Karl Kautsky

Zwischen Baden
und Luxemburg

(1910)


Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 28. Jg., 1910, 2. Bd., S. 652–667.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 2, Frankfurt/M. 1978, S. 786–809.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


 

1. Die Republik

Wir hatten die Genossin Luxemburg ersucht, im Interesse einmütiger Abwehr des badischen Disziplinbruchs der Verschiebung ihrer Antwort zuzustimmen, weil diese geeignet war, das Interesse der Genossen von den badischen Dingen abzulenken. Was zu erwarten war, ist rascher eingetroffen, als wir geglaubt. Der Karlsruher Volksfreund beruft sich bereits triumphierend auf die Genossin Luxemburg. Kurt Eisner ist es, der sie dort dem Disziplinbruch dienstbar macht.

In einem Artikel, betitelt: Das Große und das Kleine, führt er aus: Was bedeute Baden gegenüber Preußen? Nichts Wichtigeres gebe es im Moment, als den preußischen Wahlrechtskampf.

„Die neuerliche bedeutsame preußische Frage, ob der Wahlrechtskampf mit der notwendigen Entschiedenheit und den richtigen Mitteln geführt worden ist, das heißt die Frage des proletarischen Lebensinteresses und der deutschen, ja der europäischen Politik hat so sehr den Vorrang, daß daneben der kleine Badenerstreit ganz zurücktreten muß.“

Und früher schon heißt es in dem Artikel:

„Genossin Luxemburg hat mit Fug denn doch die Diskussion über den preußischen Kampf für wichtiger gehalten, und ihrer zähen Energie ist es zu verdanken, daß (in der Neuen Zeit) – der Wertordnung gemäß – das preußische Problem ausführlich im Text erörtert und die badische Episode mit einer Fußnote abgetan wird.“

Und in seinem Beginn erklärt er:

„Wird von einer so einflußreichen und in ihren Anregungen und Ratschlägen mit Recht so beachteten Genossin, wie Rosa Luxemburg, behauptet, daß die Lebensaufgabe der deutschen Politik, die preußische Wahlrechtsbewegung, von der Partei durch falsche Behandlung verpfuscht worden sei, so wird damit eine Frage von solchem Ernst und solcher Tragweite aufgeworfen, daß es Wichtigeres für die Gesamtpartei gar nicht geben kann und daß uns in diesem Augenblick wahrhaftig das Tun und Lassen der sonst gewiß sehr geschätzten Badenser völlig gleichgültig wird.“

Nicht immer wurden die Anregungen und Ratschläge der Genossin Luxemburg im Karlsruher Volksfreund so kolossal hoch eingeschätzt wie eben jetzt. Aber dieser hat in der Tat alle Ursache, der Genossin Luxemburg zu danken, die als Schutzengel über dem „Kanton Badisch“ schwebt, bemüht, das Donnerwetter von ihm ab und nach Berlin zu lenken.

Natürlich wiederholt Eisner im Volksfreund alle Anklagen, die Genossin Luxemburg gegen uns geschleudert hat, so auch die des „Verbots“ der Betonung des republikanischen Standpunktes:

„Heute wirft man den Badensern Versäumnis republikanischer Pflichten vor, obwohl doch gerade hier die Auffassung Mehrings zutrifft: auch für die Republik wird nicht in den Kleinstaaten gekämpft ... in Berlin ist der Platz für republikanische Agitation, die durchaus nicht schon in schweigender Stimmenthaltung, in Unterlassungen erfüllt wird, und in Preußen wie im Reich läßt gerade die 'Neue Zeit' solche Propaganda als unvereinbar mit der Parteitradition nicht zu.“

Wenn ich anfangs auf die Anwürfe der Genossin Luxemburg nicht sofort antworten wollte, geschah es, um nicht ebenso wie sie die Aufmerksamkeit von den Badener Vorgängen abzulenken. Der nächste Parteitag wird nicht unter dem Zeichen des Massenstreiks stehen, sondern unter dem der Reichstagswahlen. Diese, nicht der Massenstreik, beschäftigen jetzt die gesamte Partei. Und im Zusammenhang mit den Wahlen der Disziplinbruch, der eine so schwere Bedrohung des kommenden Wahlkampfes ist. Insofern könnte auch heute noch die Beantwortung der Luxemburgschen Ausführungen warten.

Was aber nicht mehr warten kann, sind die Anwürfe, namentlich wegen des angeblichen Verbots der Betonung des republikanischen Standpunktes, die Genossin Luxemburg gegen mich schleuderte, denn diese werden von den badischen Hofgängern jetzt für sich ausgenutzt, und ich mache den Genossen, die den wahren Sachverhalt nicht kennen, eine Zurückweisung der badischen Ausnutzung der Luxemburgschen Angriffe unmöglich, solange ich diese nicht richtigstelle.

Jetzt darf ich nicht mehr schweigen.

Über den Eisnerschen Artikel selbst brauche ich kein Wort weiter zu verlieren, nur als Kuriosum sei sein Satz zitiert:

„Uns schien das Beispiel der revolutionären Jungtürken immer erzieherischer zu sein als das der revolutionären Russen.“

Eisner, dessen revolutionäres Ideal die jungtürkische Offiziersverschwörung ist, als dritter im Bunde mit Rosa Luxemburg, der Verfechterin des Massenstreiks um jeden Preis und Kolb, dem Verfechter der Budgetbewilligung und der Hofgängerei: ein sonderbares Kleeblatt!

Und nun zur Republik.

Genossin Luxemburg hatte behauptet, in der Neuen Zeit könne man mit „der Losung der Republik nicht an die Öffentlichkeit treten“.

Das bezog sich darauf, daß ich von ihr gefordert hatte, in ihrem Artikel über den Massenstreik, den sie mir sandte, einen Passus über republikanische Agitation zu streichen. Ich bemerkte, ich hätte ihn zurückgewiesen, nicht weil er den republikanischen Standpunkt betonte, sondern aus anderen Gründen. Sie hätte die Berechtigung dieser Gründe anerkannt, indem sie den Passus selbst nicht veröffentlichte.

Mit dieser letzteren Behauptung hatte ich mich allerdings geirrt, wie ich schon zugegeben habe.

Das Versehen rührte daher, daß der Passus nicht in seinem ursprünglichen Zusammenhang erschien, sondern fast zwei Wochen nach dem Erscheinen ihres Artikels über den Massenstreik, den die Dortmunder Arbeiterzeitung gebracht hatte, in der Breslauer Volkswacht, die mir nicht zuging.

Aber selbst wenn mir der Artikel der Volkswacht zu Gesicht gekommen wäre, hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Er trägt jetzt einen ganz anderen Charakter. Rosa Luxemburg erklärt, sie habe ihn veröffentlicht, „ohne ein Wort daran zu ändern“. Ich habe den Passus vor fast fünf Monaten nur einmal gelesen, kann also nichts darüber sagen, ob das buchstäblich zu nehmen ist. In meiner Erinnerung jedoch machte er einen weit weniger harmlosen Eindruck als jetzt.

Das mag aber bloß daher rühren, daß er jetzt nicht mehr in seinem alten Zusammenhang steht. In diesem Zusammenhang, als Schluß des Artikels, der zum Massenstreik aufforderte, erklärte er, die Agitation für das freie Wahlrecht genüge nicht mehr. Es gelte jetzt die Agitation für die Republik. Und da meinte ich allerdings, republikanische Agitation in Verbindung mit Massenstreikaktion, das wäre eine völlig neue Agitation und Aktion, die für die Partei unabsehbare Folgen haben könne, die nicht ein einzelner auf eigene Faust proklamieren dürfe, die aber auch nicht gut öffentlich diskutiert werden könne. Selbst so gute Republikaner wie Marx und Engels hätten anerkannt, daß bei der republikanischen Agitation in Deutschland Vorsicht walten müsse.

Diese Auffassung vertrete ich auch heute noch, und Rosa Luxemburg hat ihre Berechtigung indirekt anerkannt, freilich nicht in der Weise, wie ich’s annahm, daß sie auf die Veröffentlichung des Passus vollständig verzichtete, wohl aber in der Weise, daß sie ihn aus dem Zusammenhang herausnahm, in dem ich ihn beanstandete, und ihn für sich allein erscheinen ließ, wo er ein viel harmloseres Gesicht annahm.

Wenn Rosa Luxemburg behauptete, ich hätte ihr in meinem Brief die „scharfe Betonung des republikanischen Standpunktes verboten“, so steht davon in meinem Brief keine Silbe.

Es wäre auch in der Tat sehr sonderbar, wenn ich das getan hätte, da ich, wie bereits erklärt, „schon stärkere Betonungen des republikanischen Gedankens in der Neuen Zeit veröffentlichte“ wie die harmlose Bemerkung in der Broschüre der Genossin Luxemburg, die Liberalen verdienten Vorwürfe, weil sie 1848 nicht die deutsche Republik gemacht. Genossin Luxemburg kann sich nicht entsinnen, republikanische Erklärungen in der Neuen Zeit gelesen zu haben. Zwei Zitate mögen genügen, ihr Gedächtnis zu stärken.

Im Beginn meiner Artikelserie über Republik und Sozialdemokratie in Frankreich erklärte ich:

„Zunächst kann ich nur wiederholen, was ich in der Neuen Zeit (XXII, 2, S. 675) gesagt:

‚Wir sind schon deswegen Republikaner, weil die demokratische Republik die einzige dem Sozialismus entsprechende politische Form ist. Die Monarchie kann nur bestehen auf der Grundlage von Klassenunterschieden und Klassengegensätzen. Die Aufhebung der Klassen bedingt auch die Aufhebung der Monarchien.‘„ (Neue Zeit, XXIII, 1, S. 260)

Im zwölften Jahrgang der Neuen Zeit hatte ich auseinandergesetzt:

„Wir sind Revolutionäre, und zwar nicht bloß in dem Sinne, in dem die Dampfmaschine ein Revolutionär ist. Die soziale Umwälzung, die wir anstreben, kann nur erreicht werden mittels einer politischen Revolution, mittels der Eroberung der politischen Macht durch das kämpfende Proletariat. Und die bestimmte Staatsform, in der allein der Sozialismus verwirklicht werden kann, ist die Republik, und zwar im landläufigsten Sinne des Wortes, nämlich die demokratische Republik.“ (XII, 1, S. 368)

Das sind nicht etwa „olle Kamellen“, sondern diesen Passus druckte ich erst im vorigen Jahre in meinem Weg zur Macht ab. Er wird demnächst in neuer Auflage dort erscheinen.

Ist der Genossin Luxemburg hier der republikanische Standpunkt nicht scharf genug betont? Ist er da nicht stärker betont als in ihrer Frankfurter Rede, die sie jüngst hielt? Und ich sollte Genossin Luxemburg gehindert haben, unseren republikanischen Standpunkt scharf zu betonen, also dasselbe zu tun, was ich tat?

Wenn sie behauptete, in der Neuen Zeit dürfe man „mit der Losung der Republik nicht an die Öffentlichkeit treten“, so hat sie die Genossen damit irregeführt. Nicht deswegen wies ich den fraglichen Passus zurück, weil darin der republikanische Charakter unserer Partei betont wurde, sondern deshalb, weil darin ein einzelner auf eigene Faust eine neue Art republikanischer Agitation proklamierte. Nicht politische Rücksichten kamen dabei ins Spiel, sondern juristische, die schon so gute Republikaner wie Marx und Engels anerkannten.

Das will Genossin Luxemburg freilich nicht zugeben, aber sie bestreitet meine Behauptung, die auf Mangel an „reiflicher Überlegung“ beruhe, unter Anwendung einer Zitiermethode, auf die ein Blick geworfen sei, weil Zitate in ihrer jetzigen Polemik eine große Rolle spielen.

Genossin Luxemburg behauptet, Engels verlangte die „Erörterung der Notwendigkeit einer Agitation für die Republik“ in der Parteipresse. Sie beweist dies durch folgende Worte, die sie von ihm zitiert:

„Zweitens Rekonstituierung Deutschlands ... Also einheitliche Republik ... Von allen diesen Sachen wird nicht viel ins Programm kommen dürfen.“

Aber, heißt es dann weiter in dem Zitat, es sei notwendig, sich darüber zu verständigen, darüber zu debattieren.

Ich will davon absehen, daß hier nur von Verständigen, nicht von Agitieren die Rede ist. Auf jeden Fall muß man nach diesem Zitat annehmen, unter „allen diesen Sachen“ verstehe Engels die Republik. Aber der Schein trügt. Diesen trügerischen Schein fabriziert Rosa Luxemburg dadurch, daß sie aus einem Absatz von ungefähr einer Druckseite, in dem „diese Sachen“ erörtert werden, nur ein Wort, ein einziges Wort zitiert: einheitliche Republik! In Wirklichkeit erörtert Engels dort die Frage der Konstituierung Deutschlands, die Fragen der Kleinstaaterei, der Reservatrechte, des Partikularismus, worunter ihm als der gefährlichste der preußische erscheint, des Bundesstaats und Einheitsstaats. Letzteren müßten wir anstreben. „Für Deutschland wäre die föderalistische Verschweizerung ein enormer Rückschritt ... also einheitliche Republik.“ Aber nicht nach französischem Muster. Kein Bürokratenstaat, sondern weitestgehende Selbstverwaltung der Provinzen und Gemeinden.

Das waren die Fragen, die zu diskutieren Engels für notwendig hielt, weil sie „von heute auf morgen brennend werden können, wenn wir sie nicht diskutiert und uns nicht darüber verständigt haben“. Von alledem zitiert Genossin Luxemburg nur das in der Mitte des Absatzes stehende Wort: Republik, und behauptet, unter „allen diesen Sachen“ habe Engels die Republik verstanden. Das ist doch etwas – nun seien wir galant und sagen wir: kühn.

Mir wirft sie vor, ich hätte diese Stelle zu flüchtig gelesen, nicht „reiflich überlegt“. Hat sie sie „reiflich“ überlegt, ehe sie an ihre Zurichtung ging? Dann um so schlimmer.

Der Gedanke, der Engels durch die Zurechtrichtung des Zitats von Genossin Luxemburg unterschoben wurde, lag ihm ganz fern. Im Jahre 1891, als er ihn niederschrieb, glänzten noch nicht die Quessel, Kolb und Frank am Parteihimmel und es galt für selbstverständlich, daß jeder Sozialdemokrat Republikaner war. Es wäre Engels nie eingefallen, es zu betonen, daß wir uns über die Frage der Republik „verständigen“ müßten. Wohl aber über die Fragen des Partikularismus und des Einheitsstaats. Daß diese Fragen dringend einer Verständigung bedürften, daß sie sonst einmal über Nacht höchst gefährliche Formen für unsere Agitation und Organisation annehmen könnten, das war es, worauf er 1891 hinwies und womit er nur zu sehr recht behalten hat, wie wir eben jetzt merken.

Die monarchischen Sozialdemokraten dagegen sah er nicht voraus, und darüber wird auch heute noch nicht eine tiefergehende Diskussion notwendig werden. Selbst bei jenen Genossen, die dem Partikularismus Konzessionen machen, wird der Kolb-Quesselsche Monarchismus keinen Anklang finden.

Die Begriffe Sozialdemokrat und Republikaner bleiben identisch.
 

2. Streikbedingungen

Hand in Hand mit der Anklage, ich hätte die Betonung des republikanischen Standpunktes in der Neuen Zeit verboten, marschiert die andere, ich hätte den Artikel über den Massenstreik nicht aus eigener Überzeugung, sondern infolge eines „Verbots“ der „höheren Instanzen“ abgelehnt. Anders ist wohl die Behauptung der Genossin Luxemburg nicht aufzufassen, die allerdings in sehr verzwickter Form vorgebracht wird:

„Es handelt sich natürlich nicht um ein Verbot des Genossen Kautsky ..., sondern um ein Verbot der ‚höheren Instanzen‘, dem Genosse Kautsky in seinem Machtbereich, der Neuen Zeit, gefolgt war.“

Das faßt auch Eisner in seinem erwähnten Artikel so auf, als hätte ich mich „den Erwägungen des Parteivorstandes unterworfen.

Ich habe darauf nur zu bemerken, daß ich von einem solchen Verbot nichts weiß; daß mir weder diesmal noch sonst jemals von irgend einer „höheren Instanz“ der Partei ein Gebot oder auch nur ein Wunsch zuging, irgend etwas nicht zu veröffentlichen. Die Motive meiner schließlichen Ablehnung habe ich schon in meinem früheren Artikel, S. 335, 336, dargelegt, ich habe ihnen nichts hinzuzufügen. Das Verbot der „höheren Instanzen“, das an mich ergangen sein soll, ist eine Halluzination.

Nachdem Rosa Luxemburg meine moralische Minderwertigkeit als Redakteur und Republikaner dargetan, geht sie dazu über, meine intellektuelle Minderwertigkeit zu zeigen, darzutun, daß ich über russische und deutsche Verhältnisse ebenso wie über Streikpolitik „ohne reifliche Überlegung“ urteile, wobei ich einmal so und einmal wieder das Gegenteil davon sage.

Die Frage, um die es sich hier handelt, ist äußerst wichtig: die Bedingungen des Streikens sind in den verschiedenen Staaten je nach der Höhe ihrer ökonomischen Entwicklung und der Gestaltung ihrer politischen Verhältnisse sehr verschieden. Wie weit unterscheiden sich russische Streikbedingungen von deutschen, wie weit kann der russische Massenstreik vorbildlich sein für den deutschen?

Man sollte annehmen, das sei eine Frage, die man in aller Ruhe und Sachlichkeit sollte erörtern können und erörtern müssen. Ich habe mich wenigstens bemüht, dies zu tun, und ebenso mein Gegenpart in dieser Frage, Genosse Pannekoek. Genossin Luxemburg dagegen ist aufs tiefste gekränkt und gereizt, sieht in meinen Ausführungen eine Beleidigung des russischen Proletariats, eine Herabsetzung der russischen Revolution und ihrer Erfolge. Wer meinen Artikel unbefangen liest, wird darin nichts Derartiges finden. Ich habe nie behauptet, daß die russischen Streiks keine Erfolge erzielten; bloß gesagt, unter den russischen Bedingungen sei jeder Streik an und für sich schon eine erhebende Tat, ein Sieg gewesen, „welches immer sein praktischer Ausgang sein mochte“. Den großen Erfolg des Massenstreiks während der Revolution, die glänzende Haltung der russischen Arbeiter habe ich ausdrücklich anerkannt. Das ist denn doch etwas anderes. Wenn daher Rosa Luxemburg glaubt, mich zu schlagen, wenn sie die Erfolge der Streiks während der Revolution aufzählt und meine Mahnung aus der Schrift über die soziale Revolution zitiert, das russische Proletariat nicht zu unterschätzen, so trifft sie mich damit nicht. Daß aber alle die Unterschiede zwischen Rußland und Deutschland bestehen, die ich dargelegt und die hier eine andere Streiktaktik hervorriefen als dort, das vermag Genossin Luxemburg doch nicht zu leugnen. Daß Streiks von Arbeitern, deren Volksbildung vernachlässigt ist, die vielfach eben vom Dorfe kommen, die jeglicher Presse, jeglicher Organisation entbehren, formlos und primitiv sind im Gegensatz zu den Streiks wohlorganisierter und geschulter Arbeiter, ist doch nur die Konstatierung einer Tatsache und keine Beleidigung. Am Ende beleidigte Engels in seinem Buch über die Lage der arbeitenden Klasse in England die englischen Proletarier seiner Zeit, deren Streiks auch als primitive gegenüber modernen erscheinen.

Rosa Luxemburg erklärt zwar, daß meine Darstellung der russischen Verhältnisse in den wichtigsten Punkten „fast total verkehrt“ ist, aber sie hütet sich, einen Satz meiner Darstellung wörtlich zu zitieren, um seine „Verkehrtheit“ zu erweisen. Was sie mich über die russischen Arbeiter sagen läßt, ist, wie schon bemerkt, eine „Verkehrung“ dessen, was ich wirklich gesagt. Daneben hebt sie aber von allen den „wichtigsten Punkten“ meiner „fast total verkehrten“ Darstellung bloß meine Bemerkung über die Bauernunruhen heraus. Sie belehrt mich: „Das russische Bauerntum zum Beispiel fing nicht erst 1905 plötzlich an zu rebellieren, sondern seine Aufstände ziehen sich seit 1861 wie ein roter Faden durch die innere Geschichte Rußlands.“ Neu sei 1905 nur das Zusammentreffen des Bauernaufstandes mit der Erhebung des städtischen Proletariats gewesen. Als wenn ich irgendwo etwas anderes behauptet hätte! In meinem Artikel über „neue Strategie“ steht kein Wort davon, daß es vor 1905 keine Bauernaufstände in Rußland gab. Im Februar 1905, also noch vor dem Ausbruch der Revolution, veröffentlichte ich in der Neuen Zeit einen Artikel über die „Bauern und die Revolution in Rußland“, in dem ich unter anderem sagte:

„Bauernaufstände sind in Rußland nichts Ungewöhnliches. Fast jedes Jahr sieht ein paar Bauernrevolten, die so regelmäßig wiederkehren wie die Donnerwetter im Hochsommer, aber unter normalen Verhältnissen auch nicht viel mehr Schaden anrichten und mit leichter Mühe niedergeschlagen werden.“ (XXIII, 1, S. 673)

Diesmal aber, „prophezeite“ ich, werde es anders kommen:

„Wir dürfen erwarten, daß zu den ständigen Unruhen der Städte sich in wenigen Wochen oder Monaten ausgedehnte Unruhen auf dem Lande gesellten“ (S. 674), „die städtische Revolution wird dadurch unwiderstehlich.“ (S. 675)

Diese „Prophezeiungen“ sind pünktlich eingetroffen. Worüber Rosa Luxemburg mich heute von oben herab belehrt, um meine „fast total verkehrte“ Darstellung der russischen Unruhen zu berichtigen, das sagte ich voraus, ehe es noch eingetroffen war.

Aber Rosa Luxemburg hält es für notwendig, mich nicht bloß über russische, sondern auch über deutsche Verhältnisse zu belehren. Sie bestreitet, die preußische Regierung sei die stärkste der Welt. Es würde zu weit führen, sie überzeugen zu wollen, ist auch nicht nötig, da sie sich hütet, eine andere Regierung zu nennen, die über so starke Machtmittel so unbeschränkt verfügte wie die preußische. Es ist auch hier wieder bezeichnend, daß sie selbst die offenkundigsten Tatsachen nicht gelten lassen will, wie jene, daß die preußische Armee ein größeres Prestige hat als jede andere, weil sie die einzige Armee einer europäischen Großmacht ist, die seit einem Jahrhundert keine Niederlage erlitt, sondern „seit bald einem Jahrhundert von dem Glanze beständiger Siege getragen wird“. Sie bemerkt dagegen: „In den Kriegervereinen hat man bis jetzt nur von dem ‚glorreichen Feldzug‘ von 1870 gezehrt.“

Ich stehe also offenbar noch unter einem Kriegervereinler, bin noch patriotischer als diese. Soll ich im Ernst an die Feldzüge von 1813 bis 1815, von 1864 und 1866 erinnern?

Wichtiger als diese Kleinigkeit, die nur die polemische Methode der Genossin Luxemburg kennzeichnet, sind ihre Ausführungen über die Streiktaktik. Hier kommen wir auf ein Gebiet, auf dem eine fruchtbringende Auseinandersetzung möglich wäre.

In drei wichtigen Punkten differieren wir. Ich erkläre, bei entwickelter gewerkschaftlicher Organisation, weitgehender kapitalistischer Konzentration und Möglichkeit offener Massenagitation greift der Arbeiter zum Streik nur, „wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen“. Das Abwägen der Aussichten des Kampfes und der Forderungen, die durch ihn erreicht werden sollen, vor seinem Ausbruch wird jetzt sehr wichtig. Damit wird aber auch die Konzentration des Kampfes auf diese Forderungen bedingt, das strenge Auseinanderhalten von Kämpfen für politische und für ökonomische Forderungen. Endlich werden mit zunehmender Zentralisation und Konzentration der Betriebe wie der Organisationen der Arbeiter und Unternehmer die Kämpfe zwischen ihnen wohl immer wuchtiger, aber auch immer seltener.

In allen diesen Punkten steht Rosa Luxemburg im Gegensatz zu meiner Auffassung, die sie „eine geradezu erstaunliche Phantasie“ nennt. Die Frage nach den Aussichten des Kampfes verwirft sie als krämerhafte Beschränktheit. Der Kampf stärkt stets das Proletariat. „Gesunde, kräftige Organisationen ... erstehen aus jeder Kraftprobe mit erneuten Kräften ... Verluste werden bei einer gesunden, großen, kühnen Massenaktion stets von Gewinnen überwogen werden.“ Ferner sei es von Vorteil, Aktionen zu politischen und solche zu ökonomischen Zwecken miteinander zu verquicken. So könne das Zusammentreffen eines Wahlrechtsstreiks mit einem Bergarbeiterstreik für Bergarbeiterforderungen oder mit einer Bauarbeiteraussperrung für den politischen wie für den wirtschaftlichen Kampf nur von Nutzen sein.

Endlich behauptet sie, daß mit dem Fortschreiten der ökonomischen und organisatorischen Entwicklung Streiks nicht immer seltener, sondern immer häufiger werden, so daß wir uns immer mehr dem Stadium des chronischen Massenstreiks nähern, der jahrzehntelang dauert und das Mittel ist, das Proletariat zum Siege zu führen. Wenn ich anderer Ansicht bin, so rührt das einfach daher, daß ich von der ökonomischen Wirklichkeit keine blasse Ahnung habe.

O du ahnungsvoller Engel!

Daß gewerkschaftlich organisierte und geschulte Arbeiter aus freien Stücken, also nicht in einer Zwangslage, nur dann streiken, wenn sie Aussicht auf bestimmte Erfolge haben, glaubt Rosa Luxemburg durch die Streikstatistik der deutschen Gewerkschaften widerlegen zu können, aus der hervorgeht, daß im Zeitraum von 1890 bis 1906 ein Viertel der Streiks erfolglos war. Was das gegen mich beweisen soll, weiß ich nicht. Ich habe nicht behauptet, daß die Arbeiter nur dann streiken, wenn sie den Sieg in der Tasche haben. In solchem Falle kommt es kaum zum Streik, da gibt der Unternehmer von selbst nach. Ich habe bloß gesagt, bei entwickelter gewerkschaftlicher Organisation kämpft man nicht bloß um des Kampfes willen, erscheint nicht der Streik an sich schon als Sieg, sondern streikt man für bestimmte Forderungen, überlegt die Aussichten des Streiks und streikt nur, wenn diese günstig. Wenn man bedenkt, daß Engels von den Streiks der Anfänge der englischen Arbeiterbewegung noch bemerkt, die Streiks seien „unglaublich häufig“, es vergehe „fast kein Tag“ ohne Streik, aber sie seien „eine lange Reihe von Niederlagen, unterbrochen von wenigen einzelnen Siegen“, so ist es jedenfalls ein gewaltiger Fortschritt der gewerkschaftlichen Organisation, wenn sie die Zahl der Niederlagen auf 25 Prozent reduziert. Noch geringer ist deren Zahl, wenn man bloß die Angriffstreiks in Betracht zieht. Sie beträgt bei ihnen bloß 18 Prozent, bei den Abwehrstreiks und Aussperrungen dagegen 33 Prozent. Bei diesen sind aber die Arbeiter oft in einer Zwangslage, sie müssen vielfach streiken, wollen sie Schlimmeres verhüten, auch wenn sie von vornherein wissen, daß sie einen augenblicklichen materiellen Erfolg nicht erreichen. Das beweist nichts dagegen, daß bei entwickelter gewerkschaftlicher Organisation die Aussichten jedes Streiks vor seinem Beginn reiflich erwogen werden und erwogen werden müssen, und daß die Aktion je nach dem Ergebnis dieser Erwägungen eingerichtet wird. Vor allem gilt das natürlich vom Angriffstreik. Ein solcher hätte aber auch der beabsichtigte Wahlrechtsmassenstreik sein sollen. Er gehörte doch nicht in die Kategorie der Abwehrstreiks, bei denen die Arbeiter keine Wahl haben als zu kämpfen oder sich bedingungslos zu unterwerfen.

Auch im Kriege werden oft belagerte Festungen ohne Aussicht auf Erfolg bis zum äußersten verteidigt. Das stößt nicht den Satz um, daß man Schlachten nur führt, um zu siegen, und daß man jeder Schlacht ausweicht, in der ein Sieg von vornherein aussichtslos ist.

Darum aber handelt es sich bei unserer Diskussion. Man verlangte von den Befürwortern des Massenstreiks nicht den Nachweis, daß sein Erfolg zweifellos, sondern daß er in der gegebenen Situation möglich sei. Rosa Luxemburg wich diesem Nachweis mit der Fanfare aus: wie immer der Erfolg sein möge, er müsse unseren Vormarsch beschleunigen. Sie begründete die Forderung des sofortigen Ausbruchs des Massenstreiks nicht mit dem Nachweis, daß die Situation ihn aussichtsreich, sondern daß sie ihn wünschenswert mache. Sie verpönt jetzt das Forschen nach den Aussichten eines Streiks in einer gegebenen Situation mit dem Hinweis darauf, daß 25 Prozent aller Streiks erfolglos seien und die Streiks im allgemeinen uns doch vorwärtsbringen!

Ich glaube nicht, daß sie mit dieser Argumentation in Partei und Gewerkschaft viel Glück haben wird, trotz ihrer Berufung auf „jeden gewerkschaftlichen Agitator“, der mich über die Grundsätze des Klassenkampfes belehren könne. Diese „gewerkschaftlichen Agitatoren“ werden nach wie vor die Aussichten eines jeden Streiks vor der Aktion genau erwägen und ihre Taktik danach einrichten.

Erfolgreicher scheint sich die Genossin Luxemburg der Streikstatistik zu einem anderen Zweck zu bedienen. Sie wendet sich gegen meine Behauptung, daß mit der fortschreitenden Konzentration und Zentralisation der Betriebe und der Organisationen die Streiks immer seltener werden. Man sollte meinen, das zeige schon der bloße Augenschein. Ein Riesenkampf, wie er zum Beispiel jetzt im Baugewerbe tobte, läßt sich so schnell nicht wiederholen. Durch ihn tritt ein einziger Kampf an Stelle Hunderter kleiner lokaler Kämpfe. Die Genossin Luxemburg beruft sich wohl darauf, daß wir alle Augenblicke von Riesenstreiks der Bergarbeiter, Eisenbahner usw. hören, viel öfter als ehedem. Das ist richtig, rührt aber daher, daß das Gebiet der kapitalistischen Ausbeutung ungeheuer rasch wächst. Da hören wir heute von einem Streik in Italien, morgen in Amerika, übermorgen in Australien usw. Aber wir bekommen ein anderes Bild, wenn wir in der gleichen Gegend die Riesenstreiks großer gewerkschaftlicher Verbände verfolgen. In Deutschland haben die Bergarbeiter des Ruhrgebiets seit 1905 nicht gestreikt; in Frankreich hatten wir einen Massenstreik der Bergarbeiter nicht mehr seit 1902, in Österreich nicht seit 1900, in England nicht seit 1893. An Eisenbahnerstreiks hatten wir 1903 einen in Holland und in Italien, 1904 in Ungarn. Sie haben sich dort seitdem nicht wiederholt. Nach „chronischem“ Streiken sieht das nicht aus.

Aber die Statistik wird mir Genossin Luxemburg einwerfen, die scheint doch unwiderleglich zu zeigen, daß die Streiks nicht seltener, sondern häufiger werden, daß es im letzten Jahrzehnt in Deutschland viel mehr Streiks gab als im Jahrzehnt vorher.

Darauf ist zunächst zu erwidern, daß in der deutschen Streikstatistik der Einfluß der Organisation auf das Seltenerwerden der Streiks noch wenig zutage treten kann, weil die deutschen Gewerkschaften noch jung und in raschem Wachstum begriffen sind. Die Zahl der neuen Elemente, die ihnen zuströmen, war bisher sehr groß. Gerade der Übergang vom unorganisierten zum organisierten Stadium ist aber in der Regel mit den lebhaftesten Kämpfen, indes auch mit den raschesten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen verknüpft.

Dann aber ist die deutsche Streikstatistik sehr unvollkommen. Die Reichsstatistik taugt nichts. Die Statistik der Gewerkschaften war anfänglich auch nicht vollständig, wurde erst im Laufe der Jahre zuverlässiger. Je besser sie wurde, desto mehr der vorgekommenen Streiks verzeichnete sie. Ein Teil der Zunahme ihrer Zahl ist also bloß der Verbesserung der Statistik zuzuschreiben. Dann aber umfaßt diese Statistik nur jene Streiks, an denen die Zentralverbände beteiligt sind. Die Zahl solcher Streiks kann zunehmen, sobald die Mitgliederzahl der freien Gewerkschaften wächst, ohne daß die Streiks im Verhältnis zur Zahl der Arbeiter häufiger werden. Es ist ja klar, daß von 100 000 Mitgliedern weniger Streiks berichtet werden als von 1 000 000.

Nehmen wir die Zahlen des letzten Dutzend Jahre – 1900 wurde die gewerkschaftliche Streikstatistik reorganisiert und verbessert –, dann können wir nach den Zahlen der gewerkschaftlichen Statistik folgende Tabelle aufstellen:

Streiks und
Aussperrungen
Mitglieder
der Verbände
Zahl der Mitglieder
pro Streik
1896    483    329.230 681
1897    578    412.359 713
1898    985    493.742 501
1899    976    580.473 594
1900    852    680.427 798
1901    727    677.510 931
1902    861    733. 206 851
1903 1.282    887.698 692
1904 1.625 1.052.108 648
1905 2.323 1.344.803 576
1906 3.480 1.689.709 485
1907 2.792 1.865.506 669
1908 2.052 1.831.731 892

Man sieht, von einer relativen Zunahme der Zahl der Streiks keine Spur. Absolut vermehrt sich allerdings die Zahl der verzeichneten Streiks in dem Dutzend Jahre etwa um das Vierfache. Aber trotzdem ein Teil dieser Zunahme ein scheinbarer ist, der Verbesserung der Statistik geschuldet, zeigen selbst diese Zahlen kein relatives Wachstum, eher eine Abnahme der Zahl der Streiks im Verhältnis zur Mitgliederzahl. Im Jahre 1896 kam ein Streik schon auf 681 Mitglieder, heute nur auf 892. Natürlich wechselt die Häufigkeit der Streiks mit der Konjunktur. Wir finden ihre größte Häufigkeit im Verhältnis zur Mitgliederzahl 1898 und dann wieder 1906.

Indes hatte ich in erster Linie nicht deutsche Zahlen im Auge, als ich den Satz von der Verminderung der Streiks durch das Anwachsen der Organisationen schrieb, sondern das Land, in dem die Gewerkschaften schon seit viel längerer Zeit wirken, und die Zahl ihrer Mitglieder, die im Übergangsstadium vom unorganisierten in den organisierten Zustand stehen, weit geringer ist und die Aktion der Gewerkschaften weniger beeinflußt; wo endlich eine amtliche, vollkommen zuverlässige Streikstatistik besteht, die alle Streiks umfaßt.

Dort zählte man:

  Streiks und
Aussperrungen
  Streiks und
Aussperrungen
1889 1.211 1899 719
1890 1.040 1900 648
1891    906 1901 642
1892    700 1902 442
1893    782 1903 387
1894 1.001 1904 355
1895    876 1905 358
1896    926 1906 486
1897    864 1907 601
1898    711 1908 382

Man sieht, die Zahl der Arbeitskämpfe schwankt erheblich mit dem Wechsel von Prosperität und Krise. Aber im ganzen und großen ist sie in entschiedenem Zurückgehen begriffen, nicht bloß relativ, sondern absolut, trotzdem sich offenbar die Zahl der Arbeiter und Betriebe beständig vermehrt.

Daß das Wachstum der Organisationen die Tendenz hat, die Streiks seltener zu machen, ist nicht etwa eine neue Entdeckung von mir, das wurde vor mir schon von anderen gesehen. Die bürgerliche Ökonomie irrt nur, wenn sie aus dieser Beobachtung schließt, die Klassengegensätze milderten sich, der soziale Friede rücke heran. Die Streiks werden vielmehr intensiver, zäher, erbitterter.

Man sieht, die Tatsachen der Streikstatistik geben mir nicht die geringste Veranlassung, meine Anschauungen über Streikpolitik zu revidieren.

Bleibt der eine Punkt, das Unterscheiden des Streiks für ökonomische und des Streiks für politische Forderungen. Hier scheint es Genossin Luxemburg am einfachsten zu haben. Sie schlägt mich durch mich selbst. Sie zitiert meinen „trefflichen Artikel“ aus dem Jahr 1905 über die Lehren des Bergarbeiterstreiks, in dem ich angeblich dieselbe Vereinigung von politischem und ökonomischem Streik für notwendig erkläre, die sie verkündet und die ich jetzt ablehne. Triumphierend jubelt sie:

„Genosse Kautsky zerstreut jeden Zweifel, indem er klipp und klar erklärt:

‚Die großen entscheidenden Aktionen des kämpfenden Proletariats werden immer mehr durch die verschiedenen Arten des politischen Streiks auszufechten sein. Und die Praxis schreitet da schneller vorwärts wie die Theorie. Denn während wir über den politischen Streik diskutieren und nach seiner theoretischen Formulierung und Begründung suchen, entbrennt spontan, durch Selbstentzündung der Massen, ein gewaltiger politischer Massenstreik nach dem anderen – oder wird jeder Massenstreik zu einer politischen Aktion, gipfelt jede große politische Kraftprobe in einem Massenstreik, sei es bei den Bergarbeitern, sei es unter den Proletariern Rußlands, den Landarbeitern und Eisenbahnern Italiens usw.‘ (Neue Zeit, XXIII, 1, S. 780)“

„So schrieb Genosse Kautsky am 11. März 1905:

„Hier haben wir ‚die Selbstentzündung der Massen‘ und die gewerkschaftliche Leitung, ökonomische Kämpfe und politische Kämpfe, Massenstreiks und Revolution, Rußland und Westeuropa im schönsten Durcheinander, alle Rubriken des Schemas in lebendigem Zusammenhang einer großen Periode heftiger sozialer Stürme verschmolzen. Es scheint, daß ‚die Theorie‘ nicht bloß langsamer ‚vorwärtsschreitet als die Praxis‘, sie macht leider zuweilen auch noch Purzelbäume nach rückwärts.“

In der Tat, welch ein theoretischer Hanswurst bin ich, solche Purzelbäume zu machen, daß ich einmal das „schönste Durcheinander“ von Streiks zu politischen und von Streiks zu ökonomischen Zwecken predige und dann wieder ihre sorgfältige Trennung verlange!

Ich begreife das Entzücken der Genossin Luxemburg über meine Purzelbäume nach rückwärts. Es wirkte so überwältigend auf sie, daß sie es unterließ, auch nur ein einziges Sätzchen des „trefflichen“ Artikels weiter zu lesen. Denn ich fahre dort unmittelbar nach dem zitierten Satz fort:

„Dabei ist freilich der Streik um rein politische Machtfragen wohl zu unterscheiden von dem Streik, der die Gesetzgebung zu einer sozialpolitischen Tat drängen will. Jede dieser Streikarten erfordert eine andere Taktik, ist an andere Bedingungen geknüpft; bei dem einen wird die gewerkschaftliche, bei dem anderen die politische Leitung in den Vordergrund treten müssen; der eine ist eine Aktion, die sich des öfteren wiederholen kann, der andere bleibt ein letztes Auskunftsmittel verzweifelter Situationen; bei dem einen gilt es, die Regierung zu einer Tat zu drängen, bei dem anderen, die Regierung zu stürzen; der eine gelingt um so besser, je planmäßiger er vorbereitet ist, der andere um so eher, je spontaner er losbricht, Freund und Feind überraschend usw.“

Das ist es, was ich 1905 in dem Artikel sagte, den Rosa Luxemburg jetzt gegen mich zitiert, um zu beweisen, daß ich im Gegensatz zu meiner jetzigen Haltung damals, ebenso wie sie jetzt, gegen die „pedantische“ Unterscheidung der Streikarten und für ihr Durcheinander eintrat. In Wirklichkeit erklärte ich 1905 genau dasselbe wie jetzt. Den Schein des Gegenteils erreicht Rosa Luxemburgern durch eine Prozedur von unglaublicher Keckheit.

Wir haben schon oben bei dem Zitat aus Engels über die Republik gesehen, daß Rosa Luxemburg es in einer Weise für ihre Bedürfnisse herrichtete, die innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten sein mag, nicht aber innerhalb der Grenzen des politisch und moralisch Erlaubten bleibt. Hier wiederholt sie dasselbe Manöver. Da liegt System drin. Aber sie wiederholt es unter erschwerenden Umständen. Dort sucht sie durch Weglassung von Wesentlichem Engels eine Ansicht aussprechen zu lassen, die er nicht aussprach. Hier sucht sie durch die Weglassung von Wesentlichem mich eine Ansicht aussprechen zu lassen, von der ich ausdrücklich in dem Weggelassenen das gerade Gegenteil behaupte!

Ich begnüge mich damit, dieses Verfahren festzustellen. Das Urteil überlasse ich den Parteigenossen.
 

3. Sollen wir russisch oder belgisch reden?

Mich weiter mit der Genossin Luxemburg zu beschäftigen, ist überflüssig! Man wird nicht von mir verlangen, daß ich noch auf eine Polemik eingehe, die nur den Zweck verfolgt, mir durch gefälschte und verdrehte Zitate Anschauungen unterzuschieben, die ich nie gehegt, um diese Anschauungen dann mit Leichtigkeit lächerlich zu machen. Kaum eines der Zitate aus meinen Schriften, mit denen sie hantiert, hat im Zusammenhang den Sinn, den sie ihm beilegt. Aber es wäre zu langwierig, das ausführlich darzutun, und unnütze Arbeit, denn es brächte keine neue Erkenntnis. Wer der Sache weiter nachgehen will und wem die vorgeführten Beispiele Luxemburgscher Zitierkunst nicht genügen, den bitte ich, die Zitate, die sie vorbringt, in ihrem Zusammenhang nachzulesen.

Damit halte ich natürlich nur die persönliche Seite der Streitfrage für erledigt, die Genossin Luxemburg in ihren letzten beiden Artikeln so sehr in den Vordergrund geschoben hat. Nach der fachlichen Seite läßt sich wohl noch manches sagen, aber dazu ist der jetzige Zeitpunkt sicher nicht der geeignetste. Ich will nur noch, ehe ich die sachliche Diskussion für jetzt schließe, versuchen, mit kurzen Worten ihren wirklichen Kern aus dem Wust von Verdrehungen loszuschälen, der um ihn gelagert wurde. Ich werde dies nicht in polemischer Form tun.

Die Streitfrage ist die, welches die besonderen Bedingungen eines erfolgreichen Massenstreiks zu politischen Zwecken in Deutschland sind. Natürlich hängt die Form, die einmal ein derartiger Massenstreik annehmen wird, von den Verhältnissen ab, nicht von den Vorstellungen, die wir uns von ihm machen. Wohl aber wird unsere Taktik vor dem Massenstreik und in seinen Anfängen um so zweckmäßiger sein, je näher das Bild, das wir uns von ihm entwerfen, dem Verlauf kommt, den er wirklich nimmt. Deshalb die Notwendigkeit, zu bestimmten Anschauungen über ihn zu kommen.

Wie immer kann auch hier unsere Erkenntnis nur aus der Erfahrung stammen, aus der Praxis der politischen Massenstreiks, die bisher schon vorgekommen sind. Wenn man untersucht, inwieweit die Formen und Erfolge dieser Streiks mit den besonderen Bedingungen zusammenhängen, unter denen sie entsprangen, und wenn man diese Bedingungen wieder mit den besonderen Bedingungen unseres Staates und unserer Zeit vergleicht, wird man zu einem Bild des bei uns möglichen Massenstreiks gelangen, das der Wirklichkeit ziemlich nahe kommen kann.

Bei dieser Untersuchung finden wir zwei Typen des Massenstreiks zu politischen Zwecken: den belgischen und den russischen, die beide voneinander sehr verschieden sind.

In Belgien war jeder der beiden großen Wahlrechtsstreiks ein Ereignis, das mit einem Male gleichzeitig im ganzen Land vor sich ging, einer ganz bestimmten politischen Forderung und nur ihr allein ohne jede Verquickung mit ökonomischen Forderungen diente, den Abschluß einer bestimmten politischen Aktion bedeutete und, einmal beendet, sich so bald nicht wiederholte. Der erste belgische Wahlrechtsstreik fiel in das Jahr 1893, der zweite neun Jahre später. Er hat keine Aussicht, so bald erneuert zu werden.

Unter dem Einfluß dieser belgischen Vorgänge bildeten sich unsere Anschauungen vom Massenstreik als Mittel, politische Forderungen durchzusetzen.

Eine neue Form des politischen Massenstreiks zeigte dann 1905 die Revolution in Rußland: lokale Streiks ohne zentrale, das ganze Reich umspannende Leitung, die bald hier, bald dort ausbrachen, mitunter rein ökonomisch, mitunter ökonomische und politische Forderungen gleichzeitig verfechtend, die oft nach wenigen Tagen endeten, ohne einen bestimmten Erfolg aufzuweisen, sich bald wieder erneuerten, aus sich selbst neue Kraft schöpften und schließlich solche Dimensionen annahmen und sich so häuften, daß sie im Verein mit der gleichzeitigen Erhebung der Bauernschaft und dem Versagen der Armee den Absolutismus aufs tiefste erschütterten und vorübergehend sogar zur Kapitulation brachten, daneben auch ökonomische Forderungen durchsetzten.

Keine Frage, niemals vorher hat der Massenstreik so tiefgehende Wirkungen geübt, nie vorher gezeigt, wie umwälzend er wirken kann, und insofern haben die russischen Vorkommnisse auch für uns in Westeuropa große Bedeutung.

Aber bezeugen sie, daß das Bild des Massenstreiks, wie er bei uns möglich wäre, das wir nach dem belgischen Muster gestaltet hatten, nun umzuwandeln ist, daß wir erwarten müssen, nicht nach belgischem, sondern nach russischem Muster sei der Massenstreik bei uns möglich?

Diese Frage ist erst jetzt aufgetaucht, sie wurde nie früher erörtert. Die Art ihrer Beantwortung ist für unsere Praxis höchst wichtig. Unsere Taktik wird eine ganz andere, wenn wir annehmen, der Massenstreik habe nicht am Ende der Wahlrechtsaktion, sondern schon in ihren Anfängen zu stehen, als wenn wir zu der gegenteiligen Auffassung kommen. Wo wir annehmen, der Streik sauge aus sich selbst neue Kraft, wirke anfeuernd und belebend, auch wenn er keinen Erfolg aufweise, so daß es müßig sei, nach seinen Aussichten zu fragen, und es nur darauf ankomme, einmal anzufangen, da wird sich unsere Taktik ganz anders gestalten als dort, wo wir von der Überzeugung geleitet werden, wenn der Massenstreik erfolglos ende, bedeute er eine Niederlage, die unsere Partei für lange hinaus lähme. Unsere Taktik wird anders sein dort, wo wir jedes Zusammenfallen der politischen Aktion mit einer ökonomischen für eine Beeinträchtigung beider halten, und anders dort, wo wir erwarten, das Durcheinander beider verstärke ihre Kraft usw.

In Jena wurde entschieden, daß wir die Waffe des Massenstreiks unserem Arsenal einverleiben. Über die Bedingungen und die Art der Anwendung dieser Waffe wurde dort nicht entschieden, nicht einmal diskutiert. Jetzt hat aber die politische Situation plötzlich zwei schroff entgegengesetzte Anschauungen über die in Deutschland mögliche Form des politischen Massenstreiks zum Vorschein gebracht, deren Gegensatz sich auf die Frage reduzieren läßt: Sollen wir russisch reden oder belgisch?

Diese Frage müssen wir mit aller Ruhe und ohne Voreingenommenheit erörtern, denn von ihrer richtigen Beantwortung kann der Erfolg oder Mißerfolg einer ganzen Aktion abhängen. Meine Untersuchungen lassen mich an dem belgischen Beispiel festhalten, das mir für Deutschland schon vor den russischen Ereignissen vorbildlich geworden war. Aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren, wenn mir überzeugende Argumente für die gegenteilige Ansicht vorgebracht werden. Ich bin auf das belgische Muster ebensowenig eingeschworen wie auf das russische.

Indes bisher ist mir noch nichts entgegengehalten worden, was mir Veranlassung gäbe, meine Auffassung zu revidieren.

Wenn ich mich für das belgische Vorbild entscheide, so heißt es natürlich auch hier nicht einfach nachahmen. Die deutschen Verhältnisse sind nicht den belgischen völlig gleich. Da gilt es, wie immer bei Analogieschlüssen, die Verschiedenheiten gehörig zu berücksichtigen.

So finden wir, daß Deutschland weit größer ist als Belgien, seine Regierung über weit stärkere Machtmittel verfügt, die besitzenden Klassen viel geschlossener hinter sich hat als die belgische. Daher erscheint mir ein belgischer politischer Massenstreik wie der zweite, der auf einen bestimmten Termin von vornherein angesetzt war, bei uns undurchführbar. Es bedarf in Deutschland der Wucht eines gewaltigen Ereignisses, das die ganze Nation aufs tiefste aufwühlt, soll ein politischer Massenstreik möglich werden, der alle arbeitenden Schichten des ganzen Reichs, auch die abhängigeren, die Arbeiter des Staats, der Gemeinden, der Monopolbetriebe mit sich fortreißt. In Deutschland kann ein politischer Massenstreik nur siegreich ausgehen, der der Selbstentzündung der Massen entspringt, wie der erste belgische Wahlrechtsstreik von 1893.

Dabei ist aber ein weiterer Unterschied in Betracht zu ziehen, der zwischen dem Belgien von 1893 und dem heutigen Deutschland besteht. Jenem fehlte das allgemeine Wahlrecht, dieses besitzt das allgemeine, direkte, geheime und – abgesehen von der Wahlkreiseinteilung – auch gleiche Wahlrecht zum Reichstag. Das macht die politischen Bedingungen hier und dort sehr verschieden. Bisher haben wir gefunden, daß jene allgemeine und tiefgehende Erregung der Massen, die sich im politischen Massenstreik entlädt, nur in Staaten eintritt, die des allgemeinen und gleichen Wahlrechts entbehren; in Staaten, in denen dem Proletariat die gesetzlichen Mittel abgeschnitten sind, politische Macht im Parlament und durch das Parlament zu gewinnen. Und die politischen Massenstreiks galten auch alle der Gewinnung eines dem Proletariat genügenden Wahlrechts, natürlich auch eines Parlaments, wo ein solches noch fehlte. Je demokratischer in einem Land die Verfassung, desto weniger sind die Bedingungen eines Massenstreiks gegeben, desto weniger ist er für die Massen notwendig, desto weniger sind sie für ihn zu haben. Wo ein dem Proletariat genügendes Wahlrecht besteht, ist ein Massenstreik nur als Mittel der Defensive zu erwarten, als Mittel zum Schutz des Wahlrechts, oder zum Schutz des Parlaments, das etwa eine starke sozialistische Vertretung aufweist, gegen eine Regierung, die sich weigert, dem Willen der Volksvertretung zu gehorchen.

Das ist auch einer der Gründe, warum die Massen im preußischen Wahlrechtskampf ihr Interesse zunächst den Reichstagswahlen zuwandten, nicht dem Massenstreik, und warum ein solcher bei uns eher bei einem Kampf zur Verteidigung des Reichstagswahlrechts als bei einem Kampf zum Umsturz des preußischen Dreiklassenwahlrechts zu erwarten ist.

Auf jeden Fall schließen ein politischer Massenstreik und ein Wahlkampf einander völlig aus. Jede dieser beiden Aktionen ist nur dort und dann möglich, wo die zweite nicht möglich ist. Einen Wahlkampf mit einem Massenstreik einleiten zu wollen, ist ein Unding.

Der politische Massenstreik ist ein Ergebnis politischer Rechtlosigkeit des Proletariats. Andererseits setzt aber der politische Massenstreik, wie jeder Massenstreik, eine gewisse Höhe der ökonomischen Entwicklung, des Verkehrswesens, der kapitalistischen Konzentration voraus. Je mehr der Kapitalismus sich entwickelt, desto massenhafter werden die einzelnen Streiks, desto zahlreicher die Massenstreiks, aber desto geringer die Zahl der Streiks überhaupt. Und je größer die Dimensionen eines Streiks, je ökonomisch wichtiger die streikende Arbeiterschaft für die ganze Gesellschaft, desto mehr berührt auch der rein ökonomische Streik den Staat, nimmt er insofern politischen Charakter an und übt er eine Pression auf den Staat in sozialpolitischem Sinn.

Treffen diese entwickelten ökonomischen Bedingungen zusammen mit politischen Zuständen, die das Proletariat rechtlos machen oder mit Rechtlosigkeit bedrohen, dann lassen sie in ihm den Gedanken erstehen, die Waffe des Massenstreiks nicht bloß zur Erringung ökonomischer und sozialpolitischer Vorteile, sondern auch zur Gewinnung oder Verteidigung politischer Rechte zu gebrauchen.

Je nach der Höhe der ökonomischen und politischen Bedingungen wird sich dann der eventuell eintretende Massenstreik mehr dem russischen oder mehr dem belgischen Typus nähern.

Unter den eigenartigen Verhältnissen Deutschlands, wo auf der einen Seite die Machtmittel der politischen und ökonomischen Unterdrückung besonders stark sind und dabei das Proletariat doch politisch nicht völlig rechtlos ist, haben wir, wie gesagt, einen politischen Massenstreik von siegreicher Wucht nur zu erwarten unter dem Eindruck eines überwältigenden Ereignisses, vielleicht nur unter Verhältnissen, bei denen es gilt, bestehende politische Rechte gegen ihre Vergewaltigung zu schützen.

Die Aufgabe unserer Partei ist da eine sehr schwierige. Sie hat nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht, ihre Organisation zu benutzen, um alle Versuche eines vorzeitigen Massenstreiks, der fehlschlagen müßte, nicht aufkommen zu lassen. Auf der anderen Seite aber wäre es verhängnisvoll, sobald die Erregung der Massen eine so gewaltige geworden ist, daß sie alles mit sich fortreißt, wenn die Sturmflut einte planlose würde, wenn nicht unsere Partei sich an ihre Spitze stellte und ihre Leitung in der Hand behielte. Denn nur unter dieser Bedingung kann der Massenstreik bei deutschen Verhältnissen zum Sieg gelangen. Gegen die machtvollen Organisationen, die sich uns entgegenstellen, kann sich nicht ein regelloses „Durcheinander“, sondern nur eine starke Organisation behaupten.

Wann der richtige Moment für den Massenstreik gekommen ist, wann es gilt, nicht mehr zu bremsen, sondern sich vielmehr an die Spitze zum Angriff zu stellen, das kann die Theorie nicht von vornherein bestimmen, ebensowenig als die Kriegswissenschaft von vornherein dem Feldherrn sagen kann, wann in der Schlacht der Moment zur entscheidenden Attacke gekommen ist.

Den richtigen Moment zu finden und ohne Zögern auszunutzen, das bildet die Größe und Sieghaftigkeit des praktischen Kämpfers. Dabei kann ihm die Kenntnis der Theorie behilflich sein; aber was die Theorie darüber zu sagen hat, kann sie selbst nur aus vorhergehender Praxis schöpfen.

Auf keinen Fall aber, das darf man mit voller Sicherheit sagen, hat unsere Partei in der Frage des Massenstreiks bisher irgend etwas versäumt. Ich weiß nicht, ob es heute noch ein Dutzend Leute in Deutschland geben wird, die behaupten werden, im März sei der Termin gewesen, den Massenstreik ums Wahlrecht zu entfesseln, und dadurch, daß das nicht geschehen, sei eine kostbare Gelegenheit versäumt worden. Und es wird auch nicht mehr Leute geben, die behaupten wollten, weil es damals nicht zum Massenstreik kam, sei der preußische Wahlrechtskampf zusammengebrochen.

Wohl macht er sich im Moment nicht bemerkbar, aber nur deshalb, weil anstelle dieses Kampfes ein anderer, nicht minder sieghafter getreten ist, der. Wahlkampf zum Reichstag. Kein Bremsen und Abwiegeln hat diese Verschiebung des Interesses bewirkt, sondern Siege, machtvolle Siege bei den Nachwahlen zum Reichstag, die in der ganzen Masse des deutschen Proletariats das Bewußtsein erweckten, der nächste Wahlkampf werde eine große Entscheidung bringen, und die sein vollstes Interesse jetzt schon darauf konzentrierten.

Nichts ist mehr imstande, unseren stolzen Vormarsch in diesem Kampf zu stören, als innerer Zwist. Die Verärgerung der Genossin Luxemburg darüber, daß unser sieghaftes Fortschreiten nicht in der von ihr vorgeschriebenen Weise vor sich geht, ist freilich ungefährlich; dieser Gemütszustand wird nur lästig dadurch, daß er Zeit und Kraft zu Diskussionen in Anspruch nimmt, die in der Weise, wie sie sie führt, unfruchtbar bleiben müssen.

Weit bedenklicher sind die Vorgänge in Baden. Aber auch damit wird unsere Partei fertig werden. Sie wird zwischen Baden und Luxemburg zum Sieg marschieren.

Wenn wir auf der Landkarte die Großherzogtümer Baden und Luxemburg ansehen, finden wir, daß zwischen ihnen Trier liegt, die Stadt, aus der Karl Marx hervorging. Geht man von dort nach links über die Grenze, so kommt man nach Luxemburg. Geht man stark nach rechts bis über den Rhein, so erreicht man Baden. Die Lage auf der Landkarte ist heute ein Symbol der Lage der deutschen Sozialdemokratie.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012