Paul Lafargue

 

Das Mutterrecht

(Teil 2)

 

V

Herodot und den Griechen seiner Zeit erschien Ägypten wegen der bevorrechteten Stellung seiner Frauen als die verkehrte Welt; sie hatten keine Ahnung davon, daß noch wenige Jahrhunderte vor ihnen in Griechenland ähnliche Zustände herrschten, wie die, welche ihre Ansichten auf den Kopf stellten.

Varro [82] überliefert uns eine alte Sage, die uns bei dem Kirchenvater Augustinus in seiner Schrift de civitate dei [Über das Gottesreich] erhalten ist. Es heißt da, daß unter Kekrops [83] Regierung in Athen ein doppeltes wunder geschah. Zur selben stunde brachen aus der Erde der Ölbaum, an einer anderen Stelle Wasser hervor. Der König, erschrocken, sandte nach Delphi und ließ fragen, was das bedeute und was zu tun sei? Der Gott antwortete, der Ölbaum bedeute Athene, das Wasser Poseidon, und es liege nun an den Bürgern, nach welchem Zeichen und nach welcher der beiden Gottheiten sie es für passend erachten, ihre Stadt zu benennen. Da rief Kekrops eine Versammlung der Bürger ein, und zwar der Männer und der Frauen, denn es war damals Sitte, auch die Frauen an den öffentlichen Versammlungen teilnehmen zu lassen. Da stimmten die Männer für Poseidon, die Frauen für Athene. Das ergrimmte Poseidon, und alsbald überflutete das Meer alle Ländereien der Athener. Um den Zorn des Gottes zu beschwichtigen, sah sich die Bürgerschaft genötigt, ihren Frauen eine dreifache Strafe aufzuerlegen: Sie sollten ihr Stimmrecht verlieren, ihre Kinder sollten nicht länger der Mütter Namen tragen und sie selbst sollten nicht mehr Athenerinnen genannt werden [84]; das heißt, sie sollten ihr Bürgerrecht verlieren und nichts mehr sein, als die Frauen der Athener.

Übernatürliche Erscheinungen und das Einschreiten eines Gottes waren notwendig, um die Frauen Athens auf die Vorrechte verzichten zu lassen, welche sie zu freien Bürgerinnen machten. Andere Sagen berichten, daß blutige Verbrechen die Familien zerfleischten, ehe es gelang, die Frauen der Rechte zu berauben, die sie im Gemeinwesen und im Klan geachtet machten. Die Sagen Homers sind die Geschichte der Entzweiungen, der wilden Begierden, der Fehden und Kämpfe, welche im Zwiespalt zwischen Eltern und Kindern und zwischen Brüdern entbrannten, bis die Güter und der gesellschaftliche Rang anfingen, nicht von der Mutter, sondern vom Vater vererbt zu werden. In der Orestie, der gewaltigen Tetralogie von Aischylos [85], klingen noch die furchtbaren Leidenschaften nach, welche diese Kämpfe in den Menschen und den Göttern des Zeitalters Homers entflammten.

Will man den historischen Kern der Orest-Sage herausschälen, so muß man die Abstammung seines Vaters und seiner Mutter kennen. Beide entsprossen Familien, die in gleicher Weise durch ihre Verbrechen, wie durch ihre heroischen Taten herausragten.

Betrachten wir den Stammbaum des Agamemnon und der Klytaimnestra:

Stammbaum von Agamemnon und Klytemnaistra

Thyestes [86]

Tantalos setzte den Göttern bei einem Mahl das Fleisch seines eigenen Sohnes Pelops vor, Zeus aber machte ihn wieder lebendig. Atreus und Thyestes, Söhne des Pelops, und Hippokoon und Tyndareos, Söhne des Oibalos, streiten sich um die Güter und die Königswürde ihrer Väter. Hatte die Vaterfamilie die Mutterfamilie ersetzt, ehe noch das Recht des Erstgeborenen sich gefestigt hatte, dann kämpften die Söhne um das Erbe des Vaters. Aischylos legt Aigisthos folgende Worte in den Mund:

[...] Einst hat Atreus, dieses Landes Fürst und Herr,
[...] meinen Vater Thestes, hör’ mich recht,
Den eignen Bruder, der um das Reich mit ihm sich stritt,
Hinausgestoßen aus der Stadt, aus seinem Haus;
Darauf heimgekehrt sucht Schutz am heiligen Herd
Gramvoll Thyestes und erflehte Sicherheit,
Daß er der Heimat Boden nicht mit seinem Blut
Gemordet tränkte; und sofort zum Gastgeschenk
Hat sein [Agamemnons] verruchter Vater Atreus, eifrig mehr
Denn freundlich, meinem Vater scheinbar festlich Mahl
Bereitend, Kost von der eignen Kindlein Fleisch gereicht.
Er ließ die Füßlein und der Hände Fingerkamm
Zerschneiden, heimlich legen unter anderes Fleisch.
Der, ohne daß er wußte, was er nehme, nahm
und aß vom Mahl.

Diese greuliche Mahlzeit und andere Sagen scheinen anzudeuten, daß noch kurz vor dem Zeitalter Homers in Griechenland Fälle von Menschenfresserei vorkamen.

Atreus und Thyestes, die beiden Brüder, haben dieselbe Gattin, Erope. Klytaimnestra ehelicht nacheinander drei Enkel des Pelops: Agamemnon, Sohn des Atreus, und Tantalos und Aigisthos, Sohn des Thyestes. Helena, Schwester der Klytaimnestra, heiratet Menelaos, Bruder des Agamemnon. Diese Ehen lassen vermuten, daß die Familien der Pelopoiden und Tyndarien zu zwei verehelichten Klans gehörten, ähnlich wie das heute in Australien vorkommt, wovon wir oben berichtet haben.

Verfolgen wir nun das düstere Drama von Aischylos. Die Pflicht der Rache, „der unauslöschliche Durst nach Blut“, quält da Götter und Sterbliche.

Klytaimnestra und Aigisthos töten Agamemnon: die eine, um ihre Tochter Iphigenia zu rächen, die Agamemnon geopfert hatte; der andere zur Rache für seinen Vater Thyestes.

So wäre selbst zu sterben jetzt mir lieb und leicht,
Nachdem ich diesen in die Schlingen Dikes [87] trieb

ruft Aigisthos frohlockend beim Anblick des Leichnams des Helden, der in das Netz verwickelt ist, das man über ihn geworfen hat, um ihm die Verteidigung unmöglich zu machen. Der Familie hatte damals die Pflicht, die Schmach zu vergelten, die man einem ihrer Mitglieder antat; die „Vendetta [Blutrache]“ war eine heilige Pflicht, ein Akt der Gerechtigkeit.

Elektra, die Schwester des Orestes, weint nicht auf dem Grab ihres Vaters; sie stachelt ihren Haß und entflammt ihr Herz zur Tat der Rache. Sie fleht:

Zeus, Zeus, der aus den Gräbern Du empor
Der alten Ata Rachegeister schickst,
Nun triff, o triff die frevelhafte Hand,
Triff sie, die Mörderhand der falschen Eltern.
[...] Einen unersättlich’ blut’gen Wolf
Gebar die Mutter: sühnelosen Haß.

– – – – – – – – – – – – – – – –

O ruchlos Weib! Allfrechste Mutter!
Mit Haß und Hohn, wie Feind den Feind
So ohn’ Geleit seines Volkes
Ohn’ Grabgesang, ohn’ Grabgesang
Einscharrtest Du tränenlos den Helden!

Orestes: Schimpf ohne Gleichen, was Du nanntest! Wehe
Nun soll sie büßen unsres Vaters Schmach
Kraft der Dämonen Hilfe und meiner Hand:
Dann sterb’ ich gerne, hab’ ich sie erschlagen.

Elektra: Tief bohr ich durch’s Ohr Dir dieses Wort,
Und was Du hörst, das schreibe Dir ins Herz;
Denn also war es: geh’ und schau’ und denke:
Hier gilt es furchtlos fürchterlichen Kampf.

Und während so in dieser Szene Elektra Haß und Rachedurst in Orestes entfacht, wendet sich der Chor, gewissermaßen die Stimme des öffentlichen Gewissens, an die Götter und erinnert an die alten Sitten:

Ihr gewaltigen Noiren [88], mit Zeus Beistand
Werd’ es so vollbracht
Wie das Recht mitwandelnd den Pfad zeigt!
Für feindliches Wort sei feindliches Wort,
Also ruft Dike, die lautere, laut,
Wenn die schuldige Buße sie eintreibt!
Für blutigen Mord sei blutiger Mord!
Wer tat, muß leiden! so heißt das Gesetz
In den heiligen Sprüchen der Väter.

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ja, es ist ein Gesetz, daß sterbend der Strom
Des vergossenen Blutes Blut wieder verlangt;
Und es ruft der Mord die Erinnyen [89] wach,
Von den früher Erschlagenen die Blutschuld wach,
Die heraufführt andere Blutschuld.

Ein Gott, Loxias [90], legt Orestes die Pflicht der Rache auf:

Nicht mich verraten wird der allgewalt’ge Spruch
Des Loxias, der dieses Wagnis mir gebeut,
Der laut mich aufrief, Qualen, sturmgegeißelte,
In meinem heißdurchglühten Herzen mir verhieß,
Wenn ich des Vaters Mörder nicht verfolge,
zur Rache sie zu morden mit demselben Mord;
Zerstört von seinen Strafen, nicht an Hab’ und Gut,
Nein an der lieben Seele, sprach er, würd’ ich dann
Drum leiden vieles, unerträglich bitt’res Leid.

Nur bei Barbaren, wie bei den Griechen des heroischen Zeitalters oder den Rothäuten Amerikas findet man jenen unauslöschlichen Durst auf Rache. „Ihre Herzen brennen vor Begierde Tag und Nacht ohne Unterlaß, bis sie Blut für Blut vergossen haben. Sie vererben vom Vater auf den Sohn die Erinnerung an den Verlust ihrer Verwandten, oder eines Angehörigen ihres Stammes oder ihrer Familie, auch wenn es nur ein altes Weib war“. [91]

Man erzählt von Wilden, die sich töteten, weil sie keine Möglichkeit sahen, sich zu rächen. Unsere Moralisten, Ökonomen und selbst unsere Poeten und Romanschriftsteller, deren Psychologie doch nicht so phantastisch ist, wie die der Philosophen, werden nicht müde, uns unaufhörlich zu wiederholen, daß der Mensch zu allen Zeiten derselbe gewesen sei, daß stets dieselben Leidenschaften sein Herz bewegten. Nichts ist unrichtiger: Der Mensch der Zivilisation empfindet ganz andere Leidenschaften als der Barbar.

Vor keinem Verbrechen schrecken die Barbaren zurück, die das Verlangen nach Rache peinigt. Zehn Jahre lang wartet Klytaimnestra auf den Augenblick der Rache für ihre Tochter. Die Ermordung Agamemnons macht sie trunken vor Freude; mit wilder Lust erinnert sie sich an die Tat.

Sie erzählt dem Chor von Greisen aus Argos [92]:

Ich schlag’ ihn zweimal, zweimal wehrufend läßt
Er matt die Glieder sinken; als er niederliegt,
Geb’ ich den dritten Schlag ihm, für des Hades Zeus,
Den Retter der Gestorb’nen, frohgebot’nen Dank.
So fallend haucht er seinen Lebensatem aus,
Und trifft, des Blutes jähen Strahl ausröchelnd, hier
Mit einem dunklen Tropfen mich des blut’gen Taus,
Mir minder nicht zur Freude, als Zeus Regenschau’r
Dem Acker, wenn in den Knospen Mutterschoß es schwillt.
Um solchen Ausgang möget ihr, ehrwürd’ge Schar,
Euch freuen, wenn ihr möget; ich frohlocke laut.
Und wär’ es Sitte, Spenden über Leichen auch
Zu gießen, hier wär’s wohl gerecht – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – Da liegt Agamemnon, mein Gemahl,
Und zwar als Leichnam, dieser meiner rechten Hand,
Des gerechten Schlächters Meisterstück! So steht es jetzt.

Klytaimnestra kennt keine Gewissensbisse: „Niemals hoff’ ich, schleicht in unser Haus sich Furcht“; sie hat ihr Blut gerächt, den Mann getötet, „der meines Schoßes liebste Frucht abtat“; es sind Göttinnen, Ate, Dike, die Erinnyen, die ihr halfen, diesen Mann zu erschlagen. Sie hat eine heilige Pflicht erfüllt und freut sich ohne Scheu. Die öffentliche Meinung billigt die Tat, sie lebt ungestört fort, bis Agamemnons Sohn herangewachsen u„d imstande ist, seinen Vater zu rächen. Die öffentliche Meinung ist bei urwüchsigen Völkern allmächtig; sie ist die Autorität, vor der jeder sich beugt und die unversöhnlich alle verfolgt, die die überlieferten Sitten und Gewohnheiten verletzen; um ihr zu entgehen, verlassen die Schuldigen oft ihre Heimat und verbannen sich selbst, bis ihre Vergehen vergessen sind. Der Mann, den Klytaimnestra getötet hat, war ein berühmter Kriegsheld, der siegreich aus einem ruhmvollen Feldzug heimkehrte. Das Griechenland Homers bewaffnete sich, um den Raub einer Frau zu rächen, und die Ermordung eines der größten Griechen blieb ungestraft.

Klytaimnestra schreckt nicht davor zurück, einen ihrer Gatten, einen berühmten Krieger, zu töten. Dagegen scheint es Orestes als das entsetzlichste der Verbrechen, die Hand gegen die Mutter zu erheben, und sei es auch, um den Vater zu rächen: Und doch empfindet er keine Zuneigung zu seiner Mutter, die er nie gekannt hat; er beschuldigt sie, ihn seines väterlichen Erbes beraubt und aus der Heimat vertrieben zu haben. Es ist notwendig, daß ihn antreibt

[...] Loxias durch seinen Spruch:
Daß, wenn ich’s täte, sonder Schuld ich sollte sein
Wenn ich es ließe – meine Strafe nenn’ ich nicht,
Mit keinem Pfeil reicht keiner ob ein solches Leid!

Apollon, der neue Gott, treibt ihn, seine Mutter zu töten, um seinen Vater zu rächen. Die Eumeniden [93], die alten Göttinnen, die darüber zu wachen hatten, daß der Verwandtenmord gerächt werde, lassen ihn in Frieden; sie hielten die Tötung eines Gatten für ein Verbrechen, das sie nichts anging, da der Gatte nicht von demselben Blute war, wie seine Frau.

Mit List tötet Orestes Aigisthos. Klytaimnestra, bewaffnet mit dem „scharfen Schlachtbeil“, eilt hervor, um Aigisthos’ Mörder zu bekämpfen. Orestes, erhitzt vom ersten Mord, das Schwert in der Hand, stürzt auf seine Mutter und ruft: „Ich suche Dich auch! Er erhielt sein volles Teil!

Klytaimnestra: Halt ein, o Sohn! Und scheue diese Brust, o Kind.

Orestes läßt die Arme sinken und wendet sich zu seinem Freund.

Orestes: Was tu’ ich, Pylades? Scheu’ ich meiner Mutter Blut?

Pylades: Wo bleibt der Gott mit seinen Sprüchen dann?
Denk Deiner Eide und des Pythotempels [94].

Orestes: Dein Wort, es siegt, Du gemahnst ans Rechte mich.

Klytaimnestra: O Sohn und scheust Du Deiner Mutter Flüche nicht?

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Du! vor der Mutter grimm’en Hunden hüte Dich!

In der alten Mythologie gab es Ungeheuer, wie diese „grimm’en Hunde“, und Göttinnen, deren besondere Aufgabe in der Bestrafung der Muttermörder bestand.

Zeus, gleich Apollon ein neuer Gott, sollte der Rächer der Väter werden. Der Vatermord ist ein neues Verbrechen; es konnte nicht begangen werden, als der Vater noch unbekannt war. Das Wort Vatermörder, patrophonos, bezeichnet bei Aischylos nicht bloß das Kind, sondern allgemein überhaupt eine Person, die den Vater tötet, während die Worte metrophonos, metroktonos, speziell das Kind bezeichnen, das seine Mutter tötet. Die griechische Sprache ist reich an Ausdrücken zur Bezeichnung von Verhältnissen und Dinge, die mit der Mutter in Verbindung stehen; sie gehören fast alle der Sprache der Dichter an: metraloias, der seine Mutter schlägt; metrogamia, die Ehe mit der Mutter; metroriptos, der von der Mutter Verworfene, Zurückgewiesene; metrodokos, der von der Mutter gastlich Aufgenommene usw. Die beiden letzten Worte, die in der römischen Zeit aus der Sprache verschwinden, zeigen uns die Mutter und nicht den Vater als den Herrn im Haus, der aufnimmt und abweist.

Sobald Orestes sein Verbrechen begangen hat, erfaßt ihn wilde Angst. Er ruft Helios an, den Sonnengott

[...] Der meiner Mutter Taten sah;
Daß er mir einst ein Zeuge vor Gericht,
Wie ich gerecht gejagt nach diesem Mord,
Dem Mord der Mutter [...]

– – – – – – – – – – – – –

Doch, daß Du wissest – denn ich sah, wohin mich’s führt; –
Wie mit Rossen fahrend, komm’ ich von der Wagen Bahn
Seitab; mich reißen fort die Sinne zügellos
Unwiderstehlich; schon dem Herzen will die Angst
Ihr Lied beginnen, klopfend tanzt es hast’ gern Schlag.

Er wird wahnsinnig:

Ha, welche Weiber! Seht sie dort, Gorgonen [95] gleich,
Die schwarzverhüllten, grausig haardurchflochtenen
Mit dichten Schlangen; bleiben nicht mehr kann ich hier.

Chor der Mägde: Welch wirres Wahnbild, Du des Vaters liebstes Kind
Scheucht Dich empor? Bleib, der du siegtest, fürchte nicht!

Orestes: Nicht ist’s ein Wahnbild, was mich bräuend dort entsetzt,
Nein, meiner Mutter blutempörten Hund sind’s!

Wenn Klytaimnestra nach der Ermordung eines ihrer Gatten ruhig in Argos bleiben konnte, ohne vom göttlichen Zorn oder der Entrüstung der öffentlichen Meinung getroffen zu werden, so muß Orestes fliehen, um dem Grimm des Volkes zu entgehen, muß Argos meiden und die Güter seines Vaters im Stich lassen, die er durch die Ermordung des Aigisthos wieder zu erlangen suchte.

Die beiden ersten Teile der Trilogie des Aischylos (Agamemnon und Die Choëphoren [Die das Totenopfer Spendenden]) bilden das Drama der Blutrache; der dritte Teil, (Die Eumeniden) ist der Kampf des Mutterrechtes mit dem Vaterrecht, des alten Rechtes mit dem neuen.

Die Eumeniden, diese Töchter der Nacht, welche sie zur Bestrafung der Verbrechen gebar, zur Erhaltung der Blutrache und der alten Bräuche, sie sind der Schrecken der neuen Götter. Apollon nennt sie

Ein gräßlich greises Nachtgeschlecht, das nie
Ein Gott, ein Mensch, ein Wesen je umarmt.
Des Bösen wegen sind sie da und hausen
Im bösen Nebelheim des Tartaros’ [96],
Abscheu den Menschen und den ew’gen Göttern.

Sie verteidigen die Autorität der Mutter: Verschwänden sie oder würde ihre Macht durch die neuen Götter gebrochen, dann wäre die Mutter schutzlos unter den Göttern und Menschen, auf Erden und in der Unterwelt wie in den Wohnungen der Himmlischen. So lange sie ihre Macht bewahren, wird der Muttermord das größte aller Verbrechen sein. Sie rufen Orestes zu:

[...] Niederfloß ja Mutterblut!
Unwiederbringbares Blut!
So in den Staub einmal vergossen, ist’s dahin!
Nein, büßen mußt Du’s, daß ich Dir Lebendigem
Aussaug’ aus den Adern das rote Geblüt!
Mich an Dir satt schlürfen will ich, blutigen Mißtrunkes satt!
Lebendig ab Dich zehrend jag ich Dich hinab [in die Unterwelt]
Büßen so gleicher Qual wirst Du des Muttermordes Fluch!

Weder Virgil [97] noch Dante [98], keiner der Dichter, keiner der christlichen Visionäre, die in die Hölle hinabstiegen, erzählt uns von den Qualen, die den Muttermörder erwarten: Sie sind aus dem Katalog der Höllenstrafen verschwunden, sobald die Mutter aufhörte, der Mittelpunkt, der Stamm der Familie zu sein. Früher waren diese Strafen:

Verstörung, Wirrsinn, Wahnsinn,
Erinnyenfestgesang
Harfenlos, den Sinn zu fahn, welk zu dörren Menschenkraft!

Die Eumeniden erwähnen nie ihren Vater; sie stehen nur zu ihrer Mutter, der Nacht:

Urmutter Nacht, die strafend Du mit Träumen
Dich auf gebroch’ne Augen niedersenkst,
Wie auf lebendig leuchtende, vernimm!
Es schafft uns Schande, Mutter, Letos Sohn,
Der uns das Wild, das Opfer blut’ger Schuld,
Des Muttermordes Sühnung rauben will.

Sie klagen Letos Sohn (Apollon) an, weil er Orestes vor ihnen schützt. Er bricht das alte Gesetz [99]:

Hohu! Sohn des Zeus, bist ein verschmitzter Dieb.
Uns greise Götter überrennst Du, junger Gott!
Der Du dem Flüchtling Schutz, Schutz dem Verruchten gibst,
Dem mordblutigen Sohn!
Den Muttermörder stahlst Du uns und bist ein Gott!
Wer wird gerecht je nennen solch ein Tun?

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Du Fürst Apollon, höre nun auch wieder mich!
Wohl bist Du nicht zu nennen als Mitschuldiger,
Nein, Du allein tatest alles, Du Allschuldiger.

Apollon: Wie das? So lang noch sei zu reden Dir vergönnt.

Chor der Eumeniden: Du gebotest dem fremden Manne seiner Mutter Mord.

Apollon: Ich gebot ihm, Rache seines Vaters. Soll’ er nicht?

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Chor: Den Muttermörder treiben wir aus Haus und Hof.

Apollon: Wie denn? Auch den des Weibes, die den Mann erschlug?

Chor: Das ist mitnichten wahrer blutsverwandter Mord.

Da der Gatte nicht demselben Klan angehörte, wie seine Gattin, kam die Pflicht, ihn zu rächen, nicht seinen Kindern zu, die nach der ursprünglichen Anschauung nicht von seinem Blut und Klan waren. Im Fortgang des Dramas erklärt Apollon, er habe Zeus’ Willen erfüllt, wenn er Orestes zum Muttermord antrieb [100].

Chor: Zeus hat, so sagst Du, Dir geboten solchen Spruch,
Daß Du Orestes rietest, seines Vaters Mord
Zu rächen; sollte der Mutter Ehrfurcht nichts ihm sein?

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Vor zieht das Los des Vaters Zeus nach Deinem Wort,
Und band doch seinen greisen Vater Kronos selbst!

Der heilige Basilius [101] und die griechischen Kirchenväter haben gerne und lebhaft die Inkonsequenz der heidnischen Mythologie hervorgehoben und zitierten zu diesem Zweck auch die angeführte Stelle aus Aischylos. Zeus fesselte seinen Vater Kronos [102], der seinerseits wieder seinen Vater Uranos entthront hat. [103] Das war ein frevelhaftes Tun vom Standpunkt der Vaterfamilie aus, die zur Zeit der Kirchenväter in Rom und Griechenland bereits lange herrschte, dagegen lag darin gar nichts Verletzendes für die Anschauungen der mutterrechtlichen Vorzeit, wo Vater und Sohn verschiedenen Klans angehörten, und in Kampf geraten, ja selbst einander töten konnte, ohne ein Verbrechen zu begehen.

Apollon und die Eumeniden wenden sich an Athene als Schiedsrichterin: Die Wahl einer Göttin ist eine Konzession an die alten Sitten.

Athene und die neuen Götter wollen die Blutrache abschaffen, sie wollen, daß die Gesellschaft die Bestrafung der Verbrechen in die Hand nehme, die bis dahin den Angehörigen der verletzten Familie anheimgegeben war. Die Rechtsprechung des Gemeinwesens sollte die Rechtsprechung der Familie ersetzen. Um den Fall zu hören und ihn zu richten, setzt Athene einen Gerichtshof ein, den Areopag. Er soll für die Bürger Athens „für alle Zukunft fürder bleiben und bestehen“. Eine andere Sage erzählt, daß der Areopag seinen ersten Richterspruch über Kephalos fällte, der aus Versehen seine Frau getötet hatte; er verurteilte ihn zur Verbannung. Es ist bemerkenswert, daß die Einrichtung des Areopags mit der Tötung einer Frau du„ch ihren Gatten in Verbindung gebracht wird.

Orestes klagt die Eumeniden an, daß sie Klytaimnestra nicht verfolgten, sie ihren Gatten und ihm den Vater erschlug. Sie antworten ihm:

Sie war dem Mann nicht blutsverwandt, den sie erschlug.

Orestes: Ich aber, sagst Du, bin ich von meiner Mutter Blut?

Chor: Trug denn, Du Blut’ger, unter ihrem Herzen sie
Dich nicht? Verleugnest Du der Mutter teures Blut?

Das Blut der Mutter verleugnen! Die Rothäute wollten lieber an den Marterpfahl gebunden werden, als sich in einen neuen Klan aufnehmen lassen, das Blut der Mutter verleugnen. Aber Orestes ist die Verkörperung der Umwälzung, welche alle Sitten der Mutterfamilie mit Füßen tritt. Er vergießt das Blut der Mutter und verleugnet es, um sein Verbrechen zu rechtfertigen; und um zu beweisen, daß er nicht vom Blut der Mutter sei, ehelicht er Hermione, die Tochter der Helena, der Schwester Klytaimnestras; die Cousine von mütterlicher Seite zu heiraten war in den Augen der urwüchsigen Menschen eine ebenso scheußliche Blutschande, wie für uns eine Ehe zwischen Vater und Tochter. Wir haben gesehen, wie wütend die Australier diejenigen verfolgten, die auch nur aus Zufall eine solche Untat begingen. Später heiratete Orestes Erigone, die Tochter seiner eigenen Mutter Klytaimnestra, aber von Aigisthos.

Die Eumeniden sehen sich von den neuen Göttern verurteilt; sie wenden sich nun an die menschliche Gerechtigkeit:

Der seiner Mutter blutsverwandtes Blut vergoß,
Der soll in Argos, seiner Heimat wohnen?
Bei welchen Volksaltären wird er opfern,
Bei welchen
Weihguß seinem Stamm [Phyle] willkommen sein?

Da führt Apollon den entscheidenden Schlag, er greift die Frau in ihrer wesentlichen Funktion, ihrer Mütterlichkeit an, der sie ihre Oberhoheit verdankte:

Es ist die Mutter dessen, den ihr Kind sie nennt,
Nicht Zeugerin, nur Pfleg’rin eingesäten Keims;
Es zeugt der Vater, aber sie bewahrt das Pfand,
Dem Freund die Freundin, wenn ein Gott es nicht verletzt.
Mit sich’rem Zeugnis will ich das bestätigen:
Denn Vater kann man ohne Mutter sein;
Beweis
Ist dort die eig’ne Tochter des Olympiers Zeus,
Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg.
Und edler Kind gebar doch keine Göttin je.

Auf die kecken Behauptungen von den jungfräulichen Geburten von Göttinnen, die sich rühmten, auch ohne männlichen Beistand empfangen zu können, antwortet der Mann mit der Darstellung der Athene, die aus dem Kopfe des Zeus entspringt, der lebendige Protest gegen die Mutterfamilie. Sie ist von vornherein gewonnen und erklärt offen ihre Parteilichkeit:

[...] keine Mutter war’s, die mich gebar;
Die Männer lieb’ ich, doch die Ehe nicht; –
Bin ganz vom Herzen recht des Vaters Kind.
Drum werd’ ich nie des Weibes Los begünst’gen,
Die ihren Mann, des Hauses Herrn, erschlug.

Die Mutter ist nur mehr ein Behälter zur Aufbewahrung des empfangenden Keimes: Die Frau ist entthront. Fast 100 Jahre später bedient sich Euripides [104] in seinem Orestes desselben ganz und gar nicht physiologischen Arguments. Im 18. Jahrhundert, als das Mikroskop verbessert wurde, glaubten die Gelehrten, dadurch im Samen den Homunkulus sehen zu können, ein unendlich kleines menschliches Wesen, an dem sie nicht nur den Kopf, sondern auch die inneren Organe entdeckten.

Die Eumeniden rufen verzweifelt:

Jo! Ihr Götter jungen Stamm’s, der Urwelt Gesetz,
Ihr rennt es nieder, reißt es fort aus meiner Hand.

Sie haben ihre Rolle ausgespielt. Der Sohn gehört nicht mehr der Mutter. Der Vater ist der Herr des Hauses, wie Athene erklärt, der Sohn befiehlt der Mutter. Telemach gebietet seiner Mutter Penelope, den Festsaal zu verlassen und sich ins Frauengemach zu begeben:

Auf, zum Gemach hingehend, besorge Du Deine Geschäfte,
Spindel und Webstuhl, und gebeut den dienenden Weibern,
Fleißig am Werk zu sein. Für das Wort liegt Männern die Sorge ob,
Allen und mir ja zumeist; denn mein ist die Macht in der Wohnung.
(Odyssee, 1. Gesang, 357-360).

So sagt Jesus (nach dem Evangelium Johannes) zu seiner Mutter: „Was willst Du von mir Frau?“ [105] und fügt hinzu, er sei auf Erden gekommen, um die Befehle seines Vaters zu erfüllen und nicht, um mit den sorgen der Mutter zu befassen. [106]

Die Familie und der Kultus erhalten sich durch ihn [den Vater]; er allein vertritt im Kultus die ganze Reihe der Nachkommen. Auf ihm ruht der häusliche Gottesdienst; er kann beinahe, wie der Hindu sagen: Ich bin der Gott. Ist er gestorben, wird er ein göttliches Wesen sein, das die Nachkommen anrufen werden. [107]

Die Frau wird von da an als Minderjährige behandelt; sie ist ihrem Vater, ihrem Gatten unterworfen, und nach dessen Tod seinen Verwandten: Die Männer und die Nachkommen der Männer schließen die Frauen und die Nachkommen der Frauen von der Erbschaft des Familienvermögens aus. Cato der Ältere [108] formuliert das neue Ehegesetz folgendermaßen: „Der Gatte ist der Richter seines Weibes; seine Macht hat keine Grenzen; er kann mit ihr tun, was er will; er straft sie, wenn sie einen Fehler begangen hat; er verurteilt sie, wenn sie Wein getrunken hat; er tötet sie, wenn sie mit einem anderen Mann verkehrt“. Das indische Gesetz des Manu verurteilt die Frau, die „ihrem Herrn die Treue gebrochen, von Hunden an einem belebten Platz zerrissen zu werden“. [109]

Ein neues Verbrechen war geboren: der Ehebruch.

Die Klitaimnestra des Aischylos, die mit Willen der ganzen Bevölkerung mit Aigisthos, ihrem zweiten Gatten, dem leiblichen Vetter Agamemnons lebte, konnte den Greisen von Argos zurufen:

Nicht weiß von Wollust, von verbot’ner Heimlichkeit
Mit fremdem Manne mehr ich, denn vom Bad des Stahls.

Orestes und Apollon klagen sie in den Eumeniden der Ermordung Agamemnons an, aber nicht des bruchs der ehelichen treue. Und doch dramatisiert Aischylos die Sage mehr als fünf Jahrhunderte nach der angenommenen Zeit der Eroberung Trojas, nachdem sie durch die lange Berührung mit neuen Anschauungen und Sitten jedenfalls schon viel von ihrem ursprünglichen Charakter verloren hatte. Fast 100 Jahre nach Aischylos behandelt Euripides den selben Stoff: Seine Klytaimnestra ist bereits nicht bloß Mörderin, sondern auch Ehebrecherin. Sie ist „eine verbot’ne Verbindung eingegangen, [...] sie hat das eheliche Bett befleckt“. Vor dem Volke findet Orestes als Verteidiger „einen Bürger von tapferem Herzen, unbescholten und tadellos, der vorschlägt, den Sohn Agamemnons zu krönen, weil er seinen Vater rächte, indem er ein freches und frevelhaftes Weib tötete, das Ursache war, daß kein Bürger mehr sich bewaffnen und aus der Heimat in den Krieg ziehen wollte, wenn die zurückbleibenden Männer die Hüterinnen des Hauses verführen und das Ehebett besudeln“. In der Elektra des Euripedes ist Klytemnaistra von ihrer würdevollen Erhabenheit herabgestiegen: Sie wird ein unterwürfiges weib, das sich schuldig fühlt und nur mildernde Umstände geltend macht. Sie erklärt Agamemnon zum Mitschuldigen ihres ehebruches: „Wenn der Gatte sich soweit vergißt, daß er das Ehebett verachtet, dann folgt die Gattin willig seinem Beispiel und sucht anderwärts einen Geliebten“.

Der Frau fällt eine neue Pflicht zu, die eheliche Treue; aber in den Frauengemächern eingeschlossen, rechtlos dem Mann gegenüber, verliert sie bald ihre historische Rolle. In den Zeiten Homers ist die Frau der Mittelpunkt der Sagen; überall greift sie mächtig ein. Die Überlieferung, die hauptsächlich von den Männern weitergegeben worden ist, hat nichts bewahrt, als die Erinnerung an ihre Verbrechen. Aischylos greift die Frauen in seinen Choëphoren mit solcher wut an, daß man annehmen muß, sie haben sich zu seiner Zeit noch nicht völlig unter das Joch des Mannes gebeugt:

Was gleicht frevellustkecken Weibe’s
Scheulos ungehemmtem Lustbuhlen,
Dem Jammersborn der Sterblichen?
Alle Wildheit, alle Brunst
Selbst des Getiers überholet die weibergeherrschte
Lieblose Liebesgier.
Hört an, so ihr nicht mit Flattersinn,
Eitler Spieles forschet,
Was einst Thestios [110], was die Kinderschänderin arg ersann.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ihr gleich sei, in aller Mund ein Greul,
Skylla [111] bluttriefend;
Die, dem Feind zu Lieb’, einen, der ihr teuer war, umgebracht.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ob allen Greultaten ragt die Lemnische [112];
In Volkes Munde lebt sie als entsetzlich noch.

Die Gattinnen verschwanden aus dem öffentlichen Leben Athens, herabgewürdigt und erniedrigt durch die neue Organisation der Familie, beschimpft im Theater durch die unverschämten und rüden Verhöhnungen des Aristophanes [113], welche von den Kirchenvätern und Moralphilosophen und Schöngeistern der folgenden Zeiten mit Behagen wiederholt wurden. Die Hetäre, die Prostituierte, umworben von den Adeligen, den Reichen und Mächtigen, besungen von den Dichtern und erhoben von den Philosophen, die sie unten an ihrer Tafel duldeten, bemächtigte sich des Platzes, von dem die Familienmutter verjagt worden war. [114] Die Athener, welchen der traurige Ruhm zuteil geworden ist, unter allen Völkern des Altertums dasjenige gewesen zu sein, welches die Stellung der Frau in der Familie am tiefsten herabgedrückt hat, gaben sich, mit Zustimmung ihrer Moralphilosophen, infamen Sitten hin, die sie, wie Herodot berichtet, in allen Ländern einführten, in die sie kamen. [115] Zeus, der „Vater der Götter“, „der Rächer der Väter“, „der Hüter der ehelichen Treue“, wurde der Liebhaber Ganymedes. [116]

 

 

VI

Diese Theorie von der Entstehung Athens, neuerfunden, um die überwiegenden Wichtigkeit des Vaters bei der Zeugung zu belegen, konnte den Volksgeist nicht überzeugen, der handfeste Tatsachen einer sophistischen Beweisführung vorzieht. Er legte sich die Sache in anderer Weise zurecht, um der Ersetzung der Mutter durch den Vater zuzustimmen.

Man kennt die Couvade der Basken: Wenn die Frau geboren hat, legt sich der Mann ins Bett, stöhnt und windet sich; die Familienfreunde aus der Nachbarschaft kommen zusammen und beglückwünschen ihn zu seiner glücklichen Entbindung. Diese sonderbare Sitte, die schon Strabo bei den Iberern [117] beobachtete, hat sich bis heute erhalten. Man nahm früher an, die Basken seien ganz besonders humorvolle Leute, daß sie ihren Freunden und Verwandten das Schauspiel einer so grotesken Szene gewährten. Als aber die Europäer Amerika entdeckten, fanden sie zu ihrem Erstaunen, daß die gut christlichen Bewohner von Biskaya und Guipuzcoa nicht die einzigen sind, welche die Couvade aufführten. Von den Abiponen [118] in Südamerika erzählt Dobrizhoffer [119]: „Kaum siehst Du, daß ein Kind geboren ist, so siehst Du auch den Ehemann in Decken und Felle gehüllt und vor jedem rauhen Luftzuge geschützt, im Bett liegen. Er fastet, wird abgeschlossen gehalten und versagt sich für eine Reihe von Tagen gewissenhaft bestimmte Fleischspeisen, so, daß Du schwören möchtest, er sei es gewesen, der entbunden ward“. Von den Indianern von Guiana [120] bemerkt Brett: „Nach der Geburt eines Kindes verlangt die alte Indianersitte, daß der Vater sich in seine Hängematte lege. Er bleibt einige Tage in derselben, als sei er krank, und nimmt die Glückwünsche und Beileidsbezeigungen seiner Freunde entgegen. Ich selbst beobachtete diese Sitte einmal bei einer Gelegenheit, wo der Mann bei vollkommener Gesundheit und ausgezeichnetem Wohlsein in der spotterregendsten Weise in seiner Hängematte lag und aufs Ehrerbietigste und Sorgfältigste von den Frauen gepflegt wurde, während die Mutter sich mit dem Kochen beschäftigte – und sich anscheinend niemand um sie kümmerte“.

Man hat diesen Brauch fast überall beobachtet: in Europa, in Afrika in Asien; in der alten, wie in der neuen Welt; in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Marco Polo [121] fand ihn in Yünnan (im südwestlichen China, östlich von Tibet und Birma) im 13. Jahrhundert. Apollonius [122], der im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte, erzählt von einem Volk am Schwarzen Meer, wo „die Frauen ihre Kinder unter Teilnahme der Männer gebären, die sich niederlegen, und, das Haupt verhüllt, wimmern und jammern; die Frauen pflegen sie mit Speise und Trank und bereiten ihnen Bäder“. Von den Einwohnern Zyperns berichtet Plutarch, daß sie sich ins Bett legen und Stimme und Bewegung einer kreißenden Frau nachahmen. Diese Beispiele könnten leicht noch vermehrt werden; die angeführten dürften genügen, um zu zeigen, wie verbreitet die Couvade war und noch ist.

Auch die Götter hielten es nicht unter ihrer Würde, die Komödie aufzuführen. Zeus gibt sich nicht damit zufrieden, Athene geboren zu haben. Er legt sich zu Bett, stöhnt und seufzt und schwört, er habe den kleinen Dionysos in seiner Hüfte getragen, wo er ihn aufgenommen, nachdem dessen Mutter vor seiner Geburt ihren Tod gefunden hat: Infolge eines seltenen Privilegs war Dionysos „Dimetor“, zwei Müttern entsprossen. Heutzutage kommt es höchsten vor, daß man mehrere Väter hat.

Die Couvade der Basken war ein amüsantes Thema für Scherz und Witz, so lange man glaubte, es mit einer besonderen Eigentümlichkeit dieses Volkes zu tun zu haben. Aber die Tatsache, daß man diese Sitte bei so vielen und verschiedenen Völkern wiederfindet, verdient Beachtung.

Der Mensch, das grausamste und absonderlichste unter allen Tieren, kleidet manchmal die ernstesten gesellschaftlichen Erscheinungen in die lächerlichsten Zeremonien. Die Couvade ist eine der Finten, die der Mann anwandte, um die Frau aus ihrer Stellung und ihrem Eigentum zu vertreiben. Der Akt des Gebärens verkündete das höhere Recht der Frau in der Familie: Der Mann parodierte diesen Akt, um zur Überzeugung zu gelangen, daß das Kind vor allem ihm das Leben verdanke.

Wir sehen, die Vaterfamilie ist eine verhältnismäßig junge Einrichtung, deren Eintritt in die Welt von so vielen Verbrechen begleitet war, wie vielleicht in Zukunft verübt werden müssen, wenn die menschlichen Gesellschaften eine Rückkehr zum Matriarchat versuchen sollten. [123]

 

 

Anmerkungen

82. * Zitate aus den nicht erhaltenen 72 Büchern des Gelehrten Marcus Terentius Varro (116-27) sind die wichtigsten Quellen über das Alltagsleben im alten Rom.

83. * Mystischer König – halb Mensch, halb Schlange.

84. Bachofen: Das Mutterrecht, S.41 (* siehe Anm.7).

85. * Das Werk des Dramatikers Aischylos (525-456) markiert den Höhepunkt der griechischen Tragödie.

86. Die beiden Brüder Atreus und Thyestes ehelichten Erope.

87. Dike, die Gerechtigkeit – Anm.d.Übers.

88. Noira, die Schicksalsgöttin, wie die Parze der Römer – Anm.d.Übers.

89. Erinnyen, die Rachegöttinnen – Anm.d.Übers.

90. Bei Aischylos heißt Apollon Loxias (der Krumme) von den Orakelsprüchen, die immer lauter Umschweife machen und nichts gerade heraus sagen.

91. (* James) Adair: History of American Indians (* London 1775, S.150), zitiert bei Morgan: Ancient society, S.77 (* Reprint [siehe Anm.12], S.65).

92. * Stadt auf dem Peloponnes.

93. * Eurinnyen.

94. * alter Namen von Delphi.

95. * flügeltragende, schlangenartige Ungeheuer.

96. * Strafort der Unterwelt.

97. * Der römische Dichter Publius Vergilius Maro (fälscherlicherweise Virgil) (70 v.u.Z.-19 u.Z.), der Verfasser der Aeneis wird.

98. * vom italienischen Dichter Dante Alighieri (1265-1321) im ersten Teil seiner Divina comedia <[Göttlichen Komödie] zum Führer durch das „Inferno [Hölle]“ gemacht.

99. * Satz in der deutschen Version fehlend.

100. * In der französischen Version wird diese Stelle nur zitiert, nicht ausgeführt.

101. * Basilius, Bischof von Sebaste in Armenien versuchte durch einen logisch-spekulativen Gottesbeweis den griechischen Spiritualismus zu überwinden.

102. Es ist bemerkenswert, daß, so wie Zeus seine Schwester Hera, so Kronos seine Schwester Rhea zur Gattin hat.

103. * Vorher kastrierte er ihn durch einen Sichelhieb.

104. * Der Tragiker Euripides (485-406[?]) war mit der griechischen Sophistik (Aufklärung) verbunden.

105. * Johannes II, 4.

106. * Satzteil ab dem Zitat in der deutschen Version fehlend.

107. Fustel de Coulanges: La cite antique (* deutsche Fassung: Der antike Staat – Studie über Kultus, Recht und Einrichtungen Griechenlands und Roms, Berlin und Leipzig 1907; hier zit. Reprint: Graz 1961, S.94).

108. * Marcus Porcius Cato (234-149) versuchte als Zensor durch einschneidene Maßnahmen den sittlichen Niedergang Roms aufzuhalten.

109. Im Januar dieses Jahres (* 1886) wies das Ziviltribunal des Seine-Departements die Scheidungsklage einer Frau ab und erkannte dem Mann das Recht zu, sein Weib zu schlagen, „wenn die Züchtigung durch Verirrungen begründet ist, die seine Entrüstung erregen“. Nach französischem Recht kann der Mann seine Frau unter gewissen Umständen einsperren, ja selbst töten. Die Franzosen zeigen auf diese ritterliche Weise ihre zarte Liebe zu den Frauen. (Gilt nicht allein von den Franzosen – Anm.d.Übers.)

110. * Thestios, König von Pleuron in Ätolien (Landschaft im westlichen Mittelgriechenland) ertappte nach langer Abwesenheit seine Frau mit dem Sohn beim Ehebruch, tötete beide und beging anschließend Selbstmord.

111. * Sechsköpfiges Meeresungeheuer in einer Höhle gegenüber Charibdis

112. Die Lemnierinnen ermordeten einst, um ihre Zurücksetzung zu rächen, ihre Gatten und Väter, die sie vernachlässigt und sich mit thrakischen Kriegsgefangenen verbunden hatten. – Anm.d.Übers.

113. * In den drei Weiberkomödien des Aristophanes (445-385 [?]) – Thesmophorizusen, Lysistrate, Ekklesiazusen – gehen die Frauen mit Euripides ins Gericht, beenden den Krieg durch Liebesstreik und führen eine „kommunistische Staatsordnung“ ein.

114. Hipparchia, der zu Ehren die Kyniker ein Fest, die Kynogamien feierten, heiratete, trotzdem sie die Tochter einer reichen Familie war, den häßliche Krates, einen Philosophen der kynischen Schule, um der Einsperrung in den Frauengemächern zu entgehen, und dieselbe Freiheit zu genießen, derer sich die Kurtisanen erfreuten.

115. „Und wo sie [die Perser] nur hören von einem Genuß, den wollen sie haben, und so haben sie auch von den Hellenen die Knabenliebe gelernt“ (Herodot, I, 135). Plato läßt Sokrates zu der Ansicht kommen, „so lange ein Feldzug dauert, es keinem erlaubt sein soll, einem tapferen Krieger die Umarmung zu verweigern, damit, wenn einer etwa in einen Knaben oder ein Mädchen verliebt sein sollte, er desto eifriger sei, den Preis der Tapferkeit zu verdienen“ (Plato, der Staat, V, 15). * In Platons Symposion, VIII-Xi, wird die Knabenliebe noch mehr gepriesen.

116. * "egen seiner Schönheit von Zeus in den Olymp erhobener Liebhaber und Mundschenk.

117. * Volk im vor- und frühgeschichtlichen Spanien.

118. * Indianerstamm im Gran Chaco (Argentinien), der den spanischen Eroberern hartnäckigen Widerstand leistete.

119. * Nicht ausgewiesenes Zitat aus Martin Dobrizhoffer: Historia de Abiponibus equestri bellicosaque Paraquariae natione, Viennae, Jos. nob. de Kurzbek 1784.

120. * Englische Bezeichnung für Guayana, eine Großlandschaft im Nordosten Südamerikas, umfassend Teile von Brasilien, Venezuela, die Republik G., Französisch und Niederländisch G. (Suriname).

121. * Venezianischer Kaufmann, der von 1271 bis 1295 am Hofe des Kublai-Khans in Peking lebte; er beschrieb seine Erlebnisse im Buch Am Hofe des Großkhans.

122. * Nach dem biographischen Hinweis müßte es sich um Apollonius von Perga (265-170 [?]) handeln, der in Alexandrien lebte.

123. * In der deutschen Fassung endet die Studie mit den Worten: „[...] ihr Eintritt in die Welt wird bezeichnet durch Zwietracht, Verbrechen und lächerliche Possen“. In einem Brief an Engels vom 17. März 1886 (Frederick Engels/Paul and Laura Lafargue, Correspondence, Moskau 1960, I, S.344) entschuldigt Lafargue sich für die französische Version: „Madame Adam [die Herausgeberin] [...] beendete meinen Artikel mit einem idiotischen Satz, den ich gestrichen hatte, den sie aber, ohne mich zu fragen, beibehielt“. In seinem Antwortschreiben vom 20. März 1886 (ebenda, I, S.346) urteilt Engels über die Studie trotzdem sehr positiv: „Natürlich macht man Zugeständnisse an das, was in einem Journal dieser Art gesagt werden kann. Ich war sogar überrascht, daß es Dir gestattet wurde, so viele großzügige Bemerkungen einzustreuen ... sie ist eine Frau, sie hat ihren schwachen Punkt ... Wenn der Herausgeber ein Mann gewesen wäre, hättest Du es mit einer viel aggessiveren Sittlichkeit zu tun bekommen“. – Daß die Theorie von der Rückkehr zum Matriachat kein bloßer „idiotischer Satz“ war, zeigt die Tatsache, daß Lafargue diese These mehrmals wiederholte: „Von der Hörigkeit in der Ehe und dem Druck der Männermoral befreit, wird die Frau [in der kommunistischen Gesellschaft] ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten frei entfalten können; dann wird sie die großartige Rolle der Führerin wieder aufnehmen, die sie in den ersten Perioden der Menschheit gespielt hat, eine Rolle, deren Erinnerung uns in den Sagen und Legenden der ursprünglichen Religionen bewahrt ist“ (Paul Lafargue, Kommunismus und Kapitalismus – Der Kommunismus und die ökonomische Entwicklung, Berlin 1894, 19). – „Die Maschine, die die Frau in ihren familiären Funktionen ersetzt, die sie vom häuslichen Herd wegreißt, die sie von der Wiege ihrer Kinder entfernt, die sie im kapitalistischen Gefängnis eingräbt und sie foltert, indem sie sie zwingt, an der industriellen Produktion teilzunehmen, die sie in jene sozialen Funktion zurückwirft, die sie in der Epoche des primitiven Kommunismus erfüllt hat; eben diese Maschine zwingt sie, die großartige Rolle der Führerin wieder aufnehmen, die sie in den ersten Perioden der Menschheit gespielt hat, eine Rolle, deren Erinnerung uns in den Sagen und Legenden der ursprünglichen Religionen bewahrt ist“ (La propriété – Origin et évolution. Thèse communiste par Paul Lafargue/Réfutation par Yves Guyot, Paris 1895, 522 [Übersetzer: Kurt Lhotsky]). – „Da in einer kommunistischen Gesellschaft die Moral, die das Hirn der Zivilisierten verstopft, einem entsetzlichen Alptraum gleich verblichen sein wird, so mag es sein, daß dann eine andere Moral die Menschen verpflichten wird, nach dem Wort Ch[arles] Fouriers ‚flatterhaft‘ zu sein, anstatt sich dazu zu verdammen, Eigentum eines Männchens zu bleiben. Die Frauen bei den kommunistischen Wilden- und Barbarenstämmen sind umso geehrter, je größer die Zahl der Liebhaber ist, denen sie ihre Gunst schenken“ (Le Socialiste, 30. Juni 1901).

 


Zuletzt aktualisiert am 20.2.2003