Wladimir Iljitsch Lenin

 

Sozialismus und Krieg

 

I. Kapitel:
Die Grundsätze des Sozialismus und der Krieg 1914/1915

 

Die Stellung der Sozialisten zu Kriegen

Die Sozialisten haben die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt. Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten (der Friedensfreunde und Friedensprediger) und der Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes, durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen, ferner auch dadurch, daß wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, d.h. von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse, der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer, der Lohnarbeiter gegen die Bourgeoisie. Von den Pazifisten wie von den Anarchisten unterscheiden wir Marxisten uns weiter dadurch, daß wir es für notwendig halten, einen jeden Krieg in seiner Besonderheit historisch (vom Standpunkt des Marxschen dialektischen Materialismus) zu analysieren. Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz aller Greuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, d.h. der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (z.B. den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben. Wir müssen daher die historischen Besonderheiten eben des jetzigen Krieges untersuchen.

 

 

Die historischen Typen von Kriegen in der Neuzeit

Die große Französische Revolution eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit. Von dieser Zeit bis zur Pariser Kommune, von 1789 bis 1871, stellten die bürgerlich-fortschrittlichen nationalen Befreiungskriege einen besonderen Typus von Kriegen dar. Mit anderen Worten: Der Hauptinhalt und die historische Bedeutung dieser Kriege waren die Beseitigung des Absolutismus und des Feudalismus, ihre Untergrabung die Abwerfung eines national fremden Jochs. Sie waren daher fortschrittliche Kriege, und alle aufrechten, revolutionären Demokraten, ebenso wie alle Sozialisten, wünschten bei solchen Kriegen stets den Sieg desjenigen Landes (d.h. derjeniger Bourgeoisie), das zur Beseitigung oder Untergrabung der gefährlichsten Stützpfeiler des Feudalismus, des Absolutismus und der Unterdrückung fremder Völker beitrug. Die Revolutionskriege Frankreichs z.B. enthielten ein Element der Ausplünderung und der Eroberung fremder Territorien durch die Franzosen, aber das ändert durchus nichts an der grundlegenden historischen Bedeutung dieser Kriege, die den Feudalismus und Absolutismus in dem ganzen alten in die Fesseln der Leibeigenschaft geschlagenen Europa zerstörten oder doch erschütterten. Im deutsch-französischen Krieg wurde Frankreich durch Deutschland beraubt, aber das ändert nichts an der grundlegenden historischen Bedeutung dieses Krieges, der Millionen und aber Millionen Deutsche von feudaler Zersplitterung und von der Unterdrückung durch zwei Despoten, den russischen Zaren und Napoleon III., befreite.

 

 

Der Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg

Die Epoche von 1789 bis 1871 hinterließ tiefe Spuren und revolutionäre Erinnerungen. Vor dem Sturz des Feudalismus. des Absolutismus und der Fremdherrschaft konnte von einer Entwicklung des proletarischen Kampfes um den Sozialismus nicht die Rede sein. Sprachen die Sozialisten im Hinblick auf die Kriege einer solchen Epoche von der Berechtigung des „Verteidigungs”krieges, so bauen sie stets gerade diese Ziele, das heißt die Revolution gegen Mittelalter und Leibeigenschaft im Auge. Die Sozialisten verstanden unter einem „Verteidigungs”krieg stets einen in diesem Sinne „gerechten” Krieg (wie sich Wilhelm Liebknecht einmal ausdrückte). Nut in diesem Sinne erkannten und erkennen jetzt noch die Sozialisten die Berechtigung, den fortschrittlichen und gerechten Charakter der „Vaterlandsverteidigung” oder des „Verteidigungs”krieges an. Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Rußland usw. den Krieg erklärten, so wären das gerechte Kriege, Verteidigungs kriegc, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber - über die „Groß”mächte - sympathisieren.

Aber stellen wir uns einmal vor, ein Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, läge im Krieg mit einem anderen Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, um die „gerechtere” Neuaufteilung der Sklaven. Es ist klar, daß die Anwendung der Begriffe „Verteidigings”krieg oder „Vaterlandsverteidigung” auf einen solchen Fall historisch verlogen und praktisch ein glatter Betrug wäre, begangen von gerissenen Sklavenhaltern am einfachen Volk, an den Kleinbürgern, an der unaufgeklärten Masse. Ganz genauso werden im gegenwärtigen Krieg, den die Sklavenhalter führen, um die Sklaverei aufrechtzuerhalten und zu verstärken, die Völker von der heutigen imperialistischen Bourgeoisie mittels der „nationalen” Ideologie und des Begriffs der Vaterlandsverteidigung betrogen.

 

 

Der gegenwärtige Krieg ist ein imperialistischer Krieg

Fast alle erkennen an, daß der heutige Krieg ein imperialistischer Krieg ist, aber zumeist verfälscht man diesen Begriff oder wendet ihn jeweils nur auf eine Seite an oder unterstellt schließlich trotzdem die Möglichkeit, daß dieser Krieg die Bedeutung eines bürgerlich-fortschrittlichen, eines nationalen Befreiungskrieges haben könne. Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß nahezu: der ganze Erdball unter diese „Kapitalgewaltigen” aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der „Groß”mächte uni die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.

 

 

Der Krieg zwischen den größten Sklavenhaltern um die Aufrechterhaltung und Festigung der Sklaverei

Um die Bedeutung des Imperialismus zu erläutern, seien hier exakte Angaben über die Aufteilung der Welt unter die sog. „großen” (das heißt in der Räuberei großen Stils erfolgreichen) Mächte angeführt.

Aufteilung der Welt unter die „großen” Sklavenhaltermächte

Kolonien

Metropolen

Insgesamt

1876

1914

1914

1914

„Groß”mächte

qkm

Einw.

qkm

Einw.

qkm

Einw.

qkm

Einw.

Millionen

Millionen

Millionen

Millionen

England

22,5

251,9

33,5

393,5

  0,3

  46,5

  33,8

   440,0

Rußland

17,0

  15,9

17,4

  33,2

  5,4

136,2

  22,8

   169,4

Frankreich

  0,9

    6,0

10,6

  55,5

  0,5

  39,6

  11,1

     95,1

Deutschland

  2,9

  12,3

  0,5

  64,9

    3,4

     77,2

Japan

  0,3

  19,2

  0,4

  53,0

    0,7

     72,2

V. Staaten von
Nordamerika

  0,3

    9,7

  9,4

  97,0

    9,7

   106,7

Sechs „Groß”mächte

40,4

273,8

65,0

523,4

16,5

437,2

  81,5

   960,6

Kolonien, die nicht den Großmächten (sondern
Belgien, Holland und anderen Staaten) gehören

  9,9

  45,3

    9,9

     45,3

Drei „halbkoloniale” Länder
(Türkei, China und Persien)

14,5

   361,1

Insgesamt

105,9

1,367,1

Andere Staaten und Länder

  28,0

   289,9

Der ganze Erdball (ohne Polargebiet)

133,9

1.657,0

Hieraus wird ersichtlich, wie die Völker, die von 1789 bis 1871 im Kampf um die Freiheit zum größten Teil an der Spitze der übrigen Völker standen, sich nunmehr, nach 1876, auf dem Boden des hochentwickelten und überreifen” Kapitalismus in Unterdrücker und Beherrscher der Mehrheit aller Erdbewohner und aller Nationen der Welt verwandelt haben. Von 1876 bis 1914 haben die sechs „Groß”mächte 25 Millionen Quadratkilometer an sich gerissen, d.h. ein Gebiet, das zweieinhalbmal so groß ist wie ganz Europa! Sechs Mächte halten mehr als eine halbe Milliarde (523 Millionen) Bewohner der Kolonien unter ihrem Joch. Auf je 4 Einwohner der „Groß”mächte kommen 5 in „ihren” Kolonien. Und jeder weiß, daß die Kolonien mit Feuer und Schwert erobert worden sind, daß die Kolonialbevölkerung wie Vieh behandelt wird, daß sie mit tausenderlei Methoden ausgebeutet wird (mittels Kapitalexport, Konzessionen usw., durch Betrug beim Verkauf der Waren, Unterwerfung unter die Machtorgane der „herrschenden” Nation und so weitet und so fort). Die englische und die französische Bourgeoisie betrügen das Volk, wenn sie behaupten, sie führten den Krieg für die Freiheit der Völker und Belgiens: in Wirklichkeit führen sie ihn, um die von ihnen massenhaft zusammengeraubten Kolonien behalten zu können. Die deutschen Imperialisten würden Belgien usw. sofort freigeben, wenn die Engländer und Franzosen ihre Kolonien „brüderlich” mit ihnen teilen wollten. Das Eigenartige der Lage besteht darin, daß in diesem Krieg die Geschicke der Kolonien durch den Krieg auf dem Kontinent entschieden werden. Vom Standpunkt der bürgerlichen Gerechtigkeit und nationalen Freiheit (oder des Existenzrechts der Nationen>

wäre Deutschland unbedingt im Recht gegen England und Frankreich, denn es ist bei der Teilung der Kolonien übervorteilt worden, seine Feinde halten unvergleichlich mehr Nationen unter ihrer Botmäßigkeit als es selbst, und im Reiche seines Verbündeten, in Österreich, genießen die unterdrückten Slawen zweifellos größere Freiheit als im zaristischen Rußland, diesem wahren „Völkergefängnis”. Aber Deutschland selbst kämpft nicht für die Befreiung, sondern für die Unterdrückung der Nationen. Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (Deutschland) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen. Zu diesem Zweck müssen die Sozialisten vor allem dem Volk die Wahrheit sagen, nämlich, daß dieser Krieg in dreifachem Sinne ein Krieg der Sklavenhalter für die Verstärkung der Sklaverei ist. Er wird geführt 1. zur Festigung der Kolonialherrschaft durch „gerechtere” Aufteilung und weitere, mehr „solidarische” Ausbeutung der Kolonien; 2. zur verstärkten Unterdrückung der fremden Nationen in den Ländern der „Groß”mächte selbst denn sowohl Österreich wie auch Rußland (Rußland in viel stärkerem und höherem Grade als Österreich) halten sich nur mittels dieser Unterdrückung, die sie durch den Krieg noch verschärfen; 3. zur Festigung und Verlängerung der Lohnsklaverei, denn das Proletariat wird durch ihn gespalten und niedergehalten, während die Kapitalisten davon profitieren, da sie sich am Krieg bereichern, die nationalen Vorurteile schüren und die Reaktion stärken, die in allen, selbst in den freiesten und republikanischen Ländern ihr Haupt erhoben hat.

 

 

„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern” (nämlich: gewaltsamen) „Mitteln” [2]

Dieser berühmte Ausspruch stammt von Clausewitz einem der geistvollsten Militärschriftsteller. Die Marxisten haben diesen Satz mit Recht stets als theoretische Grundlage ihrer Auffassungen von der Bedeutung eines jeden konkreten Krieges betrachtet. Marx und Engels haben die verschiedenen Kriege stets von diesem und keinem anderen Standpunkt aus beurteilt.

Man wende diese Auffassung nun auf den gegenwärtigen Krieg an. Man wird sehen, daß die Regierungen und die herrschenden Klassen Englands wie Frankreichs, Deutschlands wie Italiens, Österreichs wie Rußlands jahrzehntelang, nahezu ein halbes Jahrhundert lang, eine Politik des Kolonialraubs, der Unterjochung fremder Nationen, der Unterdrückung der Arbeiterbewegung getrieben haben. Genau diese Politik, und nur diese, wird im gegenwärtigen Krieg fortgesetzt. Insbesondere hat sowohl in Österreich als auch in Rußland die Politik der Friedens- wie der Kriegszeit die Versklavung der Nationen, nicht ihre Befreiung zum Inhalt. Umgekehrt sehen wir in China, Persien Indien und in anderen abhängigen Ländern im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Politik des Erwachens von Dutzenden und Hunderten Millionen Menschen zum nationalen Leben, ihrer Befreiung vom Joch der reaktionären Groß”mächte. Auf solchem historischen Boden kann der Krieg auch heute ein bürgerlich-fortschrittlicher, ein nationaler Befreiungskrieg sein.

Man braucht den gegenwärtigen Krieg nur von dem Standpunkt aus zu betrachten, daß in diesem Krieg die Politik der

Großmächte und der maßgebenden Klassen in ihnen fortgesetzt wird, um sofort den himmelschreiend antihistorischen, verlogenen und heuchlerischen Charakter der Ansicht zu erkennen, daß man in diesem Krieg die Idee der „Vaterlandsverteidigung” rechtfertigen könne.

 

 

Das belgische Beispiel

Die Sozialchauvinisten des Dreiverbands (jetzt Vierverbands), (in Rußland Plechanow und Co.) berufen sich mit Vorliebe auf das belgische Beispiel. Aber dieses Beispiel spricht gegen sie. Die deutschen Imperialisten haben die Neutralität Belgiens schamlos gebrochen, wie es die kriegführenden Staaten, die im Bedarfsfall alle Verträge und eingegangenen Verpflichtungen brechen, stets und überall getan haben. Angenommen, alle an der Einhaltung der internationalen Verträge interessierten Staaten hätten Deutschland den Krieg erklärt mit der Forderung, Belgien zu räumen und zu entschädigen. In diesem Fall wäre die Sympathie der Sozialisten natürlich auf seiten der Feinde Deutschlands. Aber der Haken ist gerade der, daß der „Drei(bzw. Vier)verband” den Krieg nicht um Belgiens willen führt; das ist aller Welt bekannt, und nur Heuchler suchen es zu vertuschen. England will die deutschen Kolonien und die Türkei plündern, Rußland Galizien und die Türkei, Frankreich strebt nach Elsaß-Lothringen, ja sogar nach dein linken Rheinufer; mit Italien ist ein Vertrag geschlossen über die Teilung der Beute (Albanien, Kleinasien); mit Bulgarien und Rumänien wird gleichfalls um die Teilung der Beute geschachert. Auf der Basis des gegenwärtigen Krieges zwischen den gegenwärtigen Regierungen kann man Belgien nicht anders helfen als dadurch, daß man mithilft, Österreich oder die Türkei usw. zu erdrosseln! Was hat das mit „Vaterlandsverteidigung” zu tun?? Darin besteht doch gerade die Besonderheit des imperialistischen Krieges, eines Krieges zwischen reaktionär-bürgerlichen, historisch überlebten Regierungen, eines Krieges, der geführt wird zwecks Unterdrückung anderer Nationen. Wer die Teilnahme an diesem Krieg gutheißt der verewigt die imperialistische Unterdrückung der Nationen. Wer dafür eintritt, die Schwierigkeiten, in denen sich die Regierungen jetzt befinden, für den Kampf um die soziale Revolution auszunutzen, der verficht die wirkliche Freiheit wirklich aller Völker, die nur im Sozialismus durchführbar ist.

 

 

Wofür kämpft Rußland?

In Rußland fand der kapitalistische Imperialismus moderner Prägung seinen klaren Ausdruck in der Politik des Zarismus gegenüber Persien, der Mandschurei und der Mongolei, aber im großen und ganzen überwiegt in Rußland der militärische und feudale Imperialismus. Nirgends in der Welt gibt es eine solche Unterdrückung der Mehrheit der Landesbevölkerung wie in Rußland: Die Großrussen machen nur 43 Prozent der Bevölkerung aus, d.h. weniger als die Hälfte, alle anderen aber sind als „Fremdstämmige” entrechtet. Von den 170 Millionen Einwohnern Rußlands sind rund 100 Millionen unterdrückt und entrechtet. Der Zarismus führt den Krieg, um Galizien zu erobern und die Freiheit der Ukrainer endgültig zu erwürgen, um Armenien, Konstantinopel usw. zu erobern. Der Zarismus sieht im Krieg ein Mittel, die Aufmerksamkeit von der wachsenden Unzufriedenheit im Innern des Landes abzulenken und die anschwellende revolutionäre Bewegung zu unterdrücken. Gegenwärtig entfallen im Russischen Reich auf zwei Großrussen zwei bis drei rechtlose Fremdstämmige”; mittels des Krieges sucht der Zarismus die Anzahl der von Rußland unterdrückten Nationen zu erhöhen, ihn Unterdrückung zu verstärken und so auch den Freiheitskampf der Großrussen selbst zu lähmen. Die Möglichkeit, fremde Völker zu unterdrücken und auszuplündern, verstärkt den ökonomischen Stillstand, denn als Profitquelle dient statt der Entwicklung der Produktivkräfte nicht selten die halbfeudale Ausbeutung der Fremdstämmigen”. Auf seiten Rußlands trägt der Krieg also einen ausgesprochen reaktionären und freiheitsfeindlichen Charakter.

 

 

Was ist Sozialchauvinismus?

Sozialchauvinismus ist das Eintreten für die Idee der Vaterlandsverteidigung in diesem Kriege. Aus dieser Idee ergibt sich weiter der Verzicht auf den Klassenkampf während des Krieges, die Bewilligung der Kriegskredite usw. In Wirklichkeit treiben die Sozialchauvinisten eine antiproletarische, eine bürgerliche Politik, denn was sie verfechten, ist in Wirklichkeit nicht die „Verteidigung des Vaterlandes” im Sinne des Kampfes gegen eine Fremdherrschaft, sondern das „Recht” dieser oder jener „Groß”mächte, Kolonien auszuplündern und fremde Völker zu unterdrücken. Die Sozialchauvinisten machen den Volksbetrug der Bourgeoisie mit, indem sie dieser nachsprechen, der Krieg werde geführt, um die Freiheit und Existenz der Nationen zu verteidigen, und damit gehen sie auf die Seite der Bourgeoisie über, wenden sie sich gegen das Proletariat. Zu den Sozialchauvinisten gehören sowohl diejenigen, die die Regierungen und die Bourgeoisie einer der kriegführenden Mächtegruppen rechtfertigen und ihre Politik beschönigen, als auch diejenigen, die wie Kautsky den Sozialisten aller kriegführenden Mächte gleichermaßen das Recht auf „Vaterlandsverteidigung” zusprechen. Da der Sozialchauvinismus in Wirklichkeit die Privilegien, Machtpositionen, Raubzüge und Gewalttaten der „eigenen” (oder überhaupt einer jeden) imperialistischen Bourgeoisie verteidigt, ist er gleichbedeutend mit völligem Verrat an allen sozialistischen Grundsätzen und an dem Beschluß des Internationalen Sozialistenkongresses von Basel.

 

 

Das Basler Manifest

Das 1912 in Basel einstimmig angenommene Manifest über den Krieg hatte genau den Krieg zwischen England und Deutschland, samt ihren jetzigen Verbündeten, im Auge, der 1914 dann auch ausbrach. Das Manifest erklärt unumwunden, daß kein Volksinteresse einen solchen Krieg rechtfertigen kann, der „zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien” und fußend auf der imperialistischen Raubpolitik der Großmächte geführt wird. Das Manifest erklärt unumwunden. daß der Krieg „für die Regierungen” (alle ohne Ausnahme) gefährlich ist, es vermerkt ihre Furcht „vor einer proletarischen Revolution” und verweist mit aller Bestimmtheit auf das Beispiel der Kommune von 1871 und der Ereignisse von, Oktober-Dezember 1905, d.h. auf da; Beispiel der Revolution und des Bürgerkriegs. Das Basler Manifest fixiert somit gerade für den jetzigen Krieg die im internationalen Maßstab zu befolgende Taktik des revolutionären Kampfes der Arbeiter gegen die eigenen Regierungen, die Taktik der proletarischen Revolution. Das Basler Manifest wiederholt die Worte der Stuttgarter Resolution, daß die Sozialisten verpflichtet sind, im Falle des Kriegsausbruchs die durch den Krieg herbeigeführte „wirtschaftliche und politische Krise” auszunutzen, um „die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen”, d.h. die durch den Krieg verursachte schwierige Lage der Regierungen und die Empörung der Massen für die sozialistische Revolution auszunutzen.

Die Politik der Sozialchauvinisten, die den Krieg mit bürgerlich-„freiheitlichen” Argumenten rechtfertigen, die „Vaterlandsverteidigung” für zulässig halten, für die Kredite stimmen, in die Kabinette eintreten usw. usf., ist direkter Verrat am Sozialismus, ein Verrat der sich, wie wir noch sehen werden, nur durch den Sieg des Opportunismus und der nationalliberalen Arbeiterpolitik innerhalb der Mehrheit der europäischen Parteien erklären läßt.

 

 

Falsche Berufungen auf Marx und Engels

Die russischen Sozialchauvinisten (an ihrer Spitze Plechanow) berufen sich auf die Taktik von Marx im Kriege von 1870; die deutschen Sozialchauvinisten (von, Schlage der Lensch, David und Co.) berufen sich auf die Erklärungen von Engels im Jahre 1891, in denen er von der Pflicht der deutschen Sozialisten spricht, im Falle eines gleichzeitigen Krieges gegen Rußland und Frankreich das Vaterland zu verteidigen; die Sozialchauvinisten von, Kautskyschen Schlage schließlich, die den internationalen Chauvinismus allseits versöhnen und legitim machen möchten, berufen sich darauf, daß Marx und Engels, obwohl sie die Kriege verurteilten, sich dennoch, von 1854/1855 bis 1870/1871 und 1876/1877, stets auf die Seite des einen oder des anderen kriegführenden Staates stellten, sobald der Krieg einmal ausgebrochen war.

Alle diese Berufungen sind eine empörende Fälschung der Auffassungen von Marx und Engels zugunsten der Bourgeoisie und der Opportunisten. genauso wie in den Schriften der Anarchisten Guillaume und Co. die Auffassungen von Marx und Engels gefälscht werden, um den Anarchismus zu rechtfertigen. Der Krieg von 1870/1871 war von seiten Deutschlands historisch fortschrittlich, solange Napoleon III. nicht besiegt war, denn dieser hatte zusammen mit dem Zaren lange Jahre hindurch Deutschland bedrückt, indem er dessen feudale Zersplitterung unterstützte. Sobald dann der Krieg zu einer Beraubung Frankreichs entartete (Annexion von Elsaß-Lothringen), verurteilten Man und Engels die Deutschen ganz entschieden. Und auch zu Beginn dieses Krieges billigten es Marx und Engels, daß Bebel und Liebknecht sich weigerten. für die Kriegskredite zu stimmen, und rieten der Sozialdemokratie, sich nicht mit der Bourgeoisie zu vereinigen, sondern die selbständigen Klasseninteressen des Proletariats zu verfechten. Dieses Urteil über einen bürgerlich-fortschrittlichen, nationalen Befreiungskrieg auf den jetzigen imperialistischen Krieg übertragen heißt die Wahrheit vergewaltigen. Dasselbe gilt in noch viel höherem Grade von dem Krieg 1854/1855 und von allen anderen Kriegen des 19. Jahrhunderts, denn damals gab es weder den modernen Imperialismus noch zur Reife gediehene objektive Bedingungen für den Sozialismus, noch auch sozialistische Massenparteien in allen kriegfühtenden Ländern, d.h., es fehlten gerade die Voraussetzungen, aus denen das Basler Manifest die Taktik der proletarischen Revolution” im Zusammenhang mit einem Krieg zwischen den Großmächten ableitete.

Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland” vergißt - diese Worte die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution - der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.

 

 

Der Zusammenbruch der II. Internationale

Sozialisten aller Länder erklärten im Jahre 1912 zu Basel feierlich, daß sie den kommenden europäischen Krieg als das verbrecherische und erzreaktionäre Werk sämtlicher Regierungen ansehen, das den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen müsse, da es unweigerlich die Revolution gegen ihn auf den Plan rufe. Der Krieg kam, die Krise brach aus. An Stelle der revolutionären Taktik schlug die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien eine reaktionäre Taktik ein und stellte sich auf die Seite der eigenen Regierungen und der eigenen Bourgeoisie. Dieser Verrat am Sozialismus bedeutet den Zusammenbruch der II. Internationale (1889-1914), und wir müssen uns darüber Rechenschaft ablegen, was diesen Zusammenbruch verursacht, was den Sozialchauvinismus erzeugt, was ihm Stärke verliehen hat.

 

 

Sozialchauvinismus ist vollendeter Opportunismus

Während der ganzen Epoche der II. Internationale spielte sich überall in den sozialdemokratischen Parteien ein Kampf zwischen den, revolutionären und dem opportunistischen Flügel ab. In einer Reihe von Ländern kam es darüber zur Spaltung (England, Italien, Holland, Bulgarien). Kein einziger Marxist zweifelte daran, daß der Opportunismus Ausdruck einer bürgerlichen Politik in der Arbeiterbewegung ist, daß er den Interessen des Kleinbürgertums und dem Bündnis einer geringfügigen Minderheit von verbürgerten Arbeitern mit „ihrer” Bourgeoisie entspricht einem Bündnis, das sich gegen die Interessen der Masse der Proletarier, der Masse der Unterdrückten richtet.

Die objektiven Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts brachten dem Opportunismus einen besonderen Kraftzuwachs dadurch, daß sie die Ausnutzung der bürgerlichen Legalität in einen Kniefall vor ihr verwandelten, daß sie eine schmale Schicht von Bürokraten und Aristokraten der Arbeiterklasse entstehen und viele kleinbürgerliche „Mitläufer” in die Reihen der sozialdemokratischen Parteien eindringen ließen.

Der Krieg beschleunigte die Entwicklung, indem er den Opportunismus zum Sozialchauvinismus, das geheime Bündnis der Opportunisten mit der Bourgeoisie zu einem offenen machte. Dazu kam noch, daß die Militärbehörden überall den Belagerungszustand verhängten und der Masse der Arbeiter einen Maulkorb anlegten, während die alten Arbeiterführer fast vollzählig ins Lager der Bourgeoisie überliefen.

Die ökonomische Grundlage des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und dieselbe: die Interessen einer ganz geringfügigen Schicht von privilegierten Arbeitern und Kleinbürgern, die ihre privilegierte Stellung, ihr Recht” auf Brocken vom Tische der Bourgeoisie verteidigen, auf Brocken von den Profiten, die „ihre” nationale Bourgeoisie durch die Ausplünderung fremder Nationen, durch die Vorteile ihrer Großmachtstellung usw. einstreicht.

Der ideologisch-politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und derselbe: Zusammenarbeit der Klassen statt Klassenkampf, Verzicht auf revolutionäre Kampfmittel, Unterstützung der „eigenen” Regierung in einer für sie schwierigen Lage statt Ausnutzung dieser Schwierigkeiten für die Revolution. Nimmt man alle europäischen Länder zusammen, faßt man nicht einzelne (wenn auch noch so autoritative) Personen ins Auge, so wird sich zeigen, daß gerade die opportunistische Strömung zum Hauptstützpfeiler des Sozialchauvinismus geworden ist, während im Lager der Revolutionäre fast überall ein mehr oder minder folgerichtiger Protest gegen ihn laut wird. Nimmt man zum Beispiel die Gruppierung der Richtungen auf dem Stuttgarter Internationalen Sozialistenkongreß von 1907, so wird man sehen, daß der internationale Marxismus gegen den Imperialismus, der internationale Opportunismus aber schon damals für den Imperialismus war.

 

 

Einheit mit den Opportunisten heißt Bündnis der Arbeiter mit der „eigenen” nationalen Bourgeoisie und Spaltung dir internationalen revolutionären Arbeiterklasse

In der abgelaufenen Epoche, vor dem Kriege, galt der Opportunismus häufig zwar als eine „Abweichung”, als ein „Extrem”, aber doch als ein legitimer Bestandteil der sozialdemokratischen Partei. Der Krieg zeigte, daß das in Zukunft unmöglich ist. Der Opportunismus ist „ausgereift”, er hat seine Rolle als Emissär der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung ausgespielt. Die Einheit mit den Opportunisten ist ZU einer einzigen Heuchelei geworden, - wie das Beispiel der deutschen Sozialdemokratie zeigt. In allen wichtigen Fällen (zum Beispiel bei der Abstimmung vom 4. August) warten die Opportunisten mit ihrem Ultimatum auf, das sie dann mit Hilfe ihrer weitverzweigten Beziehungen zur Bourgeoisie, ihrer Mehrheit in den Gewerkschaftsleitungen usw. durchsetzen. Einheit mit den Opportunisten bedeutet jetzt in der Praxis Unterwerfung der Arbeiterklasse unter die eigene nationale Bourgeoisie, Bündnis mit dieser Bourgeoisie zur Unterdrückung fremder Nationen und zum Kampf für die Großmachtprivilegien, also Spaltung des revolutionären Proletariats aller Länder.

Wie schwer der Kampf mit den in vielen Organisationen herrschenden Opportunisten in einzelnen Fällen auch sein mag, welch verschiedenartige Formen der Prozeß der Reinigung der Arbeiterparteien von den Opportunisten in den einzelnen Ländern auch annehmen mag, dieser Prozeß ist unvermeidlich und fruchtbar. Der reformistische Sozialismus stirbt ab; der wiedererstehende Sozialismus „wird revolutionär, intransigent und insurrektionell sein”, wie sich der französische Sozialist Paul Golay treffend ausgedrückt hat.

 

 

Das „Kautskyanertum”

Kautsky, die größte Autorität der II. Internationale, ist ein .üßerordentlich typisches und anschauliches Beispiel dafür, wie die Anerkennung des Marxismus in Worten dazu geführt hat, ihn in Wirklichkeit in „Struvismus” oder „Brentanoismus” [3] verwandeln. Wir sehen dies auch am Beispiel Plechanows. Mittels offenkundiger Sophismen wird der Marxismus seiner lebendigen revolutionären Seele beraubt, man akzeptiert vom Marxismus alles, ausgenommen die revolutionären Kampfmittel, ihre Propagierung und Vorbereitung, die Erziehung der Massen gerade in dieser Richtung. Kautsky „versöhnt” prinzipienlos den Grundgedanken des Sozialchauvinismus, die Anerkennung der Vaterlandsverteidigung in diesem Krieg, mit einer diplomatischen, ächeinbaren Konzession an die Linken in Form der Stimmenthaltung bei der Votierung der Kredite, der Unterstreichung seiner oppositionellen Einstellung in Worten usw. Kautsky, der im Jahre 1909 ein ganzes Buch über die herannahende Epoche der Revolutionen und über den Zusammenhang von Krieg und Revolution schrieb, Kautsky, der im Jahre 1912 das Basler Manifest über die revolutionäre Ausnutzung des kommenden Krieges unterzeichnete, rechtfertigt und beschönigt jetzt in allen Tonarten den Sozialchauvinismüs und schließt sich, gleich Plechanow, der Bourgeoisie an, indem er jeden Gedanken an die Revolution, jeden Schritt zum unmittelbar revolutionären Kampf verspottet.

Die Arbeiterklasse kann ihre welthistorische revolutionäre Mission nicht erfüllen ohne rücksichtslosen Kampf gegen dieses Renegatentum, diese Charakterlosigkeit, diese Liebedienerei vor dem Opportunismus und diese beispiellose theoretische Verflachung des Marxismus. Das Kautskyanertum ist kein Zufall, sondern ein soziales Produkt der Gegensätze in der II. Internationale, der Verbindung von Treue zum Marxismus in Worten mit Unterwerfung unter den Opportunismus in Taten.

In den verschiedenen Ländern tritt diese grundlegende Verlogenheit des Kautskyanertums in verschiedenen Formen in Erscheinung. In Holland verficht Roland-Holst, die die Idee der Vaterlandsverteidigung ablehnt, die Einheit mit der Partei der Opportunisten. In Rußland tritt Trotzki, der diese Idee ebenfalls ablehnt gleicherweise für die Einheit mit der opportunistischen und chauvinistischen Gruppe Nascha Sarja ein. In Rumänien ist es Rakowski, der dem Opportunismus als dem Schuldigen am Zusammenbruch der Internationale den Krieg erklärt, gleichzeitig aber bereit ist, die Idee der Vaterlandsverteidigung als gerechtfertigt anzuerkennen. Dies alles sind Erscheinungsformen jenes Übels, das die holländischen Marxisten (Gorter, Pannekoek) als „passiven Radikalismus” bezeichnet haben und das auf nichts anderes hinausläuft als auf Ersetzung des revolutionären Marxismus durch Eklektizismus in der Theorie und auf sklavische Unterwürfigkeit oder Ohnmacht vor dem Opportunismus in der Praxis.

 

 

Die Losung der Marxisten ist die Losung der revolutionären Sozialdemokratie

Der Krieg hat zweifellos eine Krise schwerster Art heraufbeschworen und die leiden der Massen ungeheuerlich verschärft. Der reaktionäre Charakter dieses Krieges, die unverschämte Lüge der Bourgeoisie aller Länder, die ihre Raubziele unter dem Mäntelchen „nationaler” Ideologie versteckt - all dies ruft auf dem Boden der objektiv revolutionären Situation unweigerlich revolutionäre Stimmungen in den Massen hervor. Es ist unsere Pflicht, diese Stimmungen bewußt zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben. Diese Aufgabe findet ihren richtigen Ausdruck nur in der Losung: Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von „Massenaktionen” muß unvermeidlich dazu führen. Man kann nicht wissen, ob eine starke revolutionäre Bewegung im Zusammenhang mit dem ersten oder mit dem zweiten imperialistischen Krieg der Großmächte, ob sie während des Krieges oder nach dem Kriege auf flammen wird, jedenfalls aber ist es unsere unbedingte Pflicht, systematisch und unentwegt in eben dieser Richtung zu wirken.

Das Basler Manifest beruft sich ausdrücklich auf das Beispiel der Pariser Kommune, d.h. auf das Beispiel der Umwandlung eines Krieges der Regierungen in den Bürgerkrieg. Vor einem halben Jahrhundert war das Proletariat noch zu schwach, die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus waren noch nicht herangereift, an eine Koordinierung und ein Zusammenwirken der revolutionären Bewegungen in allen kriegführenden Ländern war noch nicht zu denken, die Begeisterung eines Teils der Pariser Arbeiter für die „nationale Ideologie” (für die Tradition von 1792) war die von Marx schon damals vermerkte kleinbürgedliche Schwäche, an der sie litten, und eine der Ursachen für das Scheitern der Kommune. Ein halbes Jahrhundert später sind die Bedingungen. die die damalige Revolution schwächten, in Wegfall gekommen, und heutzutage wäre es unverzeihlich von, einem Sozialisten, wollte er sich abfinden mit dem Verzicht darauf, eben im Geiste der Pariser Kommunarden zu handeln.

 

 

Das Beispiel der Verbrüderung in den Schützengräben

Bürgerliche Zeitungen aller kriegführenden Länder haben Beispiele gebracht für die Verbrüderung von Soldaten der kriegführenden Nationen sogar in den Schützengräben. Die drakonischen Verbote, die von den Militärbehörden (in Deutschland, in England) gegen solche Verbrüderungen erlassen wurden, haben bewiesen, daß ihnen die Regierungen und die Bourgeoisie ernsthafte Bedeutung beimaßen. Wenn trotz der unumschränkten Herrschaft des Opportunismus in den leitenden Kreisen der sozialdemokratischen Parteien Westeuropas und trotz der Unterstützung des Sozialchauvinismus durch die gesamte sozialdemokratische Presse, durch alle Autoritäten der II. Internationale Fälle von Verbrüderung möglich waren, so zeigt uns das, daß man den gegenwärtigen verbrecherischen, reaktionären Sklavenhalterkrieg sehr wohl abkürzen und eine internationale revolutionäre Bewegung organisieren könnte, wenn wenigstens die Linkssozialisten aller kriegführenden Länder systematisch auf dieses Ziel hinwirken würden

 

 

Die Bedeutung der illegalen Organisation

Die prominentesten Anarchisten der ganzen Welt haben sich in diesem Krieg nicht weniger als die Opportunisten durch Sozialchauvinismus (im Geiste Plechanows und Kautskys) beschmutzt. Eines der nützlichen Resultate dieses Krieges wird unzweifelhaft darin bestehen, daß er den Opportunismus ebenso wie den Anarchismus vernichten wird.

In keinem Falle und unter keinen Umständen dürfen die sozialdemokratischen Parteien darauf verzichten, selbst die geringste legale Möglichkeit zur Organisierung der Massen und zur Propagierung des Sozialismus auszunutzen, zugleich aber müssen sie mit der Anbetung der Legalität brechen. „Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois” [4], schrieb Engels in Anspielung auf den Bürgerkrieg und auf die Notwendigkeit daß wir die Legalität durchbrechen, nachdem sie von der Bourgeoisie durchbrochen worden ist. Die Krise hat gezeigt, daß die Bourgeoisie in allen, selbst in den freiesten Ländern die Legalität durchbricht und daß es unmöglich ist die Massen zur Revolution zu führen, ohne eine illegale Organisation für die Propagierung, Erörterung, Einschätzung und Vorbereitung der revolutionären Kampfmittel zu schaffen. In Deutschland zum Beispiel wird alles, was an Ehrlichem von den Sozialisten getan wird, gegen den niederträchtigen Opportunismus und gegen das heuchlerische „Kautskyanertum” getan, und zwar illegal. In England wird man für gedruckte Aufrufe zur Verweigerung des Heeresdienstes ins Zuchthaus geschickt.

Die Ablehnung der illegalen Propagandamethoden und ihre Verhöhnung in der legalen Presse als vereinbar zu betrachten mit der Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei, ist Verrat am Sozialismus.

 

 

Über die Niederlage der „eigenen” Regierung im imperialistischen Krieg

Die Verfechter des Sieges der eigenen Regierung im gegenwärtigen Krieg und die Anhänger der Losung „weder Sieg noch Niederlage” stehen gleicherweise auf dem Standpunkt des Sozialchauvinismus. Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen, sie kann den Zusammenhang zwischen militärischen Mißerfolgen der Regierung und der Erleichterung ihrer Niederringung nicht übersehen. Nur ein Bourgeois, der in dem Glauben lebt daß der von den Regierungen angezettelte Krieg unweigerlich auch als ein Krieg der Regierungen enden werde, und der das auch wünscht, findet die Idee „lächerlich” oder „widersinnig , daß die Sozialisten aller kriegführenden Länder mit dem Wunsch nach der Niederlage aller ihrer „eigenen” Regierungen auftreten sollen. Gerade ein solches Auftreten würde dagegen den geheimen Wünschen jedes klassenbewußten Arbeiters entsprechen und in der Linie unseres Handelns liegen, das auf Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg abzielt.

Zweifellos hat die von einem Teil der englischen, deutschen und russischen Sozialisten getriebene ernsthafte Agitation gegen den Krieg die „militärische Kampfkraft” der betreffenden Regierungen „geschwächt”, aber diese Agitation war ein Verdienst dieser Sozialisten. Die Sozialisten müssen den Massen klarmachen, daß es für sie keine Rettung gibt außer in der revolutionären Niederwerfung der „eigenen” Regierungen und daß die Schwierigkeiten dieser Regierungen im gegenwärtigen Krieg eben für diesen Zweck ausgenutzt werden müssen.

 

 

Über den Pazifismus und die Friedenslosung

Friedensfreundliche Stimmung in den Massen ist häufig der Ausdruck dafür, daß Protest und Empörung aufkommen und daß der reaktionäre Charakter des Krieges erkannt wird. Diese Stimmung auszunutzen ist Pflicht aller Sozialdemokraten. Sie werden sich an jeder Bewegung und an jeder Demonstration, die auf diesem Boden erwächst aufs leidenschaftlichste beteiligen, aber sie werden das Volk nicht betrügen, indem sie den Gedanken zulassen, daß ohne eine revolutionäre Bewegung ein Frieden ohne Annexionen, ohne Unterjochung von Nationen, ohne Raub, ohne den Keim neuer Kriege zwischen den jetzigen Regierungen und herrschenden Klassen möglich sei. Ein solcher Volksbetrug käme nur der Geheimdiplomatie der kriegführenden Regierungen und ihren konterrevolutionären Plänen zugute. Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muß für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein.

 

 

Vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Das verbreitetste Mittel der Bourgeoisie, das Volk im gegenwärtigen Krieg zu betrügen, ist die Verschleierung der räuberischen Kriegsziele durch die Ideologie der „Völkerbefreiung”. Die Engländer versprechen Belgien, die Deutschen Polen die Befreiung usw. In Wirklichkeit wird dieser Krieg, wie wir gesehen haben, von den Unterdrückern der Mehrzahl der Nationen der Welt geführt, um diese Unterdrückung zu festigen und zu erweitern.

Die Sozialisten können ihr großes Ziel nicht erreichen, ohne gegen jede Art von nationaler Unterdrückung zu kämpfen. Sie müssen daher unbedingt fordern, daß die sozialdemokratischen Parteien der unterdrückenden Länder (insbesondere der sog. „Groß”mächte) das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen anerkennen und verfechten, und zwar ausdrücklich im politischen Sinne des Wortes, d.h. als Recht auf politische Lostrennung. Ein Sozialist, der einer großstaatlichen oder kolonienbherrschenden Nation angehört und dieses Recht nicht verteidigt, ist ein Chauvinist.

Die Verteidigung dieses Rechts ist keineswegs ein Ansporn zur Bildung von Kleinstaaten, sie führt im Gegenteil zu weit freierer, furchtloserer und daher breiterer und allgemeinerer Bildung von Großstaaten und Staatsbünden, die für die Masse von größerem Nutzen sind und der ökonomischen Entwicklung besser entsprechen.

Die Sozialisten der unterdrücken Nationen müssen ihrerseits unbedingt für den völligen (auch organisatorischen) Zusammenschluß der Arbeiter d unterdrückten und der unterdrückenden Nationen kämpfen. Die Idee der rechtlichen Absonderung der Nationen voneinander (die sog. „national-kulturelle Autonomie” Bauers und Renners) ist eine reaktionäre Idee.

Der Imperialismus ist die Epoche der fortschreitenden Unterdrückung der Nationen der ganzen Welt durch eine Handvoll „Groß”mächte, und darum ist der Kampf für die internationale sozialistische Revolution gegen den Imperialismus unmöglich ohne Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Ein Volk, das andre unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren.” (Marx und Engels.) Ein Proletariat, das sich auch nur mit dem kleinsten Gewaltakt „seiner” Nation gegen andere Nationen abfindet, kann nicht sozialistisch sein.

 

 

 

Anmerkungen

2. Siehe Clausewitz, Vom Kriege, Erstes Buch, Berlin 1951, S.34.

3. „Brentanoismus” – „... eine bürgerlich-liberale Lehre, die einen nichtrevolutionären ‚Klassen‘kampf des Proletariats anerkennt ...” - (siehe Lenin, Werke, deutsche Ausgabe, Bd.28, S.227). Lujo Brentano war ein bürgerlicher deutscher Ökonom und ein Verfechter des sogenannten „Staatssozialismus”. Er suchte nachzuweisen, daß es möglich sei, durch Reformen und durch Versöhnung der Interessen der Kapitalisten und der Arbeiter die soziale Gleichheit im Kapitalismus zu verwirklichen. Unter dem Deckmantel marxistisch klingender Phrasen wollten Brentano und seine Anhänger die Arbeiterbewegung den Interessen der Bourgeoisie unterordnen.

4. Siehe Friedrich Engels, Der Sozialismus in Deutschland (Marx/Engels, Werke, deutsche Ausgabe, Bd.22, S.251).

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008