W.I. Lenin

 

Was tun?

 

III
Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik

 

d) Was hat der Ökonomismus mit dem Terrorismus gemein?

Weiter oben haben wir in der Fußnote einen „Ökonomisten“ und einen nichtsozialdemokratischen Terroristen konfrontiert; sie haben sich zufällig als solidarisch erwiesen. Doch allgemein gesprochen, besteht zwischen dem einen und dem anderen nicht ein zufälliger, sondern ein notwendiger innerer Zusammenhang, auf den wir weiter unten noch zurückkommen werden und der gerade bei der Frage der Erziehung zur revolutionären Aktivität erwähnt werden muß. Die „Ökonomisten“ und die heutigen Terroristen haben eine gemeinsame Wurzel: das ist eben jene Anbetung der Spontaneität, von der wir im vorigen Kapitel als von einer allgemeinen Erscheinung gesprochen haben und die wir jetzt hinsichtlich ihres Einflusses auf die politische Tätigkeit und den politischen Kampf betrachten. Auf den ersten Blick mag unsere Behauptung paradox erscheinen: so groß ist scheinbar der Unterschied zwischen Leuten, die den „unscheinbaren Tageskampf“ hervorheben, und Leuten, die zum selbstlosesten Kampf einzelner Personen aufrufen. Aber das ist nicht paradox. Die „Ökonomisten“ und die Terroristen sind Anbeter verschiedener Pole der spontanen Richtung: die „Ökonomisten“ – der Spontaneität der „reinen Arbeiterbewegung“, die Terroristen – der Spontaneität der leidenschaftlichsten Empörung der Intellektuellen, die es nicht verstehen oder nicht die Möglichkeit haben, die revolutionäre Arbeit mit der Arbeiterbewegung zu einem Ganzen zu verbinden. Wer den Glauben an diese Möglichkeit verloren oder nie besessen hat, dem fällt es tatsächlich schwer, für seine Empörung und seine revolutionäre Energie einen anderen Ausweg zu finden als den Terror. So ist die Anbetung der Spontaneität bei beiden von uns genannten Richtungen nichts anderes als der Anfang zur Verwirklichung des berühmten Programms des Credo: Die Arbeiter führen ihren „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ (der Verfasser des Credo mag uns verzeihen, daß wir seine Gedanken mit den Worten Martynows ausdrücken! Wir glauben dazu berechtigt zu sein, denn auch im Credo ist davon die Rede, daß die Arbeiter in ihrem ökonomischen Kampf „mit dem politischen Regime zusammenstoßen“) – die Intellektuellen aber führen den politischen Kampf aus eigenen Kräften, natürlich mit Hilfe des Terrors! Das ist eine vollkommen logische und unvermeidliche Schlußfolgerung, auf der man bestehen muß, wenn auch diejenigen, die dieses Programm auszuführen beginnen, sich der Unvermeidlichkeit dieser Schlußfolgerung selber nicht bewußt geworden sind. Die politische Tätigkeit hat ihre Logik, die unabhängig vom Bewußtsein derer ist, die mit den besten Vorsätzen entweder zum Terror auffordern oder dazu, dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen. Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert, und in diesem Falle retten die guten Vorsätze noch nicht vor dem spontanen Sichtreibenlassen auf der „Linie des geringsten Widerstands“, der Linie des rein bürgerlichen Programms des Credo. Auch der Umstand ist nicht zufällig, daß viele russische Liberale – die offenen Liberalen und diejenigen, die eine marxistische Larve tragen – von ganzem Herzen mit dem Terror sympathisieren und bemüht sind, den Aufschwung der terroristischen Stimmungen im gegenwärtigen Zeitpunkt zu fördern.

Als nun die „revolutionär-sozialistische Gruppe Swoboda“ entstand, die sich ja gerade die Aufgabe stellte, die Arbeiterbewegung in jeder Beziehung zu fördern, jedoch den Terror in das Programm mit aufnahm und sich sozusagen von der Sozialdemokratie emanzipierte, da bestätigte diese Tatsache ein übriges Mal die glänzende Voraussicht P.B. Axelrods, der schon Ende 1897 dieses Resultat der Schwankungen in der Sozialdemokratie ganz genau voraussagte (Über die gegenwärtigen Aufgaben und die Taktik) und seine berühmten „zwei Perspektiven“ entwarf: Alle späteren Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den russischen Sozialdemokraten sind bereits, wie die Pflanze im Samenkorn, in diesen beiden Perspektiven enthalten. [K]

Von diesem Standpunkt aus gesehen, wird es auch klar, warum das Rabotscheje Delo, das der Spontaneität des „Ökonomismus“ nicht widerstand, auch der Spontaneität des Terrorismus nicht widerstehen konnte. Es ist sehr interessant, hier auf die besondere Argumentation zur Verteidigung des Terrors hinzuweisen, die die Swoboda vorgebracht hat. Die einschüchternde Rolle des Terrors wird von ihr „völlig verneint“ (Die Wiedergeburt des Revolutionismus, S.64), dafür aber schiebt sie die „exzitierende (aufrüttelnde) Bedeutung“ des Terrors in den Vordergrund. Das ist charakteristisch, erstens als eines der Zersetzungs- und Zerfallsstadien jenes traditionellen (vorsozialdemokratischen) Ideenkreises, der zwangsläufig die Beibehaltung des Terrors forderte. Anerkennen, daß man jetzt die Regierung durch den Terror nicht „einschüchtern“ – und folglich nicht desorganisieren – kann, heißt im Grunde genommen, den Terror als Kampfsystem, als ein durch das Programm sanktioniertes Tätigkeitsgebiet völlig verurteilen. Zweitens ist das noch charakteristischer als Musterbeispiel des mangelnden Verständnisses für unsere dringenden Aufgaben bei „der Erziehung der Massen zur revolutionären Aktivität“. Die Swoboda propagiert den Terror als Mittel, die Arbeiterbewegung „aufzurütteln“, ihr einen „starken Anstoß“ zu geben. Man kann sich schwerlich eine Argumentation vorstellen, die sich selbst anschaulicher widerlegte! Gibt es denn, fragt man sich, im russischen Leben noch zu wenig Schändlichkeiten, daß man besondere „aufrüttelnde“ Mittel erfinden muß? Und anderseits, wer selbst durch die in Rußland herrschende Willkür nicht auf gerüttelt wird und nicht aufzurütteln ist, der wird offenbar auch dem Zweikampf zwischen der Regierung und einem Häuflein von Terroristen ruhig zusehen und „die Daumen drehen“. Das ist es ja gerade, daß die Arbeitermassen durch die Niederträchtigkeiten des russischen Lebens sehr stark auf gerüttelt werden, wir verstehen es nur nicht, alle jene Tropfen und Rinnsale der Volkserregung zu sammeln und – wenn man so sagen darf – zu konzentrieren, die aus dem russischen Leben in unermeßlich größerer Menge hervorquellen, als wir alle es uns vorstellen und glauben, die aber zu einem gewaltigen Strom vereinigt werden müssen. Daß das eine realisierbare Aufgabe ist, wird unwiderleglich durch das mächtige Anwachsen der Arbeiterbewegung und den oben bereits festgestellten Heißhunger der Arbeiter nach politischer Literatur bewiesen. Die Aufforderungen zum Terror jedoch, ebenso wie die Aufforderungen, dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen, stellen verschiedene Formen des Sichdrückens vor der dringendsten Pflicht der russischen Revolutionäre dar: die allseitige politische Agitation zu organisieren. Die Swoboda will die Agitation durch den Terror ersetzen, sie erklärt offen, daß, „wenn eine verstärkte, energische Agitation in den Massen einsetzt, seine exzitierende (aufrüttelnde) Rolle ausgespielt ist“ (Die Wiedergeburt des Revolutionismus, S.68). Das zeigt eben, daß sowohl die Terroristen als auch die „Ökonomisten“ die revolutionäre Aktivität der Massen unterschätzen, und dies ungeachtet der klaren Beweise, die die Frühjahrsereignisse [L] geliefert haben, wobei die einen nach künstlichen „aufrüttelnden Mitteln“ suchen, die anderen von „konkreten Forderungen“ sprechen. Sowohl die einen wie die anderen schenken der Entfaltung ihrer eigenen Aktivität auf dem Gebiet der politischen Agitation und der Organisation der politischen Enthüllungen nicht genügend Aufmerksamkeit. Es ist aber weder jetzt noch zu irgendeiner anderen Zeit möglich, diese Aktivität durch irgend etwas anderes zu ersetzen.

 

 

Fußnoten von Lenin

K. Martynow „stellt sich ein anderes, realeres (?) Dilemma vor“ (Die Sozialdemokratie und die Arbeiterklasse, 19): „Entweder übernimmt die Sozialdemokratie die unmittelbare Leitung des ökonomischen Kampfes des Proletariats und verwandelt ihn dadurch (!) in den revolutionären Klassenkampf ...“ „Dadurch“ heißt augenscheinlich durch die unmittelbare Leitung des ökonomischen Kampfes. Soll uns Martynow zeigen, wo es jemals gelungen wäre, allein durch die Leitung des gewerkschaftlichen Kampfes eine trade-unionistische Bewegung in eine revolutionäre Klassenbewegung zu verwandeln. Begreift er denn nicht, daß wir zu dieser „Verwandlung“ die „unmittelbare Leitung“ der allseitigen politischen Agitation aktiv in die Hand nehmen müssen? ... „Oder die andere Perspektive: Die Sozialdemokratie hält sich abseits von der Leitung des ökonomischen Kampfes der Arbeiter und ... stutzt sich damit selbst die Flügel ...“ Nach der oben angeführten Meinung des Rabotscheje Delo ist es die Iskra, die „sich abseits hält“. Aber wir haben gesehen, daß die Iskra für die Leitung des ökonomischen Kampfes viel mehr tut als das Rabotscheje Delo, wobei sie sich darauf nicht beschränkt und um dieser Sache willen ihre politischen Aufgaben nicht einengt.

L. Es handelt sich um das Frühjahr 1901, in dem die großen Straßendemonstrationen begannen. (Anmerkung des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004