Karl Korsch

 

Um die Arbeiterregierung

Diskussionsrede auf dem Leipziger Parteitage

(Februar 1923)


In: Neue Zeitung, 5. Jg. Nr.35 (10.2.1923).
Wieder in: Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitages der KPD (Leipzig vom 28.1. bis 1.2.1923), Berlin 1923. S.359-361 (nicht völlig identisch). S.507-509.
Karl Korsch, Politische Texte (Hrsg. von Erich Gerlach u. Jürgen Seifert), Wien o.D., S.45-50.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Einer der Hauptgegensätze, um die hier gestritten wird, besteht darin, daß gewisse Dinge, z.B. die Bewaffnung des Proletariats, von der einen Seite als Aufgaben der Arbeiterregierung, von der anderen Seite als Voraussetzungen für die Teilnahme an der Arbeiterregierung betrachtet werden. An dieser Frage zeigt sich besonders deutlich, daß ein großer Teil der Gegensätze zwischen beiden Richtungen darauf zurückzuführen ist, daß die Bedingungen der proletarischen Aktion von der einen Seite lebendig und dialektisch, von der anderen Seite starr und undialektisch aufgefaßt werden. Genosse Maslow [1] verglich die von uns der Arbeiterregierung gesetzte Aufgabe, sich durch die Bewaffnung des Proletariats ihre eigene feste Grundlage selbst zu schaffen, mit einer „Jungfernzeugung“. Was aber der Genosse Maslow hier „Jungfernzeugung“ nennt, ist tatsächlich nichts anderes, als was ein Marx und Engels einst als dialektische Entwicklung bezeichnet haben. Ich möchte nun, soweit es die kurze Redezeit mir erlaubt, im einzelnen zeigen, wie von Anfang an bis zu Ende die ganze Auffassung der Frage der Arbeiterregierung auf der Seite der sogenannten Linken durchaus undialektisch ist. Und ich möchte zugleich dieser unfruchtbaren und passiven undialektischen Auffassung die wirklich dialektische gegenüberstellen, die allein uns zur weltverändernden Tat führen kann. Ich beginne mit einem Punkt, über den wir alle einig sind. Wir sind darüber einig, daß die erste und praktisch wahrscheinlich sogar die größte Bedeutung der Parole der Arbeiterregierung eine propagandistische ist. Die Resolution des 4. Weltkongresses beginnt mit dem Satze: „Als allgemeine propagandistische Formel ist die Arbeiterregierung fast überall zu gebrauchen.“ [2] Dies ist also der Ausgangspunkt, von dem aus alles übrige zu entwickeln ist. Blicken wir heute zurück auf jene andere Parole, die geschichtlich als Vorläufer der Arbeiterregierung betrachtet werden muß, das ist die in Jena aufgestellte Parole der Erfassung der Sachwerte [3], und fragen wir uns, worin hat in der Praxis der letzten anderthalb Jahre die Bedeutung dieser Parole tatsächlich bestanden, so sehen wir, daß diese Bedeutung sogar ganz ausschließlich eine propagandistische gewesen ist. Darüber also müssen wir einig sein, auch der Wert der Parole der Arbeiterregierung ist zunächst und vor allem ein propagandistischer. Dabei kann man aber die t„Propaganda“ in zweifacher Weise auffassen: undialektisch wie die Genossen Maslow und Ruth Fischer oder dialektisch wie die Genossen Brandler und Kleine. [4] Auch die sogenannte Linke will Propaganda machen. Aber sie faßt diese Propaganda-Aufgabe abstrakt, und darum fordert sie zwar die Arbeiterregierung, fügt aber im gleichen Atemzug eine Erklärung dieser Forderung hinzu, die es auch dem harmlosesten Gemüt auf den ersten Blick zeigt, daß hier das Wort „Arbeiterregierung“ wirklich nichts anderes bedeutet als ein Pseudonym für die Diktatur des Proletariats. Denn die Bewaffnung der Arbeiter als Voraussetzung der Arbeiterregierung bedeutet doch, die angebliche Arbeiterregierung ist schon die Diktatur. Ebenso undialektisch versteht die sogenannte Linke auch die Parole der Einheitsfront. Denn sie versteht darunter, wie Rüth Fischer in ihrem Artikel [5] gesagt hat, und wie vorhin auch der Genosse Maslow hier in seinem Korreferat gesagt hat, in Wirklichkeit „die Führung des Kampfes allein mit der Kommunistischen Partei“. [6] Der Weltkongreß aber spricht durchaus nicht davon, daß der Kampf allein mit der Kommunistischen Partei geführt werden soll, sondern spricht ausdrücklich von der „Koalition der Arbeiterparteien.“. [7] Auch wir wollen die Einheitsfront und Arbeiterregierung als Propaganda benutzen. Aber wir wissen dabei, daß für eine kommunistische Partei das wirkliche Ziel ihrer Propagandatätigkeit in nichts anderem besteht als in der Organisation des wirklichen revolutionären Kampfes der proletarischen Klasse. Wollen wir diesen Zweck erreichen, so kann uns hierfür im gegenwärtigen Augenblick die chemisch reine Formel der „Diktatur des Proletariats“ nichts nützen, weil sie diesen wirklichen Zweck nicht erfüllen, den wirklichen Kampf der Arbeiterklasse im gegenwärtigen Augenblick nicht organisieren kann. Und das ist doch der einzige Zweck; dem unsere ganze Auseinandersetzung und all unser Denken und all unser Reden einzig und allen dient: wir wollen damit zum Handeln kommen, zu jener wirklichen Bewegung, von der Karl Marx gesagt hat, daß ein Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme. [8] Die andere Seite aber bleibt mit ihren chemisch reinen Formeln von Diktatur des Proletariats usw. immer in dem Reich des bloßen Meinens, von dem schon der Philosoph Hegel gesagt hat, es sei „ein weiches Element, dem sich leicht etwas einbilden läßt“. Uns kommt es aber nicht darauf an, uns etwas einzubilden, sondem die Wirklichkeit zu verändern. Und dazu müssen wir eben lernen, uns dialektisch einzustellen.

Wie undialektisch der Genosse Maslow alle diese Dinge ansieht, zeigt sich weiterhin in dem Satz, den er in seinen Artikein und heute in seinem Korreferat [9] so sehr unterstrichen hat, daß die SPD als Partei nicht kämpfen könne, und daß, wenn sie es könnte, wir Kommunisten als Partei überflüssig wären und uns liquidieren müßten. Und ebenso undialektisch hat er ferner auch den Satz aufgestellt, daß die Kommunistische Partei keine Partei neben anderen Parteien sei. Diese beiden Sätze sind nicht in jedem Sinne falsch. Falsch sind sie, wenn man sie so versteht wie der Genosse Maslow, also undialektisch. Sie sind aber richtig, wenn man sie dialektisch versteht. Zunächst einmal kann man gar nicht leugnen, daß heute rein tatsächlich die Kommunistische Partei doch nur eine proletarische Partei neben anderen ist. Und auch die SPD ist heute zweifellos noch eine proletarische Partei. Sie ist sogar mehr: sie ist eine proletarische Massenorganisation, ganz ebenso gut wie die Betriebsräteorganisation des ADGB und wie die Gewerkschaften selbst. Um zu zeigen, in welchem Sinne der Satz Maslows, daß die SPD als Partei nicht kämpfen könne, zugleich richtig und falsch ist, will ich einen Vergleich gebrauchen, um populär zu sein. Denken Sie sich eine Kanone, eine große, mit viel Explosivstoff gefüllte Kanone, die aber nicht auf den Feind, sondern auf ein falsches Ziel gerichtet ist. Sie ist auf das falsche Ziel nicht bloß gerichtet, sondern fest eingemauert, so daß man sie nicht leicht herumdrehen kann. Da gehört denn durchaus nicht die Intelligenz eines Intellektuellen dazu, um zu beweisen, daß eine solche Kanone auf den Feind nicht schießen kann.

Trotzdem aber besteht unsere Aufgabe, wenn wir in die Festung eindringen, diese vorhandenen, aber falsch gerichteten Explosivkräfte richtig zu organisieren, und so können wir auch den revolutionären Explosivstoff in den proletarischen Massen, die heute in der SPD auf ein falsches Ziel gerichtet sind, für den Kampf der proletarischen Klasse organisieren. Der „Kampf des Proletariats“ bedeutet auch zweierlei. In einem Sinn ist er immer da gewesen. Marx sagt im Kommunistischen Manifest: „Der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz.“ [10] meinem anderen Sinn ist aber dieser Kampf doch auch heute noch nicht ganz wirklich da, weil er noch nicht vollständig organisiert, ein seiner wirklichen Ziele noch nicht klar bewußter Kampf ist. Da ist es denn reine Ideologie, diese Klarheit über das Endziel scfton in den ersten Anfängen des Kampfes allen Mitkämpfern aufdrängen zu wollen. Vielmehr müssen wir uns bewußt sein, daß eine ganz klare, eine ganz bewußte Erfassung dieses Zieles bei den Massen sogar erst dann vorhanden sein wird, wenn die entscheidende Schlacht schon geschlagen und die Macht schon erobert ist.

Meine Redezeit ist abgelaufen, und ich kann diesen Gedanken- gang nicht mehr zu Ende durchführen, sonst könnte ich noch an allen übrigen Ausführungen des Genossen Maslow und der Genossin Ruth Fischer und auch an den Resolutionen, die von ihnen dem Parteitag vorgelegt sind, im einzelnen zeigen, wie überall dieselbe undialektische Denkweise hervortritt. Mit einer solchen Denkweise würde unsere Partei immer eine bloße Sekte bleiben, die von einer reinen Formulierung ihrer Ziele zu immer reineren Formulierungen fortschreitet, dabei aber immer beim bloßen Denken und Reden bleibt und niemals das wird, was die Kommunistische Partei werden muß: eine aktionsfähige proletarische Massenpartei.

 

 

Anmerkungen

1. Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitages der KPD (Leipzig vom 28.1.-1.2.1923), Berlin 1923, S.344. – Arkadi Maslow wurde 1920 als Vertreter der russischen Sektion in den Parteiausschuß gewählt, ab 1921 gemeinsam mit Ruth Fischer in der Leitung der Berliner Parteiorganisatton tätig. Gehörte zur linken Opposition und war Theoretiker dieses Flügels.

2. Über die Taktik der Komintern, Ziff.11, Die Arbeiterregierung in: Protokoll des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Petrograd-Moskau 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, Bd.II (Reprint, Erlangen 1972), S.1015

3. Resolution zu den Steuer- und Wirtschaftskämpfen, in: Bericht über die Verhandlungen des II. (7.) Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten in Jena vom 22. bis 26. August 1921, Berlin 1922, S.415-424: Erfassung und Beschlagnahme der Goldwerte für den Staat; Beschlagnahme der Gold-Werte in Verbindung mit Arbeitskontrolle.

4. Heinrich Brandler und August Kleine (= Samuel Guralski) wurden auf dem Parteitag 1923 in das Zentralkomitee gewählt; Brandler war schon in den Jahren 1920/21 Mitglied des ZK, zeitweilig auch Vorsitzender der KPD. Ruth Fischer gehörte wie Maslow zur linken Opposition; beide wurden nach der Oktoberniederlage 1923 auf dem 9. Parteitag in Frankfurt/Main (7. bis 11.4.1924) in das ZK gewählt.

5. Ruth Fischer, Der Kampf um die Kommunistische Partei, in: Die Internationale, Jg. 6, Heft 3 (1.2.1923), S.87-96, insbes. S.92: „Wir wollen die Einheitsfront insofern, als wir wirklich kämpfen wollen, auch als Kommunisten um die unmittelbaren Tagesforderungen des Proletariats. [...] Aber wir wollen diesen Kampf nicht in der Koalition mit der SPD als Partei [...] sondern wir wollen [...] die Kämpfe führen allein mit der Kommunistischen Partei in der Erkenntnis, daß die Frage des Sieges eine Frage des Werdens und Erstarkens der Kommunistischen Partei ist.“

6. Maslow, a.a.O., S.388, (s. Anm.1).

7. Über die Taktik der Komintern, a.a.O., S.1015 (s. Anm.2): „Einer offenen oder maskierten bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition stellen die Kommunisten die Einheitsfront aller Arbeiter und eine Koalition aller Arbeiterparteien auf ökonomischem und politischem Gebiet zum Kampf gegen die bürgerliche Macht und ihrem schließlichen Sturz gegenüber.“

8. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, Brief an Wilhelm Bracke vom 5.5.1875, MEW Bd.19, S.13.

9. Maslow, a.a.O., S.335 u. 336, (s. Anm.1).

10. Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, MEW, Bd.4, S.470. Korsch zitiert aus dem Kopf und legt dabei den Akzent auf drei von ihm hervorgehobene Worte. Bei Marx heißt es: „Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz.“

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003