Wladimir Iljitsch Lenin

 

Ist eine obligatorische Staatssprache notwendig?

(Januar 1914)


Lenin, Werke, Band 20, Berlin 1984, S. 59–61.
Ursprünglich aus Proletarskaja Prawda Nr. 14 (32), 18. Januar 1914.
Nach dem Text der Proletarskaja Prawda.
Transkription: Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Liberalen unterscheiden sich von den Reaktionären dadurch, daß sie wenigstens der Elementarschule das Recht zugestehen, den Unterricht in der Muttersprache zu erteilen. Sie sind sich aber mit den Reaktionären vollkommen einig darüber, daß es eine obligatorische Staatssprache geben muß.

Was heißt das, obligatorische Staatssprache? Praktisch heißt das, daß die Sprache der Großrussen, die die Minderheit der Bevölkerung Rußlands bilden, der ganzen übrigen Bevölkerung Rußlands aufgezwungen wird. In jeder Schule soll der Unterricht der Staatssprache obligatorisch sein. Sämtliche Amtsgeschäfte sollen unbedingt in der Staatssprache und nicht in der Sprache der örtlichen Bevölkerung geführt werden.

Womit wird die Notwendigkeit der obligatorischen Staatssprache von denjenigen Parteien gerechtfertigt, die sie verteidigen?

Die „Beweisgründe“ der Schwarzhunderter sind natürlich kurz und bündig: alle Fremdstämmigen sind mit harter Hand anzupacken, und es darf nicht zugelassen werden, daß sie „aus der Zucht geraten“. Rußland muß ungeteilt bleiben, und alle Völker müssen sich dem großrussischen Element unterordnen, da die Großrussen angeblich die Erbauer und Mehrer des russischen Landes waren. Deshalb muß die Sprache der herrschenden Klasse die obligatorische Staatssprache sein. Die Herren Purischkewitsch hätten sogar nichts dagegen, die „hündischen Dialekte“, die von den fast 60 Prozent der Bevölkerung Rußlands ausmachenden Nicht-Großrussen gesprochen werden, ganz und gar zu verbieten.

Die Stellung der Liberalen ist viel „kultivierter“ und „feiner“. Sie sind dafür, daß die Muttersprache in gewissen Grenzen (zum Beispiel in den Elementarschulen) zugelassen werde. Aber gleichzeitig treten sie für die obligatorische Staatssprache ein. Das sei notwendig im Interesse der „Kultur“, im Interesse des „einheitlichen“ und „unteilbaren“ Rußlands usw.

„Die Staatlichkeit ist die Bekräftigung der Kultureinheit … Einen Bestandteil der Staatskultur bildet unbedingt die Staatssprache … Der Staatlichkeit liegt die Einheit der Macht zugrunde, und die Staatssprache ist das Werkzeug dieser Einheit. Die Staatssprache besitzt eine ebenso zwingende und allgemein verpflichtende Macht wie alle übrigen Formen der Staatlichkeit …

Wenn es Rußland beschieden sein soll, einheitlich und ungeteilt zu bleiben, so muß mit aller Entschiedenheit die staatliche Zweckmäßigkeit der russischen Schriftsprache verteidigt werden.“

Das ist die typische Philosophie eines Liberalen in der Frage der Notwendigkeit der Staatssprache.

Die oben zitierten Sätze haben wir dem Aufsatz des Herrn S. Patraschkin in der liberalen Zeitung Den [1] (Nr. 7) entnommen. Das Organ der Schwarzhunderter, das Nowoje Wremja, hat den Verfasser für solche Gedanken aus sehr begreiflichen Gründen mit einem saftigen Kuß belohnt. Herr Patraschkin spreche hier „ganz vernünftige Gedanken“ aus, erklärte die Zeitung Menschikows (Nr. 13.588). Die Schwarzhunderter loben fortwährend auch die nationalliberale Russkaja Mysl [2] für solche überaus „vernünftigen“ Gedanken. Und wie sollten sie sie nicht loben, da doch die Liberalen mit Hilfe von „kulturellen“ Begründungen das propagieren, was den Leuten vom „Nowoje Wremja“ so gefällt?

Die russische Sprache ist erhaben und gewaltig, sagen uns die Liberalen. So wollt ihr denn wirklich nicht, daß jeder, der in einem beliebigen Grenzgebiet Rußlands lebt, diese erhabene und gewaltige Sprache verstehe? Seht ihr denn nicht, daß die russische Sprache die Literatur der Fremdstämmigen bereichern und ihnen die Möglichkeit bieten wird, der großen Kulturwerte teilhaftig zu werden usw.?

Das ist alles richtig, ihr Herren Liberalen, antworten wir ihnen. Wir wissen besser als ihr, daß die Sprache Turgenjews, Tolstois, Dobroljubows und Tschernyschewskis erhaben und gewaltig ist. Wir wünschen dringender als ihr, daß unter den unterdrückten Klassen aller Rußland bewohnenden Nationen, ohne Unterschied, eine möglichst enge Gemeinschaft und eine brüderliche Einheit zustande komme. Und wir treten selbstverständlich dafür ein, daß jeder Einwohner Rußlands die Möglichkeit habe, die erhabene russische Sprache zu erlernen.

Wir wollen nur eins nicht: das Element des Zwangs. Wir wollen die Menschen nicht mit dem Knüppel ins Paradies treiben. Denn, wieviel schöne Phrasen ihr über die „Kultur“ auch machen mögt – die obligatorische Staatssprache ist mit Zwang und Einhämmern verbunden. Wir glauben, daß die erhabene und gewaltige russische Sprache es nicht nötig hat, daß jemand, wer immer es auch sei, gezwungen wird, sie unter Stockhieben zu erlernen. Wir sind überzeugt, daß die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland und überhaupt der gesamte Verlauf des gesellschaftlichen Lebens zur gegenseitigen Annäherung der Nationen führt. Hunderttausende Menschen werden von einem Ende Rußlands an das andere geworfen, die Bevölkerung vermischt sich in ihrer nationalen Zusammensetzung, Absonderung und nationale Verknöcherung müssen verschwinden. Diejenigen, die infolge ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Kenntnis der russischen Sprache angewiesen sind, werden sie auch ohne Stockhiebe erlernen. Der Zwang (der Stock) aber wird nur dazu führen, daß der erhabenen und gewaltigen russischen Sprache der Eingang in die übrigen nationalen Gruppen erschwert wird, und vor allem dazu, daß sich die Feindschaft verschärft, Millionen neuer Reibereien geschaffen sowie die Gereiztheit und das gegenseitige Nichtverstehen vermehrt werden usw.

Wer braucht das? Das russische Volk, die russische Demokratie brauchen das nicht. Das russische Volk erkennt keinerlei nationale Unterdrückung an, selbst nicht „im Interesse der russischen Kultur und Staatlichkeit“.

Das ist der Grund, weshalb die russischen Marxisten sagen, es ist notwendig, daß keine obligatorische Staatssprache besteht, wobei der Bevölkerung Schulen zu gewährleisten sind mit Unterricht in allen regionalen Sprachen, und wobei ein grundlegendes Gesetz in die Verfassung aufzunehmen ist, wonach alle wie immer gearteten Privilegien der einen oder anderen Nation, alle wie immer gearteten Verstöße gegen die Rechte einer nationalen Minderheit für ungültig erklärt werden …


Anmerkungen des Verlags

1. Den (Der Tag) – Tageszeitung bürgerlich-liberaler Richtung, die ab 1912 in Petersburg erschien. An der Zeitung arbeiteten menschewistische Liquidatoren mit, in deren Hände die Zeitung nach dem Februar 1917 vollständig überging. Am 26. Oktober (8. November) 1917 wurde sie vom Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet verboten.

2. Russkaja Mysl (Der russische Gedanke) – Monatsschrift liberal-volkstümlerischer Richtung, die ab 1880 in Moskau erschien. Nach der Revolution von 1905 war sie das Organ des rechten Flügels der Kadettenpartei. In dieser Zeit bezeichnete Lenin die Russkaja Mysl als Tschernosotennaja Mysl (Schwarzhundertergedanke). Die Zeitschrift wurde Mitte 1918 verboten.


Leztztes Update: 25.2.2012