W.I. Lenin

 

Was tun?

 

I
Dogmatismus und „Freiheit der Kritik“

 

a) Was heißt „Freiheit der Kritik“?

„Freiheit der Kritik“ ist heutzutage entschieden das modernste Schlagwort, das in den Diskussionen zwischen den Sozialisten und den Demokraten aller Länder am häufigsten gebraucht wird. Auf den ersten Blick kann man sich kaum etwas Seltsameres vorstellen als diese feierlichen Berufungen einer der streitenden Parteien auf die Freiheit der Kritik. Sind denn wirklich aus der Mitte der fortschrittlichen Parteien Stimmen gegen das verfassungsmäßige Gesetz der meisten europäischen Länder laut geworden, das die Freiheit der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung garantiert? „Da stimmt etwas nicht!“ – muß sich jeder Unbeteiligte sagen, der an allen Ecken und Enden das Modeschlagwort hört, aber in das Wesen der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Streitenden noch nicht eingedrungen ist. „Dieses Schlagwort gehört offenbar zu jenen konventionellen Wörtchen, die sich wie Spitznamen durch den Gebrauch einbürgern und fast zu Gattungsnamen werden.“

In der Tat, es ist für niemand ein Geheimnis, daß in der heutigen internationalen [A] Sozialdemokratie zwei Richtungen entstanden sind, zwischen denen der Kampf bald entbrennt und in hellen Flammen auflodert, bald erlischt und unter der Asche eindrucksvoller „Waffenstillstands-Resolutionen“ weiterglimmt. Worin die „neue“ Richtung besteht, die dem „alten, dogmatischen“ Marxismus „kritisch“ gegenübersteht, das hat mit genügender Klarheit Bernstein gesagt und Millerand gezeigt.

Die Sozialdemokratie soll aus einer Partei der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen werden. Diese politische Forderung hat Bernstein mit einer ganzen Batterie ziemlich gut aufeinander abgestimmter „neuer“ Argumente und Betrachtungen umgeben. Geleugnet wurde die Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen und vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung seine Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit zu beweisen; geleugnet wurde die zunehmende Verelendung, die Proletarisierung und die Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche; der Begriff „Endziel„ selbst wurde für unhaltbar erklärt und die Idee der Diktatur des Proletariats völlig verworfen; geleugnet wurde der prinzipielle Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus; geleugnet wurde die Theorie des Klassenkampfes, die auf eine streng demokratische, nach dem Willen der Mehrheit regierte Gesellschaft angeblich unanwendbar sei, usw.

Somit wurde die Forderung nach einer entschiedenen Schwenkung von der revolutionären Sozialdemokratie zum bürgerlichen Sozialreformismus von einer nicht minder entschiedenen Schwenkung zur bürgerlichen Kritik an allen Grundideen des Marxismus begleitet. Da aber diese Kritik am Marxismus schon seit langem sowohl von der politischen Tribüne wie vom Katheder der Universität, sowohl in einer Unmenge von Broschüren wie, in einer Reihe gelehrter Abhandlungen betrieben wurde, da die ganze heranwachsende Jugend der gebildeten Klassen jahrzehntelang systematisch im Geiste dieser Kritik erzogen wurde, ist es nicht verwunderlich, daß die „neue kritische“ Richtung in der Sozialdemokratie mit einem Schlag als etwas völlig Fertiges hervortrat, so wie Minerva dem Haupte Jupiters entstieg. Ihrem Inhalt nach brauchte sich diese Richtung nicht zu entwickeln und herauszubilden: sie wurde direkt aus der bürgerlichen Literatur in die sozialistische übertragen.

Weiter. Wenn die theoretische Kritik Bernsteins und seine politischen Aspirationen noch für irgend jemand unklar geblieben waren, so sorgten die Franzosen für eine anschauliche Demonstration der „neuen Methode“. Frankreich erwies sich auch diesmal, getreu seinem alten Ruf, als „das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden“ (Engels in der Vorrede zu Marx’ Schrift Der achtzehnte Brumaire [5]). Die französischen Sozialisten theoretisierten nicht, sondern handelten einfach; die in demokratischer Hinsicht höher entwickelten politischen Verhältnisse Frankreichs gestatteten ihnen, sofort zum „praktischen Bernsteinianertum“ mit allen seinen Konsequenzen überzugehen. Millerand hat ein ausgezeichnetes Beispiel dieses praktischen Bernsteinianertums geliefert – nicht umsonst waren sowohl Bernstein als auch Vollmar sofort dabei, Millerand so eifrig zu verteidigen und ihm Lob zu spenden! In der Tat: Wenn die Sozialdemokratie im Grunde genommen einfach eine Reformpartei ist und den Mut haben muß, dies offen zu bekennen, dann hat ein Sozialist nicht nur das Recht, sondern muß sogar stets danach streben, in ein bürgerliches Kabinett einzutreten. Wenn die Demokratie im Grunde genommen die Aufhebung der Klassenherrschaft bedeutet, warum sollte dann ein sozialistischer Minister nicht die ganze bürgerliche Welt mit Reden über Zusammenarbeit der Klassen entzücken? Warum sollte er nicht selbst dann noch in der Regierung bleiben, wenn die Niedermetzelung von Arbeitern durch Gendarmen zum hundertsten und tausendsten Male den wahren Charakter der demokratischen Klassenzusammenarbeit offenbart hat? Warum sollte er nicht persönlich an der Begrüßung des Zaren teilnehmen, den die französischen Sozialisten jetzt nur noch den Helden des Galgens, der Knute und der Verbannung (knouteur, pendeur et déportateur) nennen? Und als Entgelt für diese unsagbare Erniedrigung und Selbstbespeiung des Sozialismus vor der ganzen Welt, für die Korrumpierung des sozialistischen Bewußtseins der Arbeitermassen – das die einzige Grundlage ist, die uns den Sieg verbürgen kann –, als Entgelt dafür groß aufgemachte Projekte armseliger Reformen, armseliger noch als das, was unter bürgerlichen Regierungen schon errungen werden konnte!

Wer nicht absichtlich die Augen verschließt, der muß sehen, daß die neue „kritische“ Richtung im Sozialismus nichts anderes ist als eine neue Spielart des Opportunismus. Beurteilt man die Menschen nicht nach der glänzenden Uniform, die sie sich selber angelegt, nicht nach dem effektvollen Namen, den sie sich selber beigelegt haben, sondern danach, wie sie handeln und was sie in Wirklichkeit propagieren, so wird es klar, daß die „Freiheit der Kritik“ die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit, bürgerliche Ideen und bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen.

Freiheit ist ein großes Wort, aber unter dem Banner der Freiheit der Industrie wurden die räuberischsten Kriege geführt, unter dem Banner der Freiheit der Arbeit wurden die Werktätigen ausgeplündert. Dieselbe innere Verlogenheit steckt im heutigen Gebrauch des Wortes „Freiheit der Kritik“. Leute, die tatsächlich davon überzeugt sind, daß sie die Wissenschaft vorwärtsgebracht haben, würden nicht Freiheit für die neuen Auffassungen neben den alten fordern, sondern eine Ersetzung der alten durch die neuen. Das jetzt laut gewordene Geschrei „Es lebe die Freiheit der Kritik !“ erinnert allzusehr an die Fabel vom leeren Faß.

Wir schreiten als eng geschlossenes Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren. Wir haben uns, nach frei gefaßtem Beschluß, eben zu dem Zweck zusammengetan, um gegen die Feinde zu kämpfen und nicht in den benachbarten Sumpf zu geraten, dessen Bewohner uns von Anfang an dafür schalten, daß wir uns zu einer besonderen Gruppe vereinigt und den Weg des Kampfes und nicht den der Versöhnung gewählt haben. Und nun beginnen einige von uns zu ruf en: Gehen wir in diesen Sumpf! Will man ihnen ins Gewissen reden, so erwidern sie: Was seid ihr doch für rückständige Leute! und ihr schämt euch nicht, uns das freie Recht abzusprechen, euch auf einen besseren Weg zu rufen! – O ja, meine Herren, ihr habt die Freiheit, nicht nun zu rufen, sondern auch zu gehen, wohin ihr wollt, selbst in den Sumpf; wir sind sogar der Meinung, daß euer wahrer Platz gerade im Sumpf ist, und wir sind bereit, euch nach Kräften bei eurer Übersiedlung dorthin zu helfen. Aber laßt unsere Hände los, klammert euch nicht an uns und besudelt nicht das große Wort Freiheit, denn wir haben ja ebenfalls die „Freiheit“, zu gehen, wohin wir wollen, die Freiheit, nicht nur gegen den Sumpf zu kämpfen, sondern auch gegen diejenigen, die sich dem Sumpfe zuwenden!

 

 

Fußnote von Lenin

A. Beiläufig bemerkt: In der Geschichte des modernen Sozialismus ist es wohl eine einzig dastehende und in ihrer Art außerordentlich tröstliche Erscheinung, daß der Streit der verschiedenen Richtungen innerhalb des Sozialismus zum erstenmal aus einem nationalen zu einem internationalen geworden ist. In früheren Zeiten blieb der Streit zwischen den Lassalleanern und Eisenachern, zwischen den Guesdisten und Possibilisten, zwischen den Fabiern und Sozialdemokraten, zwischen den Narodowolzen [4] und den Sozialdemokraten auf rein nationalen Rahmen beschränkt, spiegelte rein nationale Besonderheiten wider, spielte sich sozusagen auf verschiedenen Ebenen ab. Heute (jetzt ist das bereits deutlich zu erkennen) bilden die englischen Fabier, die französischen Ministerialisten, die deutschen Bernsteinianer und die russischen Kritiker eine einzige Familie, sie alle loben einander, lernen voneinander und ziehen gemeinsam gegen den „dogmatischen“ Marxismus zu Felde. Vielleicht wird die internationale revolutionäre Sozialdemokratie in diesem ersten wirklich internationalen Ringen mit dem sozialistischen Opportunismus genügend erstarken, um der schon seit langem in Europa herrschenden politischen Reaktion ein Ende zu bereiten?

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004