Karl Korsch

 

Zehn Jahre Klassenkämpfe in Sowjetrußland

(1927)


In: Kommunistische Politik, 2. Jg., Nr.17/18 (Oktober 1927), S.1-3.
Karl Korsch, Politische Texte, (Hrsg. von Erich Gerlach u. Jürgen Seifert), Wien o.D., S.180-94.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären, traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen Zugespitzt hatten – Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte.

Mit einem Wort: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte.

K. Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich [1]

In die brausenden Triumphgesänge, die heute in Sowjetrußland und in der ganzen Welt zur Feier des 10. Jahrestages der siegreichen Oktoberrevolution, des zehnjährigen Bestandes der sozialistischen Sowjetunion erklingen, fährt störend und ärgerlich ein schriller Mißton: der gerade in diesen Tagen zur Siedehitze ansteigende Fraktionskampf zwischen der herrschenden Stalin-Koalition und der Trotzkistisch-Sinowjewistischen „linken“ Opposition innerhalb der bolschewistischen Regierungspartei.

Hie Leninsches bolschewistisches ZK gegen kleinbürgerliche, menschewistische, sozialdemokratische Abweichungen! Hie orthodoxer revolutionärer Leninismus gegen thermidorianische Entartung! Was verbirgt sich hinter diesen beiden schönklingenden Parolen? Welche dieser beiden Richtungen, die trotz ihrer vielfachen „pazifistischen“ und „kapitulatorischen“ Anwandlungen wie durch eine unsichtbare, unwiderstehliche Gewalt immer wieder in scharfen unversöhnlichen politischen Konflikt gegeneinander getrieben werden, kann es heute für sich in Anspruch nehmen, den echten Ring der bolschewistischen Leninschen Tradition in ihren Händen zu haben und vor der russischen und der gesamten internationalen Arbeiterklasse aufzutreten als wirkliche Fortsetzer jener revolutionären proletarischen Klassenpolitik, die zu dem glorreichen Oktober geführt hat?

Es ist ein äußerst vulgärer Primitivismus und das gerade Gegenteil der von Karl Marx angewendeten materialistisch-kritischen Methode, wenn manche zeitgenössische „Marxisten“ und „Revolutionäre“ auf diese Frage damit antworten, daß dieser ganze jetzige Fraktionskampf innerhalb der bolschewistischen Regierungspartei seinem Wesen nach weiter nichts sei, als ein persönlicher Machtkampf ehrgeiziger Führerklüngel. Für diese „Marxisten“ hat Karl Marx seine Klassenkämpfe in Frankreich und seinen 18. Brumaire des Louis Bonaparte umsonst geschrieben, hat umsonst gezeigt, wie die Anwendung seiner materialistischen Methode auf die laufende Zeitgeschichte gerade darin besteht, alle „politischen Konflikte“ bis einschließlich der gewöhnlichsten Streitigkeiten zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen eines Parlaments, einer Regierung, einer regierenden oder oppositionellen Partei „auf Interessenkämpfe der durch die ökonomische Entwicklung gegebenen Gesellschaftsklassen und Klassenfraktionen zurückzuführen und die einzelnen politischen Parteien nachzuweisen als den mehr oder weniger adäquaten [entsprechenden] politischen Ausdruck dieser selben Klassen und Klassenfraktionen“. [2]

Umsonst hat Marx immer wieder darauf hingewiesen, daß es für diese materialistische Betrachtung geschichtlicher Vorgänge viel weniger darauf ankommt, was die beteiligten einzelnen Menschen und erst recht ganze Cliquen und Parteien „von sich meinen und sagen“, als auf die hinter diesen Phrasen und Einbildungen, hinter all diesen „alten Erinnerungen, persönlichen Feindschaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurteilen und Illusionen, Sympathien und Antipathien, Überzeugungen, Glaubensartikeln und Prinzipien“ [3] verborgenen materiellen Interessen und die für diese Interessen eintretenden und kämpfenden gesellschaftlichen Klassen- und Klassenfraktionen. Alle diese Lehren von Marx über die wirkliche materialistische Methode existieren nicht für unsere Primitivisten. Hartnäckig wiederholen sie ihre triviale Weisheit, daß die Sinowjew und Trotzki „nicht besser als Stalin sind“, und daß darum der ganze zwischen ihnen geführte Krakeel für die von der russischen NEP~Bourgeoisie [4] und Bürokratie unterdrückten und ausgebeuteten russischen Proletarier und erst recht für das internationale Proletariat völlig gleichgültig wäre.

Es ist leicht zu sehen, daß diese scheinbar sehr radikale und revolutionäre Einstellung zu der bisherigen Entwicklung der russischen Sowjetunion im allgemeinen und zu den gegenwärtigen Fraktionskämpfen innerhalb der bolschewistischen Regierungspartei im besonderen ihrem Wesen nach eine gerade so „abstrakte“ und „idealistische“ Betrachtung der russischen Dinge ist, wie ihr scheinbarer Gegensatz, die offizielle „leninistische“ Legende über den seit dem Oktobersieg 1917 bzw. seit dem Übergang zur NEP 1921 begonnenen „Aufbau des Sozialismus in Sowjetrußland“. Beide bezeichnen als den wesentlichen Zug in der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung des „neuen Rußland“ seit 1917 nicht den Kampf, sondern den „Aufbau“. Die einen wollen nichts sehen und gelten lassen als den Aufbau eines angeblichen „Sozialismus“ in dem Lande der siegreichen proletarischen Revolution. Die anderen sehen umgekehrt in der Entwicklung der letzten zehn bzw. sieben Jahre nichts als den Triumph der bürgerlichen Konterrevolution auf dem Rücken eines durch 100-prozentigen Betrug und offene Gewalt geistig und physisch gelähmten Proletariats, also sozusagen nichts als den „Aufbau“ bzw. „Wiederaufbau“ und „Ausbau“ es Kapitalismus. Der angebliche „Marxismus“ der einen wie der anderen besteht darin, daß sie in diesem nächstliegenden, wichtigsten Stück Weltgeschichte gerade das nicht sehen, oder es doch nicht in seinen konkreten Formen sehen, was nach der Lehre von Marx und Engels den einzigen wirklichen Inhalt der gesamten Geschichte bildet: die Klassenkämpfe, und besonders den Kampf des Proletariats, dieser in der heutigen Epoche der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft einzigen „wirklich revolutionären Klasse“. Für die einen hat es in Rußland vor dem Oktober 1917 Klassenkämpfe, somit eine wirkliche Geschichte gegeben, es gibt sie aber seitdem „nicht mehr“. Für die anderen gibt es einen wirklichen Klassenkampf des Proletariats im heutigen Rußland „noch nicht wieder“; was heute und in den letzten zehn bzw. sieben Jahren des Wiederaufbaus der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft in Sowjetrußland vor sich geht, ist für sie nur erst passives Leiden, Unterdrückung und Ausbeutung, aber noch kein wiedererwachter, wenn auch vielfach noch unbewußt oder mit falschem Bewußtsein geführter Klassenkampf des russischen Proletariats.

Im Gegensatz zu diesen beiden flachen und falschen Anschauungen muß eine wirklich marxistische, das heißt kritisch-materialistische Auffassung der durch die Oktoberrevolution von 1917 ausgelösten gesellschaftlichen Entwicklung, und insbesondere auch der gegenwärtigen wie aller früheren Fraktionskämpfe in der KPSU ausgehen von der Anschauung der „zehn Jahre Sowjetrußland“ als einer Periode neuer und neuartiger Klassenkämpfe.

Die siegreiche Oktoberrevolution 1917, im Zusammenhang mit der gesamten, durch den einstweiligen Abschluß des ersten imperialistischen Weltkrieges 1914-1918 geschaffenen internationalen Situation, stellte die Arbeiterklasse in dem neugeschaffenen sowjetrussischen Gemeinwesen und zugleich das gesamte internationale Proletariat vor eine ungeheure Menge ungeheuer schwieriger, im höchsten Grade neuartiger, bis dahin gänzlich unerhörter Klassenaufgaben. Sie eröffnete damit zugleich eine jetzt bereits zehn Jahre andauernde Periode ebenso neuartiger, ebenso unerhörter Klassenkämpfe, teils zwischen dem in Rußland für einen weltgeschichtlichen Augenblick triumphierenden Proletariat und der zum offenen feindlichen Gegenstoß antretenden reaktionären Bourgeoisie der ganzen Welt, teils zwischen den verschiedenen, über die Ziele und Wege des Proletariats in dieser neuen Kampfperiode bis zur absoluten Gegensätzlichkeit uneinigen Richtungen und Strömungen innerhalb der (russischen und internationalen) Arbeiterklasse selbst, – angefangen von denen, die in ihren Zielsetzungen. und Kampfmethoden über den Rahmen einer bürgerlich bäuerlichen Revolution in Rußland in dieser Periode überhaupt nicht hinausgehen wollten, endigend bei denen, die die in Rußland begonnene revolutionäre Aktion des internationalen Proletariats in einem Zuge und in einer ununterbrochen fortschreitenden Ausbreitung und Vertiefung als „Revolution in Permanenz“ weiterführen wollten bis zur absoluten Vollendung der proletarischen Weltrevolution, dazwischen eine Masse verschiedenartig kombinierter, und im Laufe der Zeit ihre Positionen mannigfach verändernde, vermittelnde Richtungen.

Die besondere Eigenart dieser durch die Oktoberrevolution eingeleiteten Periode neuer Klassenkämpfe besteht darin, daß hier zum ersten Male in der Geschichte ein einigermaßen dauerhafter und fester Sieg des Proletariats, wenn auch zunächst nur in einem Lande, errungen war. Hiermit war zwar – wie dies auch Lenin selbst sogar in der Zeit, wo er in seiner Praxis schon einen anderen Weg eingeschlagen hatte, wenigstens in der Theorie immer festgehalten hat – an dem vom Marxismus bestimmten grundsätzlichen Verhältnis von „Reform und Revolution“ prinzipiell nichts geändert (vgl. hierzu besonders die vorsichtigen Formulierungen Lenins in seiner Gedächtnisrede zum 4. Jahrestag der Sowjetunion: Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem vollen Sieg des Sozialismus, Prawda vom 22.11.1922 [5]). Es blieb also auch, zumal unter der auf ein Land, noch dazu auf das ökonomisch rückständige Rußland beschränkten Diktatur, die zwar das Produkt einer wirklichen proletarischen sozialistischen Revolution, aber ganz gewiß nicht das Produkt einer „reinen“ proletarischen Revolution gewesen ist, die Notwendigkeit der Weiterführung des Klassenkampfes, das heißt also auch des revolutionären Klassenkampfes nicht nur im internationalen Maßstab, sondern auch für das russische Proletariat unverändert bestehen. Aber dieser revolutionäre proletarische Klassenkampf mußte in dem Staat der proletarischen Diktatur (keine noch so widerwärtigen klassenverräterischen Schändungen des Gedankens der proletarischen Diktatur durch die heutigen leninistischen Staatsmänner dürfen uns, die Anhänger der Marxschen Lehre von der revolutionären proletarischen Klassendiktatur, von der unumwundenen Anerkennung dieser Notwendigkeit abschrecken!) unvermeidlich eine starke Veränderung seiner Formen erfahren. Staatliche Repression gegen die bisher herrschende einheimische Bourgeoisie, äußere Abwehrkriege gegen die feindliche kapitalistische Umwelt sind in Sowjetrußland und werden in jedem künftigen Staat der proletarischen Machteroberung als neue Formendes Klassenkampfes zu den bisherigen mehr unmittelbaren Formen der Klassenkampfführung hinzutreten und sie teilweise ersetzen. (So verstanden, wird auch die vorübergehende Notwendigkeit der „sozialistischen Vaterlandsverteidigung“ wie die unter Umständen gegebene revolutionäre Zweckmäßigkeit der „roten Intervention“ nach außen, des „roten Terrors“ nach innen von keinem revolutionären Marxisten grundsätzlich bestritten; ihre besondere Betonung und Hervorkehrung durch die russischen Bolschewiki und ihre allzu bolschewisierten Nachredner in den außerrussischen Sektionen der Komintern gehört aber schon zu jenen „schlechten Diensten“, die nach einem guten Ausspruch Rosa Luxemburgs diejenigen dem internationalen Sozialismus erweisen, die „in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die durch Not und Zwang in Rußland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankrotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkrieg waren“. [6]) Aber selbstverständlich – zum mindesten für jeden Marxisten selbstverständlich – bleibt trotz all dieser neuen organisatorischen Formen des Klassenkampfes unter den Bedingungen der proletarischen Diktatur in einem Lande, in dem die Klassen und Klassengegensätze in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der realen Basis des gesamten neuen Staatswesens fortbestehen, auch die Fortführung des unmittelbaren Klassenkampfes der Arbeiter in der alten „revolutionären“ Form eine absolute und durch keinerlei Dekrete oder neue „Theorien“ wegzuphantasierende, gegenüber allen Repressionen aus der materiellen Entwicklung heraus mit elementarer Gewalt immer wieder durchbrechende Notwendigkeit.

So entsteht gerade durch die revolutionäre Eroberung der Macht, durch die Errichtung der proletarischen Diktatur in dem neuen russischen Sowjetstaat jener ungeheure neue Widerspruch, in den sich das russische, das gesamte internationale Proletariat nach dem roten Oktober 1917 verstrickt fand und um dessen marxistische, klassenmäßige, proletarisch-revolutionäre Lösung das russische Proletariat und mit ihm zugleich auch – nur leider nach dem frühen Tode der einzigen Rosa Luxemburg nur in allzu geringem Grade und mit allzu geringen Kräften – die Vorhut des internationalen Proletariats seitdem theoretisch und praktisch gerungen hat. Aus diesem Widerspruch entspringen all jene mannigfaltigen politischen Konflikte und Richtungskämpfe, die in dem neuen, durch die Oktoberrevolution geschaffenen Sowjetstaat und besonders innerhalb der diesen Staat regierenden bolschewistischen Partei schon vom ersten Augenblick, sozusagen von der Geburtsstunde des Sowjetstaates an, ausgebrochen sind und in der ganzen seitdem verstrichenen zehnjährigen Periode mit zeitweilig wechselnder, in den letzten Jahren wieder schnell zunehmender Heftigkeit bis zum heutigen Tage ununterbrochen fortgedauert haben. Auf der einen Seite stehen in diesen unaufhörlichen Kämpfen diejenigen, die entweder (wie es für eine bestimmte Periode, um das Jahr 1920, mit ganz besonderer Schärfe gerade der heutige Oppositionsführer Trotzki getan hat) jede weitere Fortsetzung des unmittelbaren Klassenkampfes für überflüssig und schädlich halten, oder aber (entsprechend der Praxis Lenins) diesen Kampf wenigstens auf solche Formen einschränken wollen, die grundsätzlich auf dem Boden dieses revolutionär errungenen Sowjetstaates und im ltahmen der durch seine Existenz gegebenen „Staatsnotwendigkeiten“ stehen bleiben. (Vgl. hierzu z.B. Lenins „vermittelnde“ Stellungnahme in der Gewerkschaftsdiskussion Ende 1920/Anfang 1921 [7], wo er im Gegensatz zu der damaligen Stellung Trotzkis zwar die gewerkschaftlichen Kämpfe der Arbeiter um Lohn und sonstige Arbeitsbedingungen auch in dem revolutionären „Arbeiterstaat“ als zulässig und notwendig anerkennt, dagegen alle darüber hinausgehenden Forderungen der damaligen „Arbeiteropposition“ der Schljapnikow und Genossen für eine „syndikalistische und anarchistische Abweichung“ erklärt, die unvereinbar sei mit der Zugehörigkeit zur regierenden kommunistischen Partei und deren Propaganda unzulässig sei in dem Staat der proletarischen Diktatur!)

Diesen Vertretern der – angeblichen oder wirklichen – „revolutionären Staatsnotwendigkeiten“ in dem neuen, sich immer mehr befestigenden und „entwickelnden“ und ganz und gar nicht „absterbenden“ Diktaturstaat treten von der anderen Seite entgegen die im Laufe dieser zehn Jahre trotz aller Unterdrückungsversuche immer von neuem wiederholten Vorstöße derer, die auch diesem neuen Sowjetstaat und seinen angeblichen oder wirklichen „Notwendigkeiten“ gegenüber in der einen oder anderen Form, mit mehr oder weniger klarem Bewußtsein, anfangs oft ganz unbewußt oder mit falschem Bewußtsein und bis zum heutigen Tage immer noch im höchsten Grade inkonscquent die unmittelbaren, aus der materiellen Entwicklung neu und ursprünglich entstehenden Bedürfnisse und Interessen der proletarischen Klasse vertreten. Staatsnotwendigkeiten gegen proletarische Klassennotwendigkeiten – so lautet auch in dieser neuen Revolution des 20. Jahrhunderts, wo die proletarische Klassenbewegung nicht mehr bloß eine Unterströmung gebildet hat, wie in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, sondern angewachsen ist zu dem alles andere beherrschenden und mitreißenden großen Strom, der objektive Widerspruch, vor den sich infolge des anfänglichen Sieges und des darauf folgenden Stehenbleibens und Zurückflutens der revolutionären Entwicklung die einzige wirklich konsequent und rücksichtslos revolutionäre Klasse, das russische und mit ihm das gesamte internationale Proletariat am Ende wiederum gestellt sieht. Und gerade der große geschichtliche Fortschritt, daß diese Revolution von der proletarischen Klasse nicht mehr bloß praktisch erkämpft, sondern auch unter ihren eigenen Losungen durchgeführt worden ist, macht nun die wirkliche, klassenmäßige, revolutionäre Lösung dieses entstandenen Widerspruches für dieses Proletariat nur um so schwieriger und qualvoller.

In allen früheren Revolutionen geschah diese „revolutionäre Lösung“ in der Weise, daß im weiteren Verlauf der Entwicklung die zunächst gegenüber der alten Staatsgewalt verbunden gewesenenen Klassen zwangsläufig gegeneinander gestoßen wurden zu einer zweiten Schlacht, in welcher regelmäßig die proletarische Klasse erlag, durch welche aber dennoch und gerade durch diese Niederlagen des Proletariats einerseits die aus der ersten revolutionären Kampfperiode heraus entstandene Republik von den mit ihr zunächst verbundenen sozialen Illusionen und sozialistischen Zugeständnissen geschieden und die bürgerliche Republik offiziell als die herrschende herausgearbeitet wurde, andererseits zugleich die proletarische Klasse selbst von ihren hergebrachten Illusionen über den Charakter dieser Republik zwangsläufig befreit und ihrem künftigen wirklichen Klassengegner, der Bourgeoisie, Auge in Auge gegenüber gestellt wurde.

Alle Versuche, dieses gleiche Schema auf die Entwicklung des Klassenkampfes in dem Sowjetrußland der letzten zehn Jahre anzuwenden, sind zum Scheitern verurteilt. Gewiß trägt auch in diesen zehn Jahren, die seit dem roten Oktober 1917 vergangen sind, jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutionsannalen die Überschrift „Niederlage des Proletariats“. Wie der revolutionäre proletarische Staat seine erste Niederlage nach außen gleich im ersten Stadium seiner Existenz erlitt in dem ihm aufgezwungenen Frieden von Brest-Litowsk, so erlitt gleichzeitig damit auch das russische Proletariat schon damals, sozusagen schon in der Geburtsstunde der proletarischen Diktatur, seine erste Niederlage als Klasse gegenüber einem in seinem Wesen damals noch unbestimmten Feind. Diese erste Klassenniederlage des russischen Proletariats kam politisch zum Ausdruck in den fehlgeschlagenen Versuchen derer, die der in dem neuen Sowjetstaat von Anfang an überhandnehmenden zentralistischen Parteidiktatur unter dem Losungswort des „demokratischen Zentralismus“ eine wirkliche Klassendiktatur, eine tatsächliche Rätediktatur entgegenzustellen strebten (Die hauptsächlichsten Führer der damaligen Gruppe des „demokratischen Zentralismus“, die Genossen Smirnow, Sapronow [8] und andere, bilden auch heute wieder den „linkesten“ und die Klassenforderungen des russischen Proletariats am schärfsten und kühnsten zum Ausdruck bringenden Flügel innerhalb der gegen das Stalinsche Partei- und Staatsregime rebellierenden linken oppositionellen Gruppierungen.) Auf diese erste Klassenniederlage des russischen Proletariats folgte dann in der weiteren Entwicklung eine fast ununterbrochene Kette weiterer Niederlagen: die erste im Jahre 1920/21 (Niederlage der sogenannten „Arbeiteropposition“ Schljapnikows [9], Kronstädter Aufstand) – die zweite 1923/24 (erfolgreiche „leninistische“ Verschworung der Stalin, Sinowjew und ihrer außerrussischen Trabanten Maslow und Ruth Fischer in Deutschland, Suzanne Giraud in Frankreich usw. gegen den sogenannten „Trotzkismus“, d.h. gegen den Versuch, den damals Trotzki, gemeinsam mit der alten Oppositionsgruppe des „demokratischen Zentralismus“ und verschiedenen anderen Oppositionsgruppen, unterstützt auch von der „Arbeitergruppe“ Mjasnikows, unternahm [10], um in dem Rußland der NEP die Klassenfragen wieder aufzurollen; Niederlage und Kapitulation Trotzkis, Preisgabe Mjasnikows durch Trotzki) – die dritte jetzt im Jahre 1926/27 [11] (wiederholte Kapitulation der Führer des „linken“ Oppositionsblocks, Zurückschrecken Trotzkis und Sinowjews vor einer rücksichtslosen Aufrollung der einzigen wirklichen und entscheidenden Frage, der Klassenfrage des russischen und internationalen Proletariats, Einschränkung der „Opposition“ in den Rahmen der sowjetrussischen „Staatsnotwendigkeiten“, tatsächliche Preisgabe der „Linkesten“, die die Klassenfrage in voller irdischer Lebensgröße auf die Tagesordnung setzen wollen.)

Aber keine dieser inneren „Niederlagen“ des russischen Proletariats in der weiteren Entwicklung des durch den siegreichen Oktober geschaffenen sowjetrussischen Gemeinwesens bedeutet jenen scharfen Einschnitt, den einst in der von Marx geschilderten Revolution von 1848 die Niederlage des Pariser Proletariats in der Klassenschlacht des 22. Juni bedeutet hat. Das russische Proletariat, einerseits durch die von ihm selbst und unter seinen eigenen Parolen vollbrachte Revolution ganz anders, als es bei jenen früheren proletarischen Unterströmungen bürgerlicher Revolutionen jemals der Fall sein konnte, an das Produkt dieser seiner Revolution, seinen revolutionären Diktaturstaat gebunden, andererseits im Weltmaßstab seit 1921 allein geblieben und an Zahl und spezifischem Gewicht in dem neuen ökonomischen und politischen sowjetrussischen Gemeinwesen den anderen Klassen gegenüber in Wirklichkeit viel zu schwach, ist niemals in die Lage gekommen, für seine Forderungen in einer offenen Schlacht aufzutreten, um so zugleich den neuen revolutionären Staat, die „Sozialistische Sowjet-Republik“ zu zwingen, in seiner wahren Gestalt hervorzutreten als eine bloße neue Form des bürgerlichen Staats, dessen eingestandener Zweck es ist, die Herrschaft des Kapitals, die Sklaverei der Arbeit zu verewigen, und zugleich sich selbst als revolutionäre Klasse auch gegenüber diesem neuen Staat zu konstituieren.

Hier löst sich auch das für viele „links“ gestimmte Arbeiter in West-Europa wie in Rußland zunächst unauflösbar erscheinende Rätsel, wieso es denn gekommen ist, daß aus der glorreichen proletarischen Revolution des roten Oktober 1917 am Ende etwas so ganz anderes hervorgegangen ist. Für das einfache, abstrakte und undialektische Denken scheint es ein unlösbarer Widerspruch, wenn wir im gleichen Atemzuge die proletarische Revolution des roten Oktober preisen, und ihr geschichtliches Resultat, den heutigen Sowjetstaat, bezeichnen als einen neuen kapitalistischen Klassenstaat, der sich – vom Standpunkt des Proletariats aus betrachtet – schon heute, zehn Jahre nach dem roten Oktober 1917, von den alten kapitalistischen Staaten nur noch der Form nach, aber nicht mehr dem Inhalt nach unterscheidet. Und zur „Lösung“ dieses Widerspruchs suchen die meisten nach einer Art von „Sündenfall“ (und die einen finden ihn schon in dem Brester Frieden von 1917, die anderen in dem Übergang zur NEP 1921, die dritten in der Entartung der russischen Partei „seit Lenins Tode“ 1924, die vierten erst in dem Übergang von der NEP zur Neo-NEP seit 1925 usw.), um so gewissermaßen von einem bestimmten Datum ab den „Untergang der proletarischen Diktatur“ und die „Umwandlung des revolutionären Arbeiterstaates in einen bürgerlichen Klassenstaat“, als vollzogene Tatsache registrieren zu können. Mit vollem Recht könnten hierauf die Stalinisten erwidern, daß ein solcher „Sündenfall“, ein solcher absolut entscheidender Bruch mit der bisherigen Ökonomie und Politik der ganzen Geschichte des Sowjetstaates und seiner regierenden Partei überhaupt nicht zu finden ist. Und wenn in dieser zehnjährigen Periode doch ein bestimmter Zeitpunkt mehr als alle anderen als der Wendepunkt von der fortschreitenden und ansteigenden zur zurückflutenden und abebbenden Entwicklung der russischen Oktoberrevolution erscheint, nämlich der Wendepunkt des Jahres 1921, so handelt es sich gerade bei dieser Veränderung in der Tat viel weniger um einen speziell in Rußland, in der inneren Entwicklung der russischen Oktoberrevolution und des neuen russischen Sowjetstaates eingetretenen Kurswechsel, als um eine damals im Zusammenhang mit der großen Weltwirtschaftskrise und ihrer beginnenden Überwindung im Weltmaßstabe eintretende Veränderung der gesamten ökonomischen und damit auch der gesamten politischen Situation. Gerade hier zeigt sich besonders deutlich das wirkliche Wesen der Entwicklung des neuen sowjetrussischen Gemeinwesens in der Periode nach dem Oktober 1917 als ein fortgesetzter Klassenkampf nicht nur im russischen, sondern zugleich und vor allem auch im internationalen Maßstab.

In Wirklichkeit beginnt also die bürgerliche Konterrevolution in dem neuen Rußland zugleich mit der proletarischen Revolution. Die ganze geschichtliche Periode, die auf den siegreichen Oktober 1917 folgt, ist – im russischen wie im internationalen Maßstab – erfüllt von diesen ununterbrochen fortgesetzten Kämpfen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Klassenfraktionen, die sich auf Grund der Vorkriegs- und Kriegsentwicklung in Rußland wie im internationalen Maßstab herausgebildet haben und so den vorgefundenen Ausgangspunkt bildeten sowohl für die russische Oktoberrevolution 1917 als auch für die allgemeine weltrevolutionäre Bewegung in der unmittelbaren Nachkriegsperiode 1918-1920. Wenn aber aus diesen Kämpfen zunächst weder in Rußland, noch im internationalen Maßstab das Proletariat als der Sieger hervorgegangen ist, so ist dies nicht mehr allein zurückzuführen auf die bei Ausbruch dieser revolutionären Kämpfe in der Periode 1917-1920 bereits vorhandenen und von der revolutionären Bewegung vorgefundenen Kräfteverhältnisse der Klassen. Entscheidend war vielmehr die inzwischen, besonders seit dem Jahre 1921 eingetretene Veränderung der ökonomischen Lage selbst und die dadurch bedingte Veränderung in dem Kräfteverhältnis, mit dem jene verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen in die revolutionäre Bewegung ursprünglich hineingegangen waren, also letzten Endes eine weitgehende Umwälzung in den grundlegenden Bedingungen, unter denen in der nun beginnenden neuen Periode das gesamte internationale, und somit auch das russische Proletariat, seine Kämpfe zu führen hat.

Auch für die in zehnjähriger Entwicklung allmählich und unmerklich herbeigeführte, heute am 10. Jahrestag der „sozialistischen“ Sowjetunion der Sache nach bereits vollendete, neue Niederlage der im Oktober 1917 siegreichen russischen Arbeiterklasse, zugleich mit den neuen schweren Niederlagen, die in der gleichen Periode das gesamte internationale Proletariat im Weltmaßstab erlitten hat, gelten aber jene von uns diesem ganzen Artikel als Motto vorangestellten, weit in die Zukunft vor- ausgreifenden Sätze, durch die Karl Marx schon nach der ersten großen Niederlage des Proletariats in der französischen und gesamteuropäischen Revolution von 1848 dem revolutionären Proletariat den Weg gezeigt hat, wie es gerade aus diesen seinen unvermeidlichen Niederlagen neue Kräfte für seinen künftigen Kampf gewinnen und so die zeitweilige Niederlage in den endlichen Sieg umwandeln kann. Freilich sind auch heute – gerade wie vor 80 Jahren – diese dem Proletariat durch Marx gewiesenen Möglichkeiten der Ausnutzung der Niederlage zur Heranreifung einer wirklich revolutionären proletarischen Klassenpartei objektiv unerfüllte Möglichkeiten geblieben; sie sind eben darum für uns subjektiv als dringliche, von uns praktisch zu erfüllende revolutionäre Aufgabe bestehen geblieben. Für die gemeinschaftliche Lösung dieser gemeinsamen marxistischen Aufgabe rufen wir den russischen klassenbewußten Proletariern und der gesamten klassenbewußten Vorhut des Proletariats der ganzen Welt heute, am 10. Jahrestag des roten Oktober 1917, von neuem die alte, mächtige marxistische Losung zu:

„Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

 

Anmerkungen

1. Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW, Bd.7, S.11

2. Friedrich Engels, Einleitung zu Marx’ Klassenkämpfen in Frankreich (1895), MEW, Bd.22, S.510.

3. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd.8, S.139.

4. NEP = Neue Ökonomische Politik 1921-1927.

5. W.I. Lenin, Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem vollen Sieg des Sozialismus (5. November 1921, Prawda, 6./7. November 1921, Werke, Bd.33, S.90-98.

6. Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, Hrsgg. und eingeleitet von Paul Levi, Berlin 1922, S.118; Neudruck: R. Luxemburg, Politische Schriften, Bd. III, Frankfurt/Wien 1968, S.140.

7. Vgl. W.I. Lenin, Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis (30.12.1920), Werke, Bd.32, S.1-26; Die Krise der Partei (20.1.1921), Werke, Bd.32, S.27-38; II. Gesamtrussischer Verbandstag der Bergarbeiter (23.1.1921), Werke, Bd.32, S.39-55; Noch einmal über die Gewerkschaften (25.1.1921), Werke, Bd.32, S.99; Ursprünglicher Entwurf der Resolution des X. Parteitages der KPR über die syndikalistische Abweichung in unserer Partei, ,Bd.32, S.251.

8. T.W. Sapronow (1887-1939). Seit 1910 Bolschewik, leitete die Oppositionsgruppe „Demokratische Zentralisten“ (1919-1910), Unterzeichner der oppositionellen Erklärung der 46 (1923), führendes Mitglied der Linken Opposition, 1927 Ausschluß aus der Partei, 1928 verbannt. – Wladimir Smirnow seit 1904 Bolschewik, trat auf dem VIII. Parteitag 1919 als Sprecher der „Militäropposition“ auf, war 1919-1920 Mitglied der Gruppe „Demokratische Zentralisten“, Unterzeichner der Erklärung der 46 (1923), wurde 1927 mit der linken Opposition aus der Partei ausgeschlossen. – Die Gruppe „Demokratische Zentralisten„ wurde 1919 auf dem linken Flügel der Partei gebildet. Sie opponierte gegen bürokratische Exzesse der Parteiführung.

Zu dieser Gruppe gehörten außer T.W. Sapronow und W. Smirnow u.a. N. Osinskij, V.N. Maksimovskij, A.S. Bubnow, M.A. Rafail, M.S. Boguslavskij und K.K. Jurenev, im wesentlichen Angehörige der Parteiintelligenz, wobei die fünf Erstgenannten bereits unter den „linken Kommunisten“ des Jahres 1918 gewesen waren. Die Gruppe trat für einen extremen Dezentralismus ein, sie wurde auf dem 11. Parteitag der RKP 1920 verurteilt. Osinskij, T.W. Sapronow, W.I. Smirnow, V.N. Maksimovskij, A. Bubnow u.a. zählten 1923 zu den Mitunterzeichnern der Erklärung der Sechsundvierzig. 1927 trat die Gruppe um Sapronow und W.M. Smirnov als „linke Opposition auf; ihre Plattform lag Korsch damals vor: Vor dem Thermidor. Revolution und Konterrevolution in Sowjetrußland. Die Plattform der linken Opposition in der bolschewistischen Partei (Sapronow, Smirnow, Oborin, Kahn usw.) Hrsgg. von den aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkämpfern, Hamburg 1927.

9. A.G. Schljapnikow (1885-1937). 1920 Führer der Arbeiteroppositiön mit A. Kollontai und Medwedew. Vertrat in der „Gewerkschaftsdiskussion“ die These von der autonomen Leitung der Industrie durch die Gewerkschaften, kritisierte 1921 die NEP als „arbeiterfeindlich“. Kapitulierte 1926. 1933 wurde S. aus der Partei ausgeschlossen und 1937 Opfer stalinistischer „Säuberungen“.

10. Gemeint ist die Erklärung der Sechsundvierzig. An das Politbüro des Zentralkomitees der RKP (15.10.1923), in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur?, Olten/Freiburg 1967, S.173-280. Zur Frage der Zusammenarbeit Trotzkis mit dieser Gruppe und ihrer gemeinsamen Niederlage vgl. die Darstellung von Isaak Deutscher, Trotzki, Bd.2, Der unbewaffnete Prophet 1921-1929, Stuttgart 1962, S.117ff. – G.I. Mjasnikow, der Arbeiteropposition nahestehend, befolgte das prinzip der Toleranz gegenüber Nichtkommunisten. 1922 als prominentes Mitglied aus der Partei ausgeschlossen. Führer der „Arbeitergruppe“.

11. Trotzki und Sinowjew unterbreiteten am 4. Oktober 1926 dem Politbüro den Vorschlag eines Waffenstillstandes. Stalin zog die Ausschlußdrohung zurück, diktierte allerdings die Bedingungen.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003