit nämlich, als er wirklich das Kapital verkörperte, war er für die Gesellschaft unentbehrlich. Seine Ausrottung stand nicht zur Diskussion. Heute aber versucht sich die kapitalistische Gesellschaft, am Rande des Abgrundes angelangt, dadurch zu retten, daß sie den Juden und mit ihm den Judenhaß wiederaufleben läßt. Und gerade weil die Juden nicht mehr die ihnen zugeschriebene Rolle spielen, kann ihre Verfolgung solche Ausmaße annehmen. Der „jüdische Kapitalismus“ ist ein Mythos und deshalb ist er so leicht zu überwinden. Aber indem er sein Pendant zerstört, zerstört der Rassismus ebenfalls seine eigenen Existenzgrundlagen. In dem Maße, in dem das Phantom des jüdischen Kapitalismus verblaßt, ersteht die kapitalistische Realität in ihrer ganzen Häßlichkeit. Die gesellschaftlichen Widersprüche, die für einen Augenblick im Rausch des Rassenwahns untergingen, erscheinen wieder in ihrer ganzen Schärfe. Auf die Dauer ist der Mythos der Realität gegenüber machtlos.
Trotz seiner scheinbaren Homogenität läßt die Entwicklung des Rassismus deutlich die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Transformationen erkennen, die jener zu vertuschen sucht. Das Großkapital muß zunächst seinen inneren Feind, das Proletariat schlagen, bevor es die nötige Grundlage für den Kampf um den Lebensraum, den imperialistischen Krieg, schaffen kann. Das Kleinbürgertum und seine zum Proletariat herabgesunkenen Elemente stellen die Stoßtruppen, die fähig sind, wirtschaftliche und politische Organisationen des Proletariats zu sprengen. Der Rassismus erscheint anfänglich als Ideologie der Kleinbürger. Sein Programm spiegelt die Interessen und Illusionen dieser Klasse wider. Er verspricht den Kampf gegen den „Superkapitalismus“, gegen die Trusts, gegen die Börse, die großen Geschäfte etc. Sobald jedoch das Großkapital des Proletariat mit Hilfe des Kleinbürgertums zerschlagen hat, wird ihm auch dieses lästig. Das Kriegsvorbereitungsprogramm beinhaltet eine gnadenlose Ausmerzung der Kleinunternehmen, eine großartige Entwicklung der Trusts und eine starke Proletarisierung. Dieselbe militärische Vorbereitung bedarf aber der Unterstützung oder mindestens der Neutralität des Proletariats, des wichtigsten Produktionsfaktors. Das Großkapital zögert auch keinen Augenblick, seine feierlich gegebenen Versprechungen aufs Zynischste zu brechen und das Kleinbürgertum in schändlicher Manier abzuwürgen. Der Rassismus bemüht sich nun, das Proletariat zu gewinnen, indem er sich als radikal „sozialistisch“ ausgibt. Hier spielt die Identifikation Judentum-Kapitalismus die wichtigste Rolle. Die radikale Enteignung der jüdischen Kapitalisten dient als Garantie und Beweis für die Bereitschaft des Rassismus zum antikapitalistischen Kampf. Der anonyme Charakter des Monopolkapitalismus im Gegensatz zu dem im allgemeinen an Personen gebundenen (und oft spekulativ kaufmännischen) Charakter der jüdischen Unternehmen erleichtert diese betrügerische Operation. Der Mann auf der Straße erkennt leichter den „realen Kapitalismus“, nämlich den Händler, den Fabrikanten, den Spekulanten, als den „respektablen Direktor einer Aktiengesellschaft“, den man als einen „notwendigen Produktionsfaktor“ darstellt. Auf diese Art und Weise gelangt die Rassenideologie zu folgenden Identifikationen: Judentum = Kapitalismus, Rassismus = Sozialismus, gelenkte Kriegswirtschaft = sozialistische Planwirtschaft.
Unleugbar haben sich beachtliche Teile der Arbeiterklasse, ihrer Organisationen beraubt und durch den politischen Erfolg Hitlers geblendet, von dem Rassenmythos ebenso täuschen lassen wie zuvor das Kleinbürgertum. Im Augenblick scheint die Bourgeoisie ihr Ziel erreicht zu haben. Grauenvolle Judenverfolgungen erstrecken sich über ganz Europa und dienen dazu, den „Endsieg“ des Rassismus und die endgültige Niederlage des internationalen Judentums zu beweisen.
Die heute herrschende „Rassentheorie“ ist nichts anderes als der Versuch, den Rassismus wissenschaftlich zu fundieren. Sie hat keinerlei wissenschaftlichen Wert. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur die kläglichen intellektuellen Verrenkungen anzusehen, derer sich die Rassentheoretiker bedienen müssen, um die Verwandtschaft zwischen Germanen und Japanern oder den unüberwindbaren Antagonismus zwischen „germanischem Heldengeist“ und „angelsächsischem Krämergeist“ zu beweisen. Die Verirrungen eines Montandon über die „Entprostituierung“ des jüdischen Volkes durch die Verpflichtung, den Davidstern zu tragen, sind sicher nicht viel mehr wert. Die wirkliche Prostitution bestimmter „Wissenschaftler“ gegenüber dem Rassismus zeigt ein seltsames Schauspiel menschlicher Selbsterniedrigung. Hier vollendet sich die Dekadenz der bürgerlichen Wissenschaft, die bereits zu Zeiten der Demokratie nichts weniger als objektiv war.
Der Rassenwahn darf uns jedoch nicht von der Untersuchung abhalten, inwieweit man von einer jüdischen Rasse sprechen kann. Schon bei sehr oberflächlicher Betrachtung erkennt man, daß „die Juden“ in Wirklichkeit eine Mischung höchst heterogener Rassen sind. Natürlich ist die jüdische Diaspora die Hauptursache für diese Erscheinung. Schon in Palästina jedoch bildeten die Juden keineswegs eine „reine Rasse“. Ohne in Betracht zu ziehen, daß die Israeliten – nach der Bibel – bei ihrem Auszug aus Ägypten eine Menge Ägypter mit sich nahmen, so daß Strabo sie als Abkömmlinge der Ägypter ansah, genügt es, sich die zahlreichen Rassen, die sich in Palästina zusammenfanden, ins Gedächtnis zu rufen: Hethiter, Kanaaniter, Philister (Arier), Ägypter, Phönizier, Griechen und Araber. Judäa war nach Strabo von Phöniziern, Ägyptern und Arabern bewohnt. Die Entwicklung des jüdischen Proselytismus während der Epoche der griechischen und römischen Herrschaft hat stark zur Vermischung der Rassen beigetragen. Schon 139 v.Chr. wurden die Juden aus Rom vertrieben, weil sie dort Proselyten angeworben hatten. Die jüdische Gemeinde in Antiochia setzte sich zum großen Teil aus Proselyten zusammen. Der Proselytismus hat nie völlig aufgehört, selbst zu späteren Zeiten nicht. Die Zwangsbekehrung der Sklaven zum Judentum, die Bekehrung der Chazaren sowie anderer Rassen und Volksstämme während der langandauernden Diaspora haben ebenso dazu beigetragen, aus dem Judentum ein Rassenkonglomerat zu machen.
Heute besteht z.B. keinerlei rassische Homogenität zwischen den jemenitischen Juden und den Juden von Daghestan. Die ersteren sind Orientalen, während die letzteren der mongolischen Rasse angehören. Es gibt schwarze Juden in Indien und äthiopische Juden (Falascha), ebenso wie jüdische „Höhlenbewohner“ in Afrika. Aber dieser fundamentale Unterschied wie z.B. der zwischen Juden aus Daghestan und den jemenitischen Juden erschöpft unsere Frage nicht. Tatsächlich wohnen neun Zehntel der heute lebenden Juden in Osteuropa oder stammen von dort. Gibt es eine osteuropäische jüdische Rasse? Der antisemitische Theoretiker Hans Günther antwortet darauf: „Das Ostjudentum, das heute fast neun Zehntel der Juden ausmacht, setzt sich aus russischen, polnischen, galizischen, ungarischen, österreichischen, deutschen und einem großen Teil der der nordamerikanischen und westeuropäischen Juden zusammen. Es bildet eine Mischung vorderasiatischer, orientalischer, baltischer, innerasiatischer, nordischer, hamenitischer und Negerrassen“! [14] Die Untersuchungen in New York ergaben, daß von 4.235
Juden |
und |
Jüdinnen |
|
52,62 % |
|
56,94% |
braunes Haar |
10,42 % |
10,27 % |
blondes Haar |
|
36,96 % |
32,79 % |
gemischtfarbenes Haar hatten. |
14,25 % der Juden und 12,7 % der Jüdinnen besaßen die typische, jüdische Nase, die nichts anderes ist, als eine Nasenform, die man bei den Völkern Kleinasiens, besonders bei den Armeniern findet. Diese Nase ist auch stark bei den Mittelmeervölkern sowie bei den Bayern (dinarische Rasse) verbreitet. Diese wenigen Tatsachen zeigen bereits, daß die „jüdische Rasse“ nichts anderes als ein hohler Begriff ist. Die jüdische Rasse ist ein Mythos. Dagegen ist es richtig zu sagen, daß die Juden eine Rassenmischung darstellen, die sich von den Mischungen der meisten europäischen Völker, die hauptsächlich slawischen oder germanischen Ursprungs sind, unterscheidet.
Jedoch sind es nicht so sehr anthropologische Besonderheiten, die die Juden von anderen Völkern unterscheiden, sondern vielmehr physiologische, pathologische und vor allem psychische Kategorien. Es ist vor allem die wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion des Judentums im Verlaufe der Geschichte, die das jüdische Phänomen erklärt. Jahrhunderte hindurch wohnten die Juden in Städten und widmeten sich dem Handel. Der typische Jude ist weit mehr das Ergebnis dieser jahrhundertealten Funktion als einer rassischen Besonderheit. Die Juden haben eine Unzahl rassisch heterogener Elemente in sich aufgenommen, alle diese Elemente jedoch waren den besonderen Bedingungen unterworfen, unter denen die Juden lebten. Dies führte auf die Dauer zur Herausbildung dessen, was man heute den „typischen Juden“ nennt. Er ist das Ergebnis eines langen ökonomischen und gesellschaftlichen, nicht jedoch rassischen Selektionsprozesses. Körperliche Schwäche, die Häufigkeit bestimmter Krankheiten wie Diabetes und Nervosität, eine bestimmte Körperhaltung etc., sind keine Rassenmerkmale, sondern das Ergebnis einer spezifischen gesellschaftlichen Position. Nichts ist lächerlicher als die Neigung zum Handel, die Tendenz zur Abstraktion bei den Juden durch ihre Rasse erklären zu wollen. Überall, wo die Juden sich wirtschaftlich anpassen, überall, wo sie aufhören, eine Klasse zu bilden, verlieren sie sehr schnell diese besonderen Merkmale. Überall, wo die Rassentheoretiker, eine „wirkliche Rasse“ aufzuspüren glauben, sind sie in Wirklichkeit mit einer menschlichen Gemeinschaft konfrontiert, deren Besonderheiten vor allem und in erster Linie das Ergebnis von jahrhundertelangen gesellschaftlichen Bedingungen sind. Die Veränderung dieser Bedingungen hat natürlich das Verschwinden der jüdischen „Rassenmerkmale“ zufolge.
Der Zionismus ist geboren im Widerschein des durch die russischen Progrome des Jahres 1882 in Rußland und den Skandal der Dreyfus-Affäre hervorgerufenen Feuers, zwei Ereignisse, die die zunehmende Verschärfung des jüdischen Problems Ende des 19. Jahrhunderts widerspiegeln.
Die schnelle Kapitalisierung der russischen Wirtschaft nach der Reform von 1863 [15] machte die Situation der jüdischen Massen in den Kleinstädten unerträglich. Im Westen begannen die Mittelklassen, von der kapitalistischen Konzentration zerrieben, sich gegen das jüdische Element zu wenden, dessen Konkurrenz ihre Situation verschärft. In Rußland bildet sich die Gesellschaft der „Freunde Zions“. Leo Pinsker schreibt seine Auto-Emanzipation [16] ein Buch, in dem er die Rückkehr nach Palästina als einzig mögliche Lösung der jüdischen Frage empfiehlt. In Paris beginnt Baron Rothschild, der wie alle jüdischen Geldmagnaten die Überflutung der westlichen Länder mit jüdischen Einwanderern ungern sieht, sich für das Werk der jüdischen Kolonisierung zu interessieren. Ihren unglücklichen Brüdern zu helfen, in das Land ihrer „Vorfahren“ zurückzukehren – d.h. möglichst weit weg zu ziehen – kann der westlichen Bourgeoisie nur recht sein, die nicht ohne Grund ein Anwachsen des Antisemitismus befürchtet. Kurze Zeit nach der Erscheinung des Buches von Leo Pinsker erlebt ein jüdischer Journalist aus Budapest namens Theodor Herzl in Paris eine antisemitische Demonstration, die durch die Affaire Dreyfus provoziert wurde. Er schreibt daraufhin sein Buch Der jüdische Staat, das bis heute das Evangelium der zionistischen Bewegung geblieben ist. Seit seinem Ursprung erscheint der Zionismus als eine Reaktion des jüdischen Kleinbürgerums (das noch heute den Kern des Judentums darstellt), das von der steigenden Woge des Antisemitismus getroffen, von einem Ort zum anderen abgeschoben, versuchte, das Verheißene Land zu erreichen, wo es sich aus den Stürmen heraushalten könnte, die über die moderne Welt hinwegbrausen.
Der Zionismus ist also eine sehr junge Bewegung, die jüngste der europäischen nationalen Bewegungen. Das hindert ihn aber keineswegs – und zwar weniger als alle anderen Nationalismen – an der Behauptung daß er seine Substanz aus sehr ferner Vergangenheit ziehe. Wahrend der Zionismus in Wirklichkeit ein Produkt der letzte Phase des bereits morschen Kapitalismus ist, beansprucht er jedoch, seinen Ursprung in einer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit zu haben. Während er realiter eine Reaktion gegen die für die Juden so verhängnisvolle Verknüpfung feudalistischer und kapitalistischer Auflösungstendenzen ist, versteht er sich als Reaktion auf die jüdische Geschichte, seit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung. Seine junge Existenz ist natürlich der beste Beweis für die Unrichtigkeit dieser Behauptung. In der Tat, wie kann man glauben, daß das Hellmittel gegen ein seit 2000 Jahren bestehendes Übel erst Ende des 19. Jahrhunderts hätte gefunden werden können? Wie alle Nationalismen jedoch – und noch weit stärker -betrachtet der Zionismus seine Vergangenheit im Lichte der Gegenwart. Auf diese Weise verzerrt sich das Bild der Gegenwart. Ganz wie die französischen Kinder lernen, daß Frankreich seit dem Gallien von Vercingetorix existiere, ganz wie man den Kindern in der Provence die Siege, die die Könige der Ile de France gegen ihre Vorfahren errungen haben, als ihre eigenen Erfolge darstellt, so versucht der Zionismus den Mythos des ewigen Judentums zu schaffen, das ständig mit denselben Verfolgungen habe kämpfen müssen.
Der Zionismus sieht in der Zerstörung Jerusalems die Ursache für die Diaspora und demzufolge auch die Quelle aller jüdischen Leiden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Die Quelle aller Leiden des jüdischen Volkes ist der Verlust seiner geschichtlichen Heimat und seine Zerstreuung in alle Welt“, erklärt die marxistische Abteilung von Poale Zion [17] beim holländisch-skandinavischen Komitee. Nach der gewaltsamen Zersprengung der Juden durch die Römer habe die leidensvolle Geschichte begonnen. Aus ihrem Vaterland vertrieben, hätten die Juden sich nicht assimilieren wollen (wie schön ist die freie Entscheidung!). Durchdrungen von ihrer „nationalen Zusammengehörigkeit“, einem „ethischen Gefühl höherer Art“ und einem „unzerstörbaren Glauben an einen einzigen Gott“ [18], hätten sie allen Verlockungen zur Assimilierung widerstanden. Ihre einzige Hoffnung in den dunklen Tagen dieser zweitausendjährigen Leidensgeschichte sei die Vision einer Rückkehr in ihr altes Vaterland gewesen.
Warum haben die Juden während dieser 2000 Jahre niemals den Versuch unternommen, in ihre Heimat zurückzukehren? Diese Frage hat sich der Zionismus niemals ernsthaft gestellt. Warum mußte man das 19. Jahrhundert abwarten, damit Herzl von der Notwendigkeit einer Rückkehr überzeugen konnte? Warum wurden alle Vorgänger Herzls, wie beispielsweise der berühmte Sabbatai Zewi [19], jeweils wie ein falscher Messias behandelt? Warum wurden die Anhänger von Sabbatai Zewi von dem orthodoxen Judentum so grausam verfolgt?
Natürlich nimmt man, um diese peinlichen Fragen zu beantworten, Zuflucht zu der Religion. „Solange die Massen glaubten, daß sie bis zur Ankunft des Messias in der Diaspora bleiben müßten, mußten sie schweigend dulden“ sagt Schitlovski [20], dessen Zionismus recht umständebedingt ist. Es handelt sich nämlich genau darum zu erfahren, warum die jüdischen Massen glaubten, daß sie, „um in ihre Heimat zurückkehren zu können“, den Messias erwarten müßten. Die Religion, die ein ideologischer Reflex der hinter ihr stehenden gesellschaftlichen Interessen ist, muß diesen notwendigerweise entsprechen. Heute bildet die Religion nirgends mehr ein Hindernis für den Zionismus. [21]
In Wirklichkeit war, solange das Judentum im feudalen System seinen Platz hatte, der „Traum von Zion“ nichts anderes als ein Traum und entsprach keinem realen Interesse des Judentums. Der jüdische Gastwirt oder „Pächter“ im Polen des 16. Jahrhunderts dachte ebensowenig an eine „Rückkehr“ nach Palästina wie heute der jüdische Millionär in Amerika. Der jüdische Messianismus unterschied sich durch nichts von den Messianismen anderer Religionen. Die jüdischen Pilger, die nach Palästina zogen, trafen dort katholische, orthodoxe und muselmanische Pilger. Es war übrigens nicht so sehr die „Rückkehr nach Palästina“, die den Grund für diesen Messianismus bildete, sondern eher der Glaube an dem Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem.
All diese idealistischen Konzeptionen des Zionismus sind natürlich untrennbar mit dem Dogma des ewigen Antisemitismus verbunden. „Solange die Juden in der Diaspora leben, werden sie von den einheimischen Bewohnern gehaßt werden.“ Dieser Grundgedanke des Zionismus, sein Gerippe sozusagen, wird natürlich durch diverse Strömungen nuanciert. Der Zionismus überträgt den modernen Antisemitismus auf alle Zeiten. Er erspart sich das Studium der verschiedenen Formen des Antisemitismus und seiner Entwicklung. Wir haben aber gesehen, daß das Judentum zu verschiedenen geschichtlichen Epochen den besitzenden Klassen angehörte und wie diese behandelt wurde. Im Ganzen gesehen müssen die Quellen des Zionismus wohl in der Unmöglichkeit gesucht werden, sich zu assimilieren, anstatt in einem „ewigen“ Antisemitismus oder dem Willen, die „Reichtümer des Judentums“ zu erhalten. [22]
In Wirklichkeit ist die zionistische Ideologie, wie alle Ideologien, nichts anderes als eine verzerrte Widerspiegelung der Interessen einer bestimmten Klasse. Er ist die Ideologie des jüdischen Kleinbürgertums, das zwischen den Ruinen des Feudalismus und dem absterbenden Kapitalismus zerrieben würde. Die Widerlegung der ideologischen Phantastereien schafft natürlich die wirklichen Bedürfnisse, aus denen jene entstanden sind, nicht aus der Welt. Es ist der moderne Antisemitismus, der den Zionismus schürt, und nicht der Mythos des „ewigen Antisemitismus“. Ebenso ist die wesentliche Frage nicht, inwieweit der Zionismus fähig ist, das „ewige“ jüdische Problem zu lösen, sondern ob er fähig ist, die jüdische Frage zur Zeit des kapitalistischen Niedergangs zu lösen.
Die zionistischen Theoretiker lieben den Vergleich des Zionismus mit allen anderen nationalen Bewegungen. Aber in Wirklichkeit sind die Grundlagen nationaler Bewegungen und die des Zionismus völlig verschieden. Die nationale Bewegung der europäischen Bourgeoisie ist eine Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung; sie spiegelt den Willen des Bürgertums wider, sich der feudalen Überreste zu entledigen. Der Nationalismus der europäischen Bourgeoisie ist eng verbunden mit dem aufsteigenden Kapitalismus. Im 19. Jahrhundert, der Blütezeit der Nationalismen, war das jüdische Bürgertum jedoch weit vom Zionismus entfernt und in großem Maße assimilierungswillig. Der wirtschaftliche Prozeß, aus dem die modernen Nationen hervorgegangen sind, legte den Grundstein für die Integration des jüdischen Bürgertums in die bürgerliche Nation.
Erst als der Prozeß der Bildung der Nationen seinem Ende zuging, als den entfalteten Produktivkräften die nationalen Grenzen schon längst zu eng geworden sind, beginnt man, die Juden aus der kapitalistischen Gesellschaft auszustoßen. Der moderne Antisemitismus entsteht. Die Ausrottung des Judentums begleitet den Niedergang des Kapitalismus. Weit davon entfernt, Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte zu sein, ist der Zionismus gerade die Konsequenz des totalen Stillstands der Entwicklung, das Resultat der kapitalistischen Erstarrung. Während der Nationalismus das Ergebnis der Entfaltung des Kapitalismus ist, ist der Zionismus ein Produkt der imperialistischen Ära. Die jüdische Tragödie des 20. Jahrhunderts ist eine direkte Folge des Niedergangs des Kapitalismus.
Hier liegt das prinzipielle Hindernis für die Verwirklichung des Zionismus. Der Niedergang des Kapitalismus, Grundlage für das Wachstum des Zionismus, ist auch die Ursache für die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung. Das jüdische Bürgertum ist verpflichtet, mit allen Mitteln einen eigenständigen Nationalstaat zu schaffen und den objektiven Rahmen für die Entfaltung seiner Produktivkräfte sichern – und das zu einer Zeit, wo die Bedingungen einer solchen Entwicklung längst vorüber sind. Der Niedergang des Kapitalismus, der die jüdische Frage so sehr zugespitzt hat, hat auch ihre Lösung durch den Zionismus illusorisch gemacht. Das ist keineswegs erstaunlich. Man kann ein Übel nicht ohne seine Ursachen beseitigen. Der Zionismus aber will die jüdische Frage lösen, ohne den Kapitalismus, die Hauptquelle der jüdischen Leiden, zu zerstören.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als das jüdische Problem sich erst in seiner ganzen Schärfe stellte, verließen 150.000 Juden jährlich ihr Ursprungsland. Zwischen 1881 und 1925 sind 4 Millionen Juden ausgewandert. Trotz dieser enormen Zahlen wächst die ostjüdische Bevölkerung von 6 auf 8 Millionen an.
Selbst wenn der Kapitalismus sich noch weiter entfalten würde, wenn die Überseeländer noch weiterhin Emigranten aufnehmen würden, wäre eine Lösung der jüdischen Frage (im zionistischen Sinn) noch in unerreichbarer Ferne. Anstatt sich zu verringern, zeigt die jüdische Bevölkerung immer noch die Tendenz, sich zu vermehren. Um einen wirklichen Anfang bei der Lösung der jüdischen Frage zu machen, d.h. um die jüdischen Massen wirklich zu verpflanzen, wäre es nötig, daß die Immigrationsländer wenigstens etwas mehr als das natürliche Wachstum der Juden in der Diaspora, also wenigstens 300.000 Juden pro Jahr absorbieren. Und wenn vor dem ersten Imperialistischen Kriege, als noch alle Bedingungen für die Emigration günstig waren, als noch alle fortgeschrittenen Länder, wie die USA, Immigranten in Massen aufnahmen, eine solche Zahl nicht erreicht werden konnte, wie sollte dies dann in der schweren Krise des Kapitalismus und in der Perlode endloser Kriege möglich sein?
Natürlich gibt es genügend Schiffe in der Welt, um Hunderttausende oder gar Millionen Juden zu transportieren. Aber wenn alle Länder den Emigranten die Türen verschlossen, so deshalb, weil eine Überproduktion von Arbeitskräften existierte, wie es auch eine Überproduktion von Waren gibt. Im Gegensatz zur These von Malthus, nach der es zu viel Menschen auf der Erde geben werde, weil es zu wenig Produkte geben werde, ist es gerade der Überfluß an Produkten, der den „Überfluß“ an Menschen erzeugt. Welches Wunder hätte – selbst in einem noch so reichen und noch so großen Land – zu einer Zelt, wo die Märkte der Welt mit Produkten gesättigt sind und überall permanente Arbeitslosigkeit herrscht, die Produktivkräfte in dem Maße entwickeln können, um 300.000 Einwanderer jährlich zu verkraften (ganz abgesehen von den besonderen Voraussetzungen des armen und kleinen Palästina)? In Wirklichkeit verringerten sich die Auswanderungsmöglichkeiten für die Juden in demselben Maße, in dem ihre Notwendigkeit stieg. Die Gründe für die Emigration sind dieselben, die ihre Verwirklichung verhindern, sie sind auf den Niedergang des Kapitalismus zurückzuführen.
Gerade dieser grundlegende Widerspruch zwischen der Notwendigkeit und der Möglichkeit der Auswanderung macht auch die politische Schwierigkeit des Zionismus aus. Die Entwicklungsphase der europäischen Nationen ging einher mit der intensiven Kolonisierung der Überseeländer. Nordamerika wurde zu Beginn und Mitte des 19. Jahrhunderts – der goldenen Jahre des europäischen Nationalismus – kolonisiert. Zur selben Zelt begannen auch Südamerika und Australien sich zu entwickeln. Weite Teile der Erde waren nahezu herrenlos und eigneten sich vorzüglich dazu, Millionen europäischer Emigranten aufzunehmen. Zu dieser Zeit dachten die Juden gar nicht oder kaum an Emigration – aus Gründen, die wir bereits kennengelernt haben.
Heute ist die ganze Welt kolonisiert, industrialisiert und unter den verschiedenen imperialistischen Mächten aufgeteilt. Die jüdischen Auswanderer prallen zugleich auf den Nationalismus der „Eingeborenen“ und auf den jeweils dominierenden Imperialismus. In Palästina stößt der jüdische Nationalismus auf einen immer aggressiveren arabischen Nationalismus. Die Bereicherung Palästinas durch die Emigranten vergrößert noch die Intensität des arabischen Nationalismus. Die Entwicklung des Landes zieht das Anwachsen der arabischen Bevölkerung, deren gesellschaftliche Differenzierung und die Entfaltung eines nationalen Kapitalismus nach sich. Um den arabischen Widerstand zu brechen, bedürfen die Juden des englischen Imperialismus. Aber seine „Unterstützung“ ist nicht weniger schädlich als der arabische Widerstand. Der englische Imperialismus sieht zwar mit Wohlwollen eine schwache jüdische Einwanderung, die ein Gegengewicht gegen die Araber bildet. Aber er ist entschieden gegen eine jüdische Immigration größeren Stils, gegen die industrielle Entwicklung und das Anwachsen des Proletariats in Palästina. Die Juden dienen ihm nur zur Neutralisierung der arabischen Bedrohung. Er tut alles, um die jüdische Immigration zu erschweren.
So gesellt sich zu den wachsenden Schwierigkeiten, die der arabische Widerstand macht, das perfide Spiel des britischen Imperialismus. Schließlich muß man noch einen letzten Schluß aus den bisher entwickelten grundsätzlichen Prämissen ziehen: Infolge ihres notwendigerweise künstlichen Charakters, infolge ihrer geringen Aussichten auf eine schnelle und normale Entwicklung der palästinensischen Wirtschaft braucht die zionistische Kolonisierung heute beträchtliche Kapitalien. Der Zionismus verlangt den jüdischen Rassen in aller Welt in zunehmendem Maße Opfer ab. Solange jedoch die Lage der Juden in der Diaspora mehr oder weniger erträglich ist, verspürt keine jüdische Klasse den Drang, Opfer auf sich zu nehmen. Je mehr jedoch die jüdischen Massen die Notwendigkeit eines eigenen Vaterlandes empfinden, je mehr die Judenverfolgungen zunehmen, desto weniger sind die jüdischen Massen in der Lage, das Werk des Zionismus zu unterstützen. „Der Wiederaufbau Palästinas braucht ein starkes jüdisches Volk in der Diaspora“, sagt Ruppin. Aber solange das jüdische Volk in der Diaspora stark ist, verspürt es keinen Drang, Palästina zu helfen. Will es jedoch, fehlen ihm die Mittel dazu. Es wäre schwierig, die europäischen Juden, deren erste Sorge heute die Emigration ist, dazu zu bringen, den Wiederaufbau Palästinas zu unterstützen. An dem Tag, an dein sie dazu in der Lage sein werden, wird sich ihr Enthusiasmus sicherlich sehr verringern.
Man kann natürlich einen relativen Erfolg des Zionismus nicht ausschließen, derart etwa, daß eine jüdische Mehrheit in Palästina entsteht. Denkbar wäre sogar die Bildung eines „jüdischen Staates“, d.h. eines Staates unter der vollständigen Herrschaft des englischen oder amerikanischen Imperialismus. Dies wäre in gewisser Weise eine Rückkehr zum Stand der Dinge vor der Zerstörung Jerusalems, und aus dieser Sicht könnte man sogar von der „Wiedergutmachung einer zweitausend Jahre alten Ungerechtigkeit“ sprechen. Aber dieser winzige, „unabhängige“ jüdische Staat inmitten einer weltweiten Diaspora wäre nichts anderes als eine offensichtliche Zurückdrehung der Geschichte auf die Zeit vor dem Jahre 70 n.Chr. Es wäre noch einmal der Beginn der Lösung der jüdischen Frage. In der Tat hatte die Diaspora im römischen Reich solide wirtschaftliche Grundlagen. Die Juden spielten in der damaligen Welt eine wichtige ökonomische Rolle. Die Existenz oder Nicht-Existenz einer jüdischen Metropole hatte für die Juden der damaligen Zeit nur eine sekundäre Bedeutung. Heute handelt es sich nicht mehr darum, den Juden einen politischen oder geistigen Mittelpunkt zu geben (wie es Achad Haam [23] wollte). Es geht vielmehr darum, das Judentum vor der Vernichtung zu bewahren, die ihm in der Diaspora droht. Was aber kann ein kleiner jüdischer Staat in Palästina an der Situation der polnischen oder deutschen Juden ändern? Angenommen, alle Juden der Welt wären heute Bürger Palästinas: Würde dies die Politik Hitlers beeinflussen? Man muß mit unglaublicher juristischer Naivität geschlagen sein, um zu glauben, daß gerade heute die Schaffung eines kleinen jüdischen Staates in Palästina irgend etwas an der Lage der Juden in der Welt ändern könnte. Die eventuelle Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina würde den Stand der Dinge im römischen Reich nur in einer Hinsicht gleichen, daß nämlich in beiden Fällen die Existenz eines kleinen jüdischen Staates in Palästina keinen Einfluß auf die Situation der Juden in der Diaspora hätte. Zur Zeit Roms war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung des Judentums in der Diaspora sehr stark. Auch das Verschwinden des jüdischen Staates konnte sie nicht berühren. Heute hat sich die Lage der Juden in der ganzen Welt sehr verschlechtert: Auch die Errichtung eines jüdischen Staates könnte sie nicht verbessern. In beiden Fällen hängt das Schicksal der Juden nicht von der Existenz eines jüdischen Staates in Palästina ab, sondern hat ihre ganz bestimmte Funktion im allgemeinen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kontext. Selbst unter der Annahme, daß der zionistische Traum in Erfüllung ginge und die „jahrhundertealte Ungerechtigkeit“ beseitigt würde (was in weiter Ferne liegt), so würde dadurch die Lage des Weltjudentums nicht verändert. Der Tempel wäre vielleicht wieder errichtet, aber die Gläubigen würden ihren Leidensweg weitergehen.
Die Geschichte des Zionismus ist die beste Illustrierung der unüberwindbaren Schwierigkeiten, auf die er stößt. Diese Schwierigkeiten entstehen letzten Endes aus dem grundlegenden Widerspruch, an dem er krankt: der Antinomie zwischen der wachsenden Notwendigkeit, die jüdische Frage zu lösen, und der wachsenden Unmöglichkeit, dies unter dem Vorzeichen des im Niedergang befindlichen Kapitalismus zu tun. Unmittelbar nach dem imperialistischen Krieg stellten sich der jüdischen Emigration keine großen Hindernisse entgegen. Die wirtschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Länder nach dem Krieg ließen eine Auswanderung nicht als sehr dringlich erscheinen. Die Emigrationsbewegung war daher sehr schwach. Das war übrigens auch der Grund, weshalb die britische Regierung der Einreise der Juden in Palästina keine größeren Hindernisse in den Weg stellte. In den Jahren 1924, 1925 und 1926 eröffnete die polnische Bourgeoisie eine wirtschaftliche Offensive gegen die jüdischen Massen. In diesen Jahren stieg die Einwandererquote in Palästina sehr an. Aber diese massive Zuwanderung stieß rasch auf unüberwindbare wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der Rückfluß der Emigranten war beinahe ebenso groß wie ihr Zufluß. Bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 blieb die Immigrationsquote in Palästina gering. Nach diesem Ereignis zogen Zehntausende von Juden nach Palästina. Diese „Hochkonjunktur“ erlahmte bald unter dem Druck antijüdischer Manifestationen und Judenmassakern. Die Araber befürchteten ernsthaft, eine Minderheit im eigenen Lande zu werden. Die arabischen Feudalherren befürchteten, von der kapitalistischen Welle hinweggeschwemmt zu werden. Der britische Imperialismus nützte diese Spannung aus, um den Juden die Einreise zu erschweren und den Graben zwischen Juden und Arabern zu vertiefen. Bis zum zweiten imperialistischen Krieg sah sich der Zionismus wachsenden Schwierigkeiten gegenüber. Die palästinensische Bevölkerung lebte in einem Zustand ständigen Terrors. Gerade als die Lage der Juden immer verzweifelter wurde, zeigte sich der Zionismus völlig unfähig, hier ein Heilmittel zu finden. Die „heimlichen“ jüdischen Einwanderer wurden mit Schüssen aus den Gewehren ihrer britischen „Beschützer“ empfangen.
Die zionistische Illusion verlor nach und nach ihre Anziehungskraft selbst in den Augen der weniger Aufgeklärten. Die letzten Wahlen in Polen zeigten, daß sich die jüdischen Massen völlig vom Zionismus abgewandt hatten. Sie fingen an zu begreifen, daß der Zionismus ihre Lage nicht nur nicht ernsthaft verbessern konnte, sondern daß er den Antisemiten mit seinen Theorien über die „objektive Notwendigkeit der jüdischen Auswanderung“ nur die Waffen lieferte. Der imperialistische Krieg und der Triumph des Hitlerismus in Europa wurden für das Judentum zum Verhängnis ohnegleichen. Das Judentum ist von vollständiger Ausrottung bedroht. Was bedeutet der Zionismus in Anbetracht einer solchen Katastrophe? Ist es nicht offensichtlich, daß die jüdische Frage sehr wenig vom zukünftigen Geschick Tel-Avivs abhängt, in starkem Maße jedoch von dem Regime, das morgen in Europa und in der Welt dominiert? Die Zionisten setzen große Hoffnungen in einen Sieg der angelsächsischen Imperialisten. Aber besteht denn irgend ein Grund für die Annahme, daß die Haltung der angelsächsischen Imperialisten sich nach einem eventuellen Sieg ändern werde? Nicht im Geringsten! Selbst wenn der angelsächsische Imperialismus in irgendeiner Art die Mißgeburt eines jüdischen Staates bewirkte, würde dadurch – wie wir gesehen haben – die Lage des Weltjudentums nicht beeinflußt. Eine Einwanderung größeren Stils in Palästina würde nach diesem Krieg auf dieselben Schwierigkeiten stoßen, wie vorher. [24] Unter den Voraussetzungen des Niedergangs des Kapitalismus ist es unmöglich, Millionen von Juden zu verpflanzen. Nur eine weltweite sozialistische Planwirtschaft wäre zu solch einem Wunder fähig. Aber dies setzte natürlich die sozialistische Revolution voraus.
Der Zionismus aber will das jüdische Problem unabhängig von der Weltrevolution lösen. Da der Zionismus die wirklichen Quellen der jüdischen Frage in unserer Zeit verkennt und sich in kindischen Träumen und dummen Hoffnungen wiegt, zeigt er sich als ideologischer Auswuchs ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert.
1. La Situation économique des Juifs dans le monde, op. cit.
2. Ebd.
3. Ebd.
4. Yiddische Ekonomik, September-Oktober 1938.
5. In Warschau waren 1882 79,3 % der Kaufleute Juden. 1931 nur noch 51 %. J. Lestschinskiy, Der wirtschaftliche Zusammenbrach der Juden in Deutachland und Polen, Paris/Genf, Jüdischer Weltkongreß 1936. (R)
6. Zu einer Zeit, wo die kleinbürgerlichen jüdischen und nicht-jüdischen Intellektuellen Hitler als den einzigen Verantwortlichen des Antisemitismus in unserer Zeit darstellen, zu einer Zeit, wo die Vereinten Nationen, unter ihnen Polen, die Verteidigung der „Menschenrechte“ übernehmen, dürfte es nicht nutzlos sein, dies ins Gedächtnis zurückzurufen. Sicherlich hat Hitler in ausgeklügelter Weise die Zerstörung des europäischen Judentums vorbereitet. Hier, wie auf anderen Gebieten personifiziert er die kapitalistische Barbarei, aber die verschiedenen Regierungen, mehr oder minder demokratisch, die sich in Polen ablösen, hätten nicht viel von ihm lernen können. Das Verschwinden Hitlers kann nichts Wesentliches zur Veränderung der Lage der Juden beitragen. Eine vorübergehende Verbesserung des jüdischen Schicksals wird die tiefen Wurzeln des Antisemitismus im 20. Jahrhundert nicht beseitigen.
7. La Situation économique des Juifs dans le monde, op. cit.
8. La Situation économique des Juifs dans le monde, op. cit., S. 252.
9. Yiddische Ekonomik, Mai-Juni 1938.
10. Entfallt.
11. F. Engels an F. Mehring am 14. Juli 1893, MEW 39, Berlin 1969, S. 97.
12. Ochrana ist die zaristische Geheimpolizei; das Dokument, auf das Leon sich bezieht, ließ sich nicht ermitteln.
13. Vgl. die Utopie Proudhons über den „crédit gratuit“.
14. Hans Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes.
15. D.h. die Bauern“befreiung“ Zar Alexanders II.
16. Leon Pinsker (1821-1891) stammte aus Odessa; zunächst Anhänger der Assimilation, entwickelte er sich neben Herzl zu dem bedeutendsten frühen Vertreter der zionistischen Ideologie. 1882 erschien seine aufsehenerregende Schrift Autoemanzipation.
17. Poale-Zion = Weltverband zionistischer Arbeiter.
18. Ben Adir, Antisemitisme, Algemeine yidishe Encyklopedie.
19. Siehe Anm. V, 22.
20. Chajm Schitlovskij, Der socialism un di nacionale Frage, E. Yiddish, New York 1908.
21. Es gibt eine bürgerliche religiös-zionistische (Misrakhi) und eine proletarische religiös-zionistische Partei (Poale-Misrakhi).
22. Vgl. A. Böhm, Die Zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkrieges, Jüdischer Verlag Berlin, (Wien) 1935, S. 16 ff.
23. Achad Haam (Usher Ginzberg – 1856-1927), bedeutender Vertreter des Zionismus, der die Idee einer politischen Staatsgründung in Palästina ablehnte.
24. Es geht in diesem Kapitel nur um den Zionismus in Beziehung zur jüdischen Frage. Die Rolle des Zionismus in Palästina ist natürlich eine andere Frage.
Zuletzt aktualisiert am 8 April 2010