Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums


III. Das Judentum


2. Das Judentum seit dem Exil


a. Das Exil

b. Die jüdische Diaspora

c. Die jüdische Propaganda

d. Der Judenhaß

e. Jerusalem

f. Die Sadduzäer

g. Die Pharisäer

h. Die Zeloten

i. Die Essener


a. Das Exil

Anscheinend hatte Judäa nach der Zerstörung Jerusalems dasselbe Schicksal erreicht, wie die zehn Stämme Israels nach der Zerstörung Samarias. Aber was Israel aus der Geschichte verschwinden ließ, das erhob Judäa aus unbeachteter Nichtigkeit zu einem der mächtigsten Faktoren der Weltgeschichte, dank dem Umstand, daß infolge seiner größeren Entfernung von Assyrien, der natürlichen Festigkeit Jerusalems, sowie dem Einbruch nordischer Nomaden der Untergang Jerusalems 135 Jahre später eintrat als der Samarias.

Vier Generationen länger als die zehn Stämme waren die Juden jenen Einflüssen ausgesetzt, von denen wir gehandelt, die den nationalen Fanatismus aufs höchste anstachelten. Schon deshalb kamen die Juden mit weit stärkerem nationalen Empfinden ins Exil als ihre nördlichen Brüder. In derselben Richtung mußte aber auch der Umstand wirken, daß das Judentum sich im wesentlichen mir aus einer großen Stadt mit dem dazu gehörigen Landgebiet rekrutierte, indes das nördliche Reich ein Konglomerat von zehn Stämmen bildete, die keineswegs sehr eng miteinander verwachsen waren. Judäa bildete daher eine viel einheitlichere und geschlossenere Masse als Israel.

Trotzdem hätten auch die Judäer im Exil ihre Nationalität verloren, wären sie so lange unter den Fremden geblieben, wie die zehn Stämme. Der in die Fremde Verbannte mag sich dort nach der alten Heimat sehnen und in seinem neuen Wohnort nicht Wurzel fassen. Die Verbannung kann bei ihm sein nationales Empfinden noch vertiefen. Bei den Kindern, welche im Exil geboren werden, in den neuen Verhältnissen aufwachsen, die alten Verhältnisse nur aus den Erzählungen ihrer Väter kennen, wird das nationale Empfinden selten noch ein so hochgradiges sein, wenn es nicht durch Rechtlosigkeit oder schlechte Behandlung im Ausland oder die Aussicht auf baldige Rückkehr in die Heimat immer wieder wachgehalten wird. Die dritte Generation kennt dann kaum noch ihre Nationalität, wenn sie, wie gesagt, nicht ihrer Umgebung gegenüber zurückgesetzt und gewaltsam als besondere und minderwertige Nation von der übrigen Bevölkerung abgeschlossen und der Unterdrückung und Mißhandlung durch diese preisgegeben wird.

Das scheint den nach Assyrien und Babylonien Verpflanzten gegenüber nicht der Fall gewesen zu sein, und so hätten wohl auch die Juden ihre Nationalität eingebüßt und wären unter den Babyloniern aufgegangen, wenn sie mehr als drei Generationen lang unter ihnen geweilt hätten. Aber bereits bald nach der Zerstörung Jerusalems geriet das Reich der Sieger ins Wanken und faßten die Verbannten Hoffnung auf baldige Heimkehr in das Land ihrer Väter, und schon im Laufe der zweiten Generation fand diese Hoffnung ihre Erfüllung, durften die Juden aus Babylon wieder nach Jerusalem zurückkehren. Denn die Völker, die von Norden her gegen Mesopotamien gedrängt und Assyrien ein Ende bereitet hatten, kamen nicht so bald zur Ruhe. Als das kraftvollste unter ihnen erwies sich das Nomadenvolk der Perser, das den beiden Erben der assyrischen Herrschaft, den Reichen der Meder und Babylonier, den Garaus machte und das assyrisch-babylonische Reich nicht nur in neuer Form wieder aufrichtete, sondern auch enorm erweiterte, indem es Ägypten und Kleinasien dazu eroberte und ein Heerwesen sowie eine Staatsverwaltung schuf, die zum ersten Male die solide Basis eines Weltreiches bildeten, dieses dauernd zusammenhielten und in seiner Mitte dauernden Frieden bewahrten.

Die Besieger Babylons hatten keinen Grund, die von diesem Staate Besiegten und in die Fremde Verpflanzten noch weiterhin aus ihrer Heimat fernzuhalten. 538 wurde Babylon von den Persern ohne Schwertstreich erobert, ei1i Zeichen, wie schwach es sich fühlte; und schon ein Jahr später gestattete Cyrus, der Perserkönig, den Juden die Heimkehr. Nicht ganze 50 Jahre hatte ihr Exil geda1iert. Und doch hatten sich schon so viele in die neuen Verhältnisse eingewöhnt, daß nur ein Teil von der Erlaubnis Gebrauch machte, nicht wenige in Babylon blieben, wo sie sich wohler fühlten. Da unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß das Judentum völlig verschwunden wäre, wenn Jerusalem Samarias Fall geteilt hätte; wenn von seiner Zerstörung bis zur Eroberung Babylons durch die Perser 180 Jahre, nicht 50 verflossen wären.

Aber so kurz die Zeit des jüdischen Exils auch war, sie brachte die gewaltigsten Änderungen im Judentum hervor, ließ eine Reihe von Anlagen und Keimen, die die Verhältnisse in Judäa bis dahin geschaffen hatten, nun sich voll entfalten und kräftigen und gab ihnen ganz eigenartige Formen durch die eigenartige Situation, in die von jetzt an das Judentum versetzt war.

Es bestand im Exil fort als Nation, aber als eine Nation ohne Bauern, eine Nation von ausschließlich städtischer Bevölkerung. Das bildet bis heute eines der wichtigsten Merkmale des Judentums, und darin sind die wesentlichsten seiner „Rasseneigenschaften“ begründet, die tatsächlich nichts anderes darstellen, als die durch das lauge städtische Leben und den Mangel an Zuzug aus der Bauernschaft aus die Spitze getriebenen Eigenschaften des Städters, worauf ich schon 1890 hinwies. [1] Die Rückkehr aus dem Exil nach Palästina hat, wie wir noch sehen werden, nicht viel und nur vorübergehend daran etwas geändert.

Aber das Judentum wurde jetzt nicht bloß eine Nation von Städtern, sondern auch eine von Händlern. Die Industrie war in Judäa nicht sehr entwickelt, wie wir sahen; sie genügte gerade dem einfachen Hausgebrauch. Bei den industriell hochstehenden Babyloniern kam man damit nicht weit fort. Kriegsdienst und Staatsverwaltung waren durch den Verlust der Selbständigkeit den Juden verschlossen: welcher Erwerbszweig blieb den Städtern da noch übrig, als der Handel?

Hatte dieser von jeher eine große Rolle in Palästina gespielt, im Exil mußte er zum Haupterwerbszweig der Juden werden.

Mit dem Handel mußte aber auch die Intelligenz der Juden wachsen, der mathematische Sinn, das Spekulations- und Abstraktionsvermögen. Gleichzeitig bot jedoch das nationale Unglück dem vermehrten Scharfsinn edlere Objekte, als den persönlichen Profit. In der Fremde schließen sich die Nationsgenossen noch enger aneinander als daheim, das Gefühl der Zusammengehörigkeit gegenüber den Fremden ist stärker, weil der einzelne sich schwächer und bedrohter fühlt. Das soziale Empfinden, das ethische Pathos wird stärker, es befruchtete auch den jüdischen Scharfsinn zu den tiefsten Gedanken über die Ursachen des nationalen Unglücks und über die Mittel, die Nation wieder zu erheben.

Gleichzeitig mußte aber das jüdische Denken mächtig angeregt werden durch die Großartigkeit der Millionenstadt Babylon, ihren Weltverkehr, ihre uralte Kultur, ihre Wissenschaft und Philosophie. So wie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der Aufenthalt im Babel an der Seine die deutschen Denker erhob und zu ihren höchsten und besten Leistungen befähigte, so mußte der Aufenthalt im Babel am Euphrat im sechsten Jahrhundert auf die Juden aus Jerusalem wirken und ihren Horizont plötzlich ungemein erweitern.

Aber freilich, wie in allen orientalischen Handelszentren, die nicht an der Küste des Mittelmeers, sondern im Innern des Kontinents lagen, blieb aus Gründen, die wir schon entwickelt, auch in Babylon die Wissenschaft mit der Religion verquickt und an diese gefesselt. So machten sich auch im Judentum alle die neuen, gewaltigen Eindrücke in religiöser Form geltend. Ja, im Judentum mußte die Religion jetzt um so mehr in den Vordergrund treten, als nach dem Hinwegfallen der staatlichen Selbständigkeit der gemeinsame nationale Kultus das einzige Band war, das noch die Nation zusammenhielt, und das Priestertum dieses Kultus die einzige zentrale Behörde, die eine Autorität für die ganze Nation behalten hatte. Die Gentilorganisation scheint im Exil, wo die staatliche Verfassung fortfiel, neue Kraft erlangt zu haben. [2] Aber der gentile Partikularismus bildete kein Moment, das die Nation zusammenhielt. In der Religion suchte Judäa jetzt die Erhaltung und Errettung seiner Nation, und der Priesterschaft fiel mm die Führung der Nation zu.

Die Priesterschaft Judäas übernahm vom babylonischen Priestertum dessen Ansprüche, aber auch viele Kultanschauungen. Eine ganze Reihe von Sagen der Bibel sind babylonischen Ursprungs, zum Beispiel jene von der Erschaffung der Welt, dem Paradies, dem Sündenfall, dem Turmbau zu Babel, der Sintflut. Die strenge Feier des Sabbat stammt nicht minder aus Babylonien. Sie wurde erst im Exil betont.

„Der Nachdruck, welchen hiermit Ezechiel auf die Heiligung der Sabbate legt, ist etwas ganz Neues. Kein früherer Prophet betont die Sabbatfeier in dieser Weise. Denn Jeremias 17, 19 ff., ist unecht.“ [3]

Noch nach der Rückkehr aus dem Exil, im fünften Jahrhundert, machte die Durchsetzung der Sabbatruhe die größte Mühe, „da sie gegen die alten Gewohnheiten zu stark verstieß“. [4]

Aber man darf annehmen, daß das jüdische Priestertum nicht bloß populäre Sagen und Gebräuche, sondern auch eine höhere, geistigere Auffassung der Gottheit von der so hochstehenden babylonischen Priesterschaft erlegt haben wird, wenn das auch nicht direkt bezeugt ist.

Die Gottesanschauung der Israeliten war lange sehr roh geblieben. So viele Sorgfalt die späteren Sammler und Redakteure der alten Geschichten darauf verwandten, alle Reste von Heidentum daraus zu entfernen, so haben sich immer noch einige in der auf uns gekommenen Fassung dieser Geschichten erhalten.

Man erinnere sich zum Beispiel der Geschichten von Jakob. Sein Gott hilft diesem nicht bloß bei allen möglichen zweifelhaften Geschäften, er läßt sich mit Jakob in einen Ringkampf ein, in dem der Gott vom Menschen besiegt wird:

„Da rang einer mit ihm (Jakob) bis zum Anbruch der Morgenröte. Und als er sah, daß er ihn nicht bezwingen könne, schlug er ihn auf die Hüftpfanne, so daß die Hüftpfanne Jakobs verrenkt ward, während er mit ihm rang. Da sprach jener: Laß mich los, denn die Morgenröte bricht an. Er antwortete: Ich lasse dich nicht los, außer du segnest mich! Da fragte er ihn: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob! Da sprach er: Du sollst künftig nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und Menschen gekämpft und bist Sieger geblieben. Da bat Jakob: Tue mir doch deinen Namen kund! Er antwortete: Warum fragst du doch nach meinem Namen. Sodann segnete er ihn daselbst. Jakob aber nannte jene Stätte Pniel: Dem, sprach er, ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und kam doch mit dem Leben davon.“ [5]

Der große Unbekannte, mit dem Jakob siegreich rang und dem er den Segen erpreßte, war also ein Gott, bezwungen von einem Menschen, ganz so wie in der Ilias Götter und Menschen kämpfen. Aber wenn es Diomedes gelingt, den Ares zu verwunden, so hilft ihm Pallas Athene. Jakob wird mit seinem Gotte ohne Hilfe eines anderen Gottes fertig.

Finden wir bei den Israeliten sehr naive Gottesvorstellungen, so waren bei den Kulturvölkern, die sie umgaben, manche der Priesterschaften wenigstens in ihrer Geheimlehre bis zum Monotheismus gelangt.

Das fand einmal drastischen Ausdruck bei den Ägyptern.

„Wir sind zurzeit noch nicht in der Lage, alle die zahlreichen Irrgänge der Spekulation, alle Phasen, welche die Gedankenentwicklung (bei den Ägyptern) durchgemacht hat, im einzelnen darzulegen und in ihrer chronologischen Folge vorzuführen. Schließlich kommt man dahin, daß für die Geheimlehre selbst Horus und Re, der Sohn und der Vater, völlig identisch sind, daß der Gott sich selbst zeugt von seiner eigenen Mutter, der Himmelsgöttin, und diese selbst doch auch mir ein Erzeugnis, eine Schöpfung ist des einen ewigen Gottes. Klar und unzweideutig mit allen ihren Konsequenzen ausgesprochen wird diese Lehre erst zu Anfang des neuen Reiches (nach Vertreibung der Hyksos, im fünfzehnten Jahrhundert); aber begonnen hat ihre Ausbildung bereits in den dunklen Zeiten seit dem Ende der sechsten Dynastie (ums Jahr 2500), und die grundlegenden Gedanken stehen im mittleren Reiche (ums Jahr 2000) bereits völlig fest.“

„Der Ausgangspunkt der neuen Lehre ist Anu, die Sonnenstadt (Heliopolis).“ [6]

Wohl blieb diese Lehre Geheimlehre, aber einmal kam sie zu. praktischer Anwendung. Das geschah, noch ehe die Hebräer in Kanaan eingedrungen waren, unter Amenhotep IV., im vierzehnten Jahrhundert. Es scheint, daß dieser Fürst in Konflikt mit der Priesterschaft kam, deren Reichtum und Macht ihm über den Kopf zu wachsen drohte. Er wußte sich ihrer nicht anders zu erwehren, als daß er mit ihrer Geheimlehre ernst machte, den Kultus des einen Gottes befahl und alle anderen Götter erbittert verfolgte, was in der Praxis darauf hinauslief, daß er die ungeheuren Reichtümer ihrer Priesterkollegien konfiszierte.

Über die Einzelheiten jenes Kampfes zwischen Priestertum und Monarchie sind wir nicht unterrichtet. Er zog sich lange hin, aber ein Jahrhundert nach Amenhotep IV. hatte das Priestertum vollständig gesiegt und den alten Götterkult völlig wiederhergestellt.

Der ganze Vorgang zeigt, wie weit monotheistische Anschauungen in den priesterlichen Geheimlehren der Kulturzentren des alten Orient schon entwickelt waren. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß die Priester Babylons hinter denen Ägyptens zurückgeblieben waren, denen sie sich in allen Künsten und Wissenschaften ebenbürtig zeigten. So spricht auch Jeremias von einem „latenten Monotheismus“ in Babylon. Marduk, der Schöpfer Himmels und der Erde, war auch der Herr der Götter, die er „wie Schafe weidet“, oder die verschiedenen Götter waren nur besondere Erscheinungsformen des einen Gottes. So heißt es in einem babylonischen Text von den verschiedenen Göttern: „Ninib: Marduk der Kraft. Nergal: Marduk des Kampfes. Bel: Marduk der Regierung. Nabu: Marduk des Geschäfts. Sin: Marduk Erleuchter der Nacht. Samas: Marduk des Rechts. Addu: Marduk des Regens.“

Gerade zu der Zeit des jüdischen Exils, als auch bei den mit Babylon in Berührung kommenden Persern eine Art Monotheismus sich emporrang, treten Anzeichen auf, daß „in Babylonien ebenfalls ein Ansatz zu einem Monotheismus gemacht worden ist, der freilich eine starke Ähnlichkeit mit dem pharaonischen Sonnenkult Amenophis IV. (Amenhotep) gezeigt haben dürfte. Wenigstens erscheint in einer Inschrift, welche der Zeit kurz vor dem Falle Babylons angehört – ganz entsprechend der Bedeutung des Mondkultus fair Babylonien – der Mondgott in einer Rolle, wie bei Amenophis IV. der Sonnengott.“ [7]

Empfanden aber die Priesterkollegien in Babylonien wie in Ägypten das lebhafteste Interesse, ihre eventuellen monotheistischen Anschauungen dem Volke vorzuenthalten, da ihre ganze Macht und ihr ganzer Reichtum auf dem überlieferten polytheistischen Kultus beruhte, so stand es anders mit der Priesterschaft des jerusalemitischen Bundesfetischs.

Noch vor der Zerstörung Jerusalems hatte dieser an Bedeutung sehr gewonnen, seitdem Samaria zerstört, das nördlich Reich Israel untergegangen war. Jerusalem war nun die einzige größere Stadt israelitischer Nationalität geworden, das von ihr abhängige Landgebiet blieb ihr gegenüber unbedeutend. Das Ansehen des Bundesfetischs, das seit langem, vielleicht schon vor David, in Israel und besonders im Stamme Judäa groß gewesen war, mußte nun mehr und mehr alle übrigen Heiligtümer des Volkes ebenso in den Schatten stellen und verdunkeln, wie Jerusalem alle anderen Orte Judäas weit überragte. Und ebenso mußte die Priesterschaft dieses Fetischs nun eine herrschende Stellung gegenüber den anderen Priestern im Lande erlangen. Ein Kampf zwischen Landpfaffen und dem Pfaffentum der Hauptstadt entspann sich, der vielleicht schon vor dem Exil dahin führte, daß der Fetisch von Jerusalem eine Monopolstellung erhielt. Das besagt wenigstens die Geschichte vom Deuteronomium, dem „Buche der Lehre“, das im Jahre 621 ein Priester im Tempel „gefunden“ haben wollte. Es enthielt den göttlichen Befehl, alle Kultstätten außerhalb Jerusalems zu vernichten, welchem Befehl der König Josias denn auch getreulich gehorchte:

„Und er beseitigte die Götzenpriester, welche die Könige von Judäa eingesetzt und die dann auf den Höhen, in den Städten Judäas und in der Umgebung von Jerusalem geräuchert hatten, sowie die, welche dem Baal, der Sonne und dem Monde, den Tierkreisbildern und dem ganzen Heere des Himmels räucherten ... Und er ließ alle Priester kommen aus den Städten Judäas und verunreinigte die Opferhöhen, wo die Priester geräuchert hatten, von Geba an bis nach Beerseba ... Auch den Altar zu Bethel, die Höhe, die Jerobeam, der Sohn Nebats, gemacht hatte, der Israel zur Sünde verleitete, auch diesen Altar samt der Höhe zerstörte er und verbrannte die Höhe und zermalmte sie zu Staub.“ [8]

Nicht nur die Kultstätten ausländischer Götter, nein, auch solche Jahves selbst, die ältesten seiner Altäre, wurden so entweiht und vernichtet.

Vielleicht ist indes diese ganze Erzählung, wie so manche andere der Bibel, nur eine Fälschung der nachexilischen Zeit, ein Versuch, Vorgänge, die sich nach dem Exil vollzogen, dadurch zu rechtfertigen, daß man sie als Wiederholungen früherer Vorgänge hinstellte, Präzedenzfälle für sie erfand oder doch übertreibend aufbauschte. Auf jeden Fall kann man annehmen, daß schon vor dem Exil Eifersüchteleien zwischen den Pfaffen der Hauptstadt und denen der Provinz bestanden, die zeitweise zur Schließung unbequemer Konkurrenzheiligtümer führten, Für die Juden im Exil, bei denen die aus Jerusalem Stammenden überwogen, ergab sich dann leicht die Anerkennung der Monopolstellung des Tempels von Jerusalem. Unter dem Einfluß einerseits babylonischer Philosophie, andererseits des nationalen Unglücks, endlich vielleicht auch der persischen Religion, die sich ungefähr gleichzeitig mit der jüdischen in gleicher Richtung entwickelte und sich mit ihr begegnete, ihr Anregungen gebend, vielleicht auch solche von ihr empfangend – unter der Einwirkung aller dieser Einflüsse nahm das von Jerusalem mitgebrachte Streben der Priesterschaft nach einem Monopol ihres Fetischs die Richtung auf einen ethischen Monotheismus an, in dem Jahve nicht mehr bloß als der besondere Stammgott Israels, sondern als der einzige Gott der Welt, die Personifizierung des Guten, der Inbegriff aller Sittlichkeit erschien.

Als dann die Juden aus dem Exil wieder nach Jerusalem zurückkehrten, hatte ihre Religion sich so hoch entwickelt und vergeistigt, daß ihnen die groben Vorstellungen und Kultusarten der zurückgebliebenen jüdischen Bauern als abstoßender heidnischer Greuel erscheinen mußten. Wenn es nicht früher schon geschehen war, so konnten jetzt die Priester und Herren Jerusalems es durchsetzen, jenen provinzialen Konkurrenzkulten definitiv ein Ende zu machen und das Monopol der Priesterschaft Jerusalems dauernd zu begründen.

So erstand der jüdische Monotheismus. Er war ethischer Natur, ebenso wie zum Beispiel der der platonischen Philosophie. Aber bei den Juden erstand der neue Gottesbegriff nicht wie bei den Griechen außerhalb der Religion, er wurde nicht getragen von einer Klasse, die außerhalb des Priestertums stand. So erschien der eine Gott nicht als ein neuer Gott, der über und außerhalb der alten Götterwelt stand, sondern als Reduzierung der alten Göttergesellschaft auf den einen mächtigsten und für die Bewohner Jerusalems am nächsten stehenden Gott, den alten kriegerischen, nichts weniger als ethischen Stamm- und Lokalgott Jahve.

Das brachte in die jüdische Religion eine Reihe arger Widersprüche. Als ethischer Gott ist Jahve Gott der gesamten Menschheit, denn das Gute und Böse sind Begriffe, die absolut aufgefaßt werden, als für alle Menschen in gleicher Weise gültig. Und als ethischer Gott, als Personifizierung der sittlichen Idee, ist der eine Gott überall, wie man die Sittlichkeit als überall geltend ansieht. Aber dem babylonischen Judentum war die Religion, war der Jahvekultus auch das stärkste nationale Band; und jede Möglichkeit des Wiedererstehens der nationalen Selbständigkeit war untrennbar an die Wiederherstellung Jerusalems geknüpft. Die Aufrichtung des Tempels zu Jerusalem, und dann seine Erhaltung, das wurde die Parole zur Sammlung der jüdischen Nation. Die Priesterschaft dieses Tempels war gleichzeitig zur höchsten nationalen Obrigkeit der Juden geworden, jene Klasse, die alles Interesse an der Erhaltung des Kultusmonopols dieses Tempels hatte. So blieb in sonderbarer Weise mit der hohen philosophischen Abstraktion des einen allgegenwärtigen Gottes, der nur nach reinem Herzen und sündlosem Lebenswandel verlangt, nicht nach Opfern, der alte primitive Fetischismus verbunden, der den Gott an einem bestimmten Punkt lokalisierte, wo allein auf die Gottheit erfolgreich durch Darbietungen aller Art eingewirkt werden konnte. Der Tempel Jerusalems blieb der ausschließliche Sitz Jahves nach dem jeder fromme Jude sich zu wenden hatte, dem seine Sehnsucht galt.

Nicht minder sonderbar war der andere Widerspruch, daß Gott als Inbegriff der für alle Menschen gleichen sittlichen Forderungen nun der Gott aller Menschen wurde und doch der jüdische Stammgott blieb. Den Widerspruch suchte man dadurch zu lösen, daß Gott zwar der Gott aller Menschen war, alle Menschen verpflichtet waren, ihn zu lieben und zu verehren, aber die Juden das einzige Volk, das er zur Bekundung dieser Liebe und Verehrung auserwählt, dem er seine Herrlichkeit geoffenbart hatte, indes er die Heiden in Bundheit ließ. Gerade im Exil, in der Zeit der tiefsten Erniedrigung und Verzweiflung, taucht diese stolze Überhebung über die übrige Menschheit auf. Früher war Israel ein Volk gewesen wie die anderen Völker auch, und Jahve ein Gott wie die anderen; vielleicht stärker als die anderen Götter, wie man auch der eigenen Nation den Vorzug vor den anderen gab, aber doch nicht der einzig wirkliche Gott und Israel nicht einzig im Besitz der Wahrheit.

„Der Gott Israels war nicht der Allmächtige, sondern nur der Mächtigste unter den Göttern. Er stand neben ihnen und hatte mit ihnen zu kämpfen; Kamos und Dagon und Hadad waren ihm durchaus vergleichbar, minder mächtig, aber nicht minder real wie er selber.‚Was euer Gott Kamos euch zu erobern gegeben hat‘, läßt Jephtha den die Grenze verletzenden Nachbarn sagen, ‚das gehört euch, und was unser Gott Jahve für uns erobert hat, das besitzen wir.‘ Die Gebiete der Götter scheiden sich ebenso wie die der Völker, und der eine hat in des anderen Land kein Recht.“ [9]

Ganz anders jetzt. Der Verfasser von Jesaja, 40 ff., der am Ende des Exils oder kurz danach schrieb, läßt Jahve verkünden:

„Ich bin Jahve, dies ist mein Name; und ich will meine Herrlichkeit keinem anderen abtreten, noch den Götzen meinen Ruhm ... Singet Jahve ein neues Lied, verkündet seinen Ruhm bis an der Erde Grenzen, ihr, die ihr das Meer durchschiffet und seine Fülle, ihr fernen Inseln und seine Bewohner. Laut singe die Wüste und ihre Städte, die Dörfer, von Kedarenern bewohnt. Jubeln sollen die Felsenbewohner, sollen aufjauchzen von der Höhe der Berge herab. Jahve sollen sie die Ehre geben und sein Lob in fernen Ländern verkünden.“ [10]

Da ist von keiner Beschränkung auf Palästina oder gar auf Jerusalem die Rede. Aber derselbe Verfasser läßt Jahve sagen:

„Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich auserwählte, Geschlecht Abrahams, meines Freundes! Du, den ich von der Erde Grenzen herbeigeholt und aus ihren entlegensten Gegenden berufen habe, zu dem ich sprach: Du sollst mein Knecht sein, dich habe ich auserwählt und dich nicht verschmäht. Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, verzage nicht, ich bin dein Gott! ... Vernichtet werden, die dich bekriegen, denn ich bin Jahve, dein Gott! ... Ich bin der erste, der Zion verkündigt: Siehe, da sind sie, deine Kinder! Und Jerusalem sende ich einen Heilsverkünder.“ [11]

Das sind sonderbare Widersprüche, aber Widersprüche, die aus dem Leben entspringen, aus der widerspruchsvollen Lage der Juden in Babylon, die da in eine neue Kultur hineinversetzt wurden, deren gewaltige Eindrücke ihr ganzes Denken revolutionierten, indes doch alle ihre Lebensbedingungen sie nach Erhaltung der alten Traditionen drängten, als dem einzigen Mittel, sich ihre nationale Existenz zu erhalten, die gerade ihnen so ans Herz gewachsen war; hatte doch in ihnen eine jahrhundertelange qualvolle Situation das nationale Empfinden besonders lebhaft und energisch entfaltet.

Die neue Ethik mit dem alten Fetischismus zu vereinbaren; die Lebens- und Weltweisheit des weiten, .viele Völker umfassenden Kulturkreises, der seinen Mittelpunkt in Babylon fand, mit der Beschränktheit eines fremdenfeindlichen Bergvölkchens zu versöhnen, das wurde nun die Aufgabe der Denker des Judentums. Und diese Versöhnung sollte geschehen auf dem Boden der Religion, also des überlieferten Glaubens. Es galt daher nachzuweisen, daß das Neue nicht neu, sondern uralt sei, daß die neue Wahrheit der Fremdlinge, der man sich nicht verschließen konnte, weder neu noch fremd, sondern echt jüdischer Besitz sei, durch dessen Anerkennung das Judentum seine Nationalität nicht im babylonischen Völkerbrei aufgehen lasse, sondern vielmehr von neuem bekräftige und abschließe.

Diese Aufgabe war wohl geeignet, den Scharfsinn zu stählen, die Kunst des Auslegens und Tüftelns zu entwickeln, die von da an gerade im Judentum zu solcher Vollkommenheit entwickelt wurde. Sie gab aber auch der historischen Literatur der Juden ihr besonderes Gepräge.

Es vollzog sich jetzt ein Prozeß, der öfters vor sich ging, den Marx klargelegt hat bei der Untersuchung der Anschauungen des achtzehnten Jahrhunderts vom Naturzustand. Er sagt darüber:

„Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen des achtzehnten Jahrhunderts. Es sind Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Überverfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandenen Naturleben ausdrücken. Sowenig wie Rousseaus ‚contrat social‘, der die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus beruht. Dies ist der Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden.“

Was ihnen wirklich zugrunde liegt, das ist

„vielmehr die Vorwegnahme der‚bürgerlichen Gesellschaft‘, die seit dem sechzehnten Jahrhundert sich vorbereitete und im achtzehnten Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsperioden zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten, menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten des achtzehnten Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehen, schwebt dieses Individuum des achtzehnten Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem sechzehnten Jahrhundert neu entwickelten Produktionskräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangene sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als ein Ausgangspunkt der Geschichte. Weil dies Individuum als das Naturgemäße erschien und ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur entsprach, erschien es nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuen Epoche bisher eigen gewesen.“ [12]

In dieser Täuschung befanden sich auch die Denker, die im Exil und nach dem Exil den Gedanken des Monotheismus und der Priesterherrschaft im Judentum entwickelten. Er erschien ihnen nicht als ein geschichtlich entstandener, sondern als ein von Anfang an gesetzter, nicht „als historisches Resultat“, sondern als „Ausgangsp1inkt der Geschichte“. Diese selbst wurde nun in dem gleichen Sinne aufgefaßt und um so leichter den neuen Bedürfnissen angepaßt, je mehr sie bloße mündliche Überlieferung, je weniger sie dokumentarisch beglaubigt war. Der Glaube an den einen Gott und die Beherrschung Israels durch die Priester Jahves wurde nun in den Anfang der Geschichte Israels gesetzt; der nicht wegzuleugnende Polytheismus und Fetischischmus erschien als späterer Abfall vom Glauben der Väter, nicht als dieser ursprüngliche Glaube, der er tatsächlich war.

Und diese Auffassung hatte noch den großen Vorteil, daß ihr ebenso wie der Selbstproklamierung als auserwähltes Volk Gottes etwas ungemein Tröstliches innewohnte. War Jahve nur der Stammgott Israels gewesen, dann bedeuteten die Niederlagen des Volkes ebenso viele Niederlagen seines Gottes, dann erwies sich dieser als der Schwächere im Kampfe mit anderen Göttern, dann hatte man alle Ursache, an Jahve und seinen Priestern zu zweifeln. Ganz anders, wenn es außer Jahve keinen anderen Gott gab, wenn dieser die Israeliten vor anderen Völkern auserwählt hatte und sie dafür mit Undank und Abfall lohnten. Nun erschienen alle Trübsale Israels und Judäas als ebenso viele gerechte Strafen für seine Sünden, für seine Mißachtung der Priester Jahves, als Beweise nicht der Schwäche, sondern des Zornes Gottes, der nicht ungestraft seiner spotten läßt. Darin war aber auch die Überzeugung begründet, Gott werde sich seines Volkes wieder erbarmen, es erretten und erlösen, sobald es n,ur das rechte Zutrauen zu ihm und seinen Priestern und Propheten faßte. Sollte das nationale Leben nicht ersterben, dann war ein solcher Glaube um so notwendiger, je hoffnungsloser die Lage des kleinen Völkchens, des „Würmlein Jakob, des armen Häuflein Israel“ (Jesaja 41, 14) inmitten der feindlichen, übermächtigen Gewalten war.

Nur eine übernatürliche, übermenschliche, göttliche Kraft, ein von Gott gesandter Heiland, Messias, konnte noch Judäa erlösen, befreien und schließlich zum Herrn über die Völker machen, die es jetzt mißhandelten. Der Messiasglaube kommt gleichzeitig mit dem Monotheismus auf und ist mit ihm innig verbunden. Aber eben deshalb wird der Messias nicht als Gott gedacht, sondern als von Gott gesandter Mensch. Er sollte ja auch ein irdisches Reich errichten, nicht ein Gottesreich, so abstrakt war das jüdische Denken doch noch nicht geworden, sondern ein Judenreich. In der Tat wird schon Cyrus, der die Juden aus Babylonier entläßt und nach Jerusalem zurücksendet, als Gesalbter Jahves, Messias, Christus bezeichnet (Jesaja 45, 1).

Nicht auf einmal und nicht in friedlicher Weise kann sich diese Umbildung des jüdischen Denkens vollzogen haben, die im Exil ihren stärksten Anstoß erhielt, aber sicher nicht dort schon zum Abschluß kam. Wir müssen uns vorstellen, daß sie sich äußerte in kraftvollen Polemiken nach Art der Propheten, in tiefsinnigen Zweifeln und Grübeleien, nach Art des Buches Hiob, und endlich in historischen Darstellungen nach Art der verschiedenen Bestandteile der fünf Bücher Mosis, die in jener Zeit niedergeschrieben wurden.

Erst lange nach dem Exil kam diese revolutionäre Periode zu einem Abschluß. Bestimmte dogmatische, kultliche, juristische und historische Anschauungen rangen sich siegreich durch, wurden von der Priesterschaft, die zur Beherrschung des Volkes gelangt war, und von dessen Masse selbst als die richtigen anerkannt. Bestimmten Schriften, welche diesen Anschauungen entsprachen, verlieh man nun den Charakter von uralten und heiligen und überlieferte sie als solche der Nachwelt. Dabei mußte man trachten, durch durchgreifende „Redaktionen“, Streichungen und Einfügungen Einheit in die verschiedenen Bestandteile dieser immer noch widerspruchsvollen Literatur zu bringen, die in buntester Mannigfaltigkeit Altes und Neues, richtig Verstandenes und Unverstandenes, Echtes und Erfundenes vereinigte. Trotz aller dieser „Redakteursarbeit“ ist indes zum Glück in dem Resultat, dem „Alten Testament“, noch genug Ursprüngliches erhalten geblieben, daß man daraus wenigstens zur Not unter dem Wust überwuchernder Fälschungen den Charakter des alten, vorexilischen Hebräertums in seinen Grundzügen erkennen kann, jenes Hebräertums, zu dem das neue Judentum nicht nur die Fortsetzung, sondern auch den vollendeten Gegensatz bildete.


b. Die jüdische Diaspora

Im Jahre 538 erhielten die babylonischen Juden von Cyrus die Erlaubnis, nach Jerusalem heimzukehren. Aber wir hoben bereits gesehen, daß keineswegs alle von dieser Erlaubnis Gebrauch machten. Wovon hätten sie auch alle dort leben sollen? Die Stadt war verwüstet, und es brauchte einige Zeit, bis man sie wieder wohnlich gemacht, befestigt und den Tempel Jahves aufgebaut hatte. Aber auch dann noch bot sie lange nicht allen Juden die Möglichkeit eines lohnenden Erwerbs. Damals schon wie heute ging wohl der Bauer gern in die Stadt, war dagegen der Übergang des Städters zur Landwirtschaft etwas ebenso Schwieriges wie Seltenes.

Industrielle Geschicklichkeit hatten die Juden in Babylon kaum erworben, vielleicht waren sie zu kurze Zeit dort gewesen. Judäa erlangte keine staatliche Selbständigkeit, blieb abhängig von den fremden Eroberern, zunächst den Persern, dann, seit Alexander dem Großen, von den Griechen, schließlich, nach einer kurzen Zwischenperiode der Selbständigkeit und mannigfacher verheerender Umwälzungen, kam es unter die Oberherrschaft der Römer. Für eine kriegerische Monarchie, die durch Unterjochung und Plünderung schwächerer Nachbarn Reichtum erwarb, fehlten da in der Regel alle Bedingungen.

War im Ackerbau, der Industrie, dem Kriegsdienst für die Juden nach dem Exil nicht viel zu holen, so blieb der Mehrzahl von ihnen, wie in Babylon, kein anderer Erwerbszweig übrig, als der Handel. Ihm ergaben sie sich um so lieber, als sie die dazu erforderlichen geistigen Fähigkeiten und Kenntnisse seit Jahrhunderten entwickelt hatten. Aber gerade seit der babylonischen Gefangenschaft vollzogen sich Umwälzungen in der Politik und im Handel, die für die kommerzielle Stellung Palästinas sehr verhängnisvoll wurden.

Bäuerliche Landwirtschaft und auch Handwerk sind höchst konservative Erwerbszweige. Nur selten werden in ihnen technische Fortschritte gemacht, nur langsam bürgern sich solche ein, solange der Stachel der Konkurrenz fehlt, wie das bei primitiven Verhältnissen der Fall ist und solange bei normalem Laufe der Dinge, also abgesehen von Mißernten, Seuchen, Kriegen und ähnlichen Massenunglücken, jeder Arbeiter, der in der herkömmlichen Weise wirtschaftet, seines Brotes sicher ist, indes das Neue, also auch Unerprobte, Ursache von Mißerfolgen und Verlusten werden kann.

Technische Fortschritte in bäuerlicher Landwirtschaft und im Handwerk entspringen da in der Regel nicht aus diesen Gebieten selbst, sondern aus dem Handel, der vom Ausland neue Produkte, neue Verfahrungsarten bringt, die zum Denken anregen und schließlich neue vorteilhafte Kulturen und Methoden erzeugen.

Weit weniger konservativ ist der Handel, der von vornherein über die lokale und berufliche Beschränktheit erhaben ist, von vornherein kritisch gegen das zu Hause Überlieferte, weil er es vergleichen und messen kann mit dem an anderen Orten unter anderen Verhältnissen Erreichten. Und früher als der Landwirt und der Handwerker unterliegt der Kaufmann dem Drucke der Konkurrenz, da er in den großen Zentren des Handels mit Konkurrenten der verschiedensten Nationen zusammentrifft. So wird er bald gedrängt, immer wieder nach Neuem zu streben, vor allem nach Verbesserung der Verkehrsmittel und nach Erweiterung des Kreises der Handelsbeziehungen. Solange Landwirtschaft und Industrie nicht kapitalistisch betrieben und nicht auf wissenschaftlicher Grundlage aufgebaut werden, ist es einzig der Handel, der ein revolutionäres Element in der Ökonomie bildet. Namentlich aber wirkt in dieser Weise der Seehandel. Die Seeschiffahrt ermöglicht es, größere Strecken zu durchmessen, verschiedenartigere Völker miteinander in Berührung zu bringen als der Landhandel. Das Meer trennt ja ursprünglich die Völker mehr als das Land und macht die Entwicklung jedes derselben von den anderen unabhängiger und eigenartiger. Wenn dann die Seeschiffahrt sich entwickelt, und die bis dahin getrennten Völker in Berührung miteinander kommen, stoßen oft viel größere Gegensätze aufeinander wie beim Landhandel. Die Seeschiffahrt stellt aber auch größere Anforderungen an die Technik; der Seehandel entwickelt sich viel später als der Landhandel, denn ein seetüchtiges Schiff zu bauen, erfordert eine weit größere Beherrschung der Natur, als etwa ein Kamel oder einen Esel zu zähmen. Andererseits werden gerade die großen Profite des Seehandels, die nur auf der Grundlage einer hohen Technik des Schiffbaues erreichbar sind, einer der stärksten Antriebe, diese Technik zu entwickeln. Vielleicht auf keinem anderen Gebiet entwickelte sich die Technik des Altertums so rasch und feierte solche Triumphe, wie auf dem des Schiffbaues.

Der Seehandel schränkt den Landhandel keineswegs ein. Im Gegenteil, er fördert ihn. Soll eine Hafenstadt gedeihen, dann bedarf sie in der Regel eines Hinterlandes, von dem ihr die Waren zugeführt werden, welche sie verschifft, das ihr aber auch die Waren abnimmt, welche die Schiffe ihr bringen. Sie muß bestrebt sein, zugleich mit dem Seeverkehr auch den Landverkehr zu entwickeln. Dabei gewinnt jedoch der erstere immer mehr an Bedeutung, er wird der entscheidende und der letztere von jenem abhängig. Ändern sich die Pfade des Seeverkehrs, so müssen sich nun auch die Pfade des Landverkehrs ändern.

Die ersten Seefahrer auf weiteren Strecken im Mittelmeer lieferte Phönizien, zwischen den alten Kulturländern am Nil und Euphrat gelegen und an deren Verkehr teilnehmend. Dies Land lag ebenso am Mittelmeer, wie das der Ägypter. Aber das der letzteren forderte vornehmlich zum Ackerbau auf, dessen Produktion dank der Überschwemmung des Nil unerschöpflich war, nicht zur Seeschiffahrt. Dazu mangelte ihm das nötige Schiffbauholz, jedoch auch der Drang der Not, die anfangs allein den Menschen veranlassen kann, sich den Gefahren der offenen See auszusetzen. So hohe Ausbildung die Flußschiffahrt der Ägypter erlangte, ihre Seeschiffahrt blieb Küstenschiffahrt auf kurze Strecken. Sie entwickelten die Landwirtschaft und die Industrie, namentlich die Weberei, und ihr Handelsverkehr blühte. Aber sie zogen nicht als Handelsleute in die Fremde, sondern warteten, daß die Fremden mit ihren Waren zu ihnen kamen. Die Wüste und das Meer blieben ihnen feindliche Elemente.

Die Phönizier dagegen wohnten an einer Seeküste, die sie ins Meer hinausdrängte, da sie dicht an einem felsigen Gebirge lag, das nur dürftigen Ackerbau ermöglichte und zwang, dessen unzureichende Ergebnisse durch Fischfang zu ergänzen, das außerdem ausgezeichnetes Holz zum Schiffbau lieferte. Damit waren Bedingungen gegeben, die die Phönizier aufs Meer hinaustrieben. Ihre Lage zwischen den Gebieten entwickeltster Industrie bot dann den Anreiz, die Ausfahrten zum Fischfang zu Ausfahrten für den Handelsverkehr zur See zu erweitern. So wurden sie zu den Trägern indischer, arabischer, babylonischer, ägyptischer Produkte, namentlich Textilarbeiten und Gewürze, nach dem Westen, von dem sie wieder Produkte anderer Art, namentlich Metalle, holten.

Aber mit der Zeit erstanden ihnen gefährliche Konkurrenten in den Griechen, den Bewohnern von Inseln und Küsten, deren Ackerland fast ebenso dürftig war wie das Phöniziens, so daß sie ebenfalls zu Fischerei und Schiffahrt getrieben wurden. Immer gewaltiger erwuchs diese und wurde den Phöniziern immer furchtbarer. Zunächst suchten die Griechen die Phönizier zu umgehen und neue Wege nach dem Orient zu gewinnen. Sie gingen in das Schwarze Meer, von dessen Häfen aus über Zentralasien ein Verkehr mit Indien hergestellt wurde. Und zugleich suchten sie Verbindungen mit Ägypten anzuknüpfen, dieses dem Seehandel zu erschließen. Kurz vor der Zeit der babylonischen Gefangenschaft der Juden gelang dies den Ioniern und Karern. Seit Psammetich (663) fassen sie festen Fuß in Ägypten, das sie als Handelsleute immer mehr überschwemmen. Unter Amasis (569 bis 525) erhielten sie schon ein Gebiet am westlichen Nilarm, um dort eine eigene Hafenstadt nach ihrer Weise zu gründen, Naukratis. Es sollte den alleinigen Mittelpunkt des griechischen Handels bilden. Bald darauf erlag Ägypten, wie früher schon Babylonien, den Persern, 525. Aber die Stellung der Griechen in Ägypten erlitt dadurch keine Einbuße. Den Fremden wurde vielmehr nun der Verkehr mit ganz Ägypten völlig freigegeben, und daraus zogen die Griechen den Hauptvorteil. Sobald das persische Regime erschlaffte, der kriegerische Sinn des ehemaligen Nomadenvolkes im Großstadtleben verweichlichte, empörten sich die Ägypter und suchten ihre Unabhängigkeit wieder zu gewinnen, wobei sie eine Zeitlang Erfolg hatten (von 404 bis 342). Auch das wieder vermochten sie nur mit Hilfe der Griechen, die inzwischen so erstarkt waren, daß sie die machtvollen Perser zu Wasser und zu Lande zurückgeschlagen und mit diesen auch deren Untertanen, die Phönizier, zurückgedrängt hatten. Unter Alexander von Mazedonien ergreift dann das Griechentum, seit 334, die Offensive gegen das persische Reich, annektiert es und macht der Herrlichkeit der phönizischen Städte, die schon lange im Niedergang war, völlig ein Ende.

Noch rascher als der Handel Phöniziens hatte der Palästinas abgenommen, hatte sich der Welthandel von den Straßen Palästinas abgewendet, sowohl der Export Indiens, wie der Babyloniens, Arabiens, Äthiopiens und Ägyptens. Palästina blieb als Grenzland zwischen Ägypten und Syrien der Schauplatz, auf dem sich die Kriege zwischen den Herren Syriens und denen Ägyptens am ehesten abspielten, aber der Handel zwischen diesen Gebieten ging nun übers Meer am Lande vorüber. Palästina hatte von seiner Zwischenstellung nur noch alle Nachteile bewahrt, alle Vorteile dagegen verloren. Während die Masse der Juden immer mehr auf den Handel als Erwerbszweig hingewiesen wurde, verminderte sich immer mehr die Möglichkeit für sie, in ihrem Lande Handel zu treiben.

Da also der Handel nicht zu ihnen kam, so wurden sie getrieben, dem Handel nachzugehen ins Ausland zu solchen Völkern, die nicht eine handeltreibende Klasse aus sich erzeugten, sondern die Ausländer als Kaufleute zu sich kommen ließen. Solcher Völker gab es nicht wenige. Wo der Landbau die Masse des Volkes ernährte, wo er nicht einer Ergänzung durch nomadische Viehzucht oder Fischerei bedurfte und die Aristokratie durch Anhäufung von Latifundien zu Hause und durch Kriege nach außen ihrem Expansionsdrang genügte, zog man es vor, die Händler zu sich kommen zu lassen, statt selbst ins Ausland zu ziehen, um von dort fremde Waren zu holen. So hatten es, wie wir eben gesehen, die Ägypter gehalten, so hielten es, wie wir auch schon wissen, die Römer. Hier wie dort waren die Händler Ausländer, namentlich Griechen und Juden. In solchen Ländern gediehen sie am besten.

So kommt es zur Diaspora, zur Zerstreuung der Juden außerhalb ihrer Heimat, gerade in der Zeit nach dem babylonischen Exil, gerade von da an, wo ihnen die Heimkehr in ihre Heimat wieder gestattet war. Diese Zerstreuung war eben nicht die Folge eines Gewaltaktes, wie die Zerstörung Jerusalems, sondern die Folge einer unmerklichen Umwälzung, die damals begann, der Veränderung der Handelswege. Und da die Wege des Welthandels seitdem bis heute Palästina gemieden haben, wird es auch bis heute von der Masse der Juden gemieden, selbst wenn ihnen die Freiheit der Niederlassung im Lande ihrer Väter geboten wird. Daran wird aller Zionismus nichts ändern, solange er nicht die Macht besitzt, das Zentrum des Welthandels nach Jerusalem zu verlegen.

Ihre größten Ansammlungen erwuchsen dort, wo der stärkste Handelsverkehr flutete und die größten Reichtümer zusammenströmten, in Alexandrien und später in Rom. Nicht nur an Zahl nahmen die Juden dort zu, sondern auch an Reichtum und Macht. Ihr starkes nationales Empfinden gab ihnen auch einen starken Zusammenhalt, der um so kraftvoller wirkte je mehr in den Zeiten allgemeiner und zunehmender gesellschaftlicher Zersetzung der letzten Jahrhunderte vor Christo die allgemeinen gesellschaftlichen Bande sich lockerten und auflösten. Und da die Juden gleichzeitig in allen Handelszentren der damaligen hellenischen und römischen Kulturwelt zu finden waren, erstreckte sich ihr inniger Zusammenhalt über deren ganzen Bereich, bildeten sie eine Internationale, die jedem ihrer Mitglieder, wo immer es hinkommen mochte, auf das tatkräftigste beistand. Nehmen wir dazu ihre durch so viele Jahrhunderte gebildeten kommerziellen Fähigkeiten, die sie seit dem Exil einseitig auf schärfste entwickelten, dann begreift man diese Zunahme ihrer Macht und ihres Reichtums.

Von Alexandrien sagt Mommsen, daß es

„fast ebensosehr eine Stadt der Juden war, wie der Griechen, die dortige Judenschaft an Zahl, Reichtum, Intelligenz, Organisation der jerusalemitischen mindestens gleich zu achten. In der ersten Kaiserzeit rechnete man auf 8 Millionen Ägypter eine Million Juden, und ihr Einfluß reichte vermutlich über dieses Zahlenverhältnis hinaus ... Ihnen und nur ihnen wird es gestattet, sozusagen eine Gemeinde in der Gemeinde zu bilden und, während die übrigen Nichtbürger von den Behörden der Bürgerschaft regiert werden, bis zu einem gewissen Grade sich selbst zu regieren.“

„‚Die Juden,‘ sagt Strabo, ‚haben in Alexandria ein eigenes Volkshaupt, welches dem Volke vorsteht und die Prozesse entscheidet und über die Verträge und Ordnungen verfügt, als beherrsche es eine selbständige Gemeinde.‘ Es geschah dies, weil die Juden eine derartige spezifische Jurisdiktion als durch ihre Nationalität oder, was auf dasselbe hinauskommt, ihre Religion gefordert bezeichneten. Weiter nahmen die allgemeinen staatlichen Ordnungen auf die national-religiösen Bedenken der Juden in ausgedehntem Umfang Rücksicht und halfen nach Möglichkeit durch Exemtionen aus. Das Zusammenwohnen trat wenigstens häufig hinzu; in Alexandrien zum Beispiel waren von den fünf Stadtquartieren zwei vorwiegend von Juden bewohnt.“ [13]

Nicht bloß zu Reichtum gelangten alexandrinische Juden, sondern auch zu Ansehen und Einfluß auf die Beherrscher der Welt.

Eine bedeutende Rolle spielte zum Beispiel der Oberzollpächterder arabischen Seite des Nil, der Alabarche Alexander. Agrippa, der später König Judäas wurde, pumpte ihn zur Zeit des Tiberius um ein Darlehen von 200.000 Drachmen an. Alexander gab ihm bar 5 Talente und eine Anweisung auf Auszahlung des Restes in Dikäarchia. [14] Das bezeugt die enge Geschäftsverbindung zwischen den Juden in Alexandrien und denen Italiens. In Dikäarchia oder Puteoli bei Neapel bestand eine starke Judengemeinde. Von demselben alexandrinischen Juden berichtet Josephus weiter:

„Er, der Kaiser Claudius, ließ den Alabarchen Alexander Lysimachus, seinen alten, guten Freund, der seiner Mutter Antonia Verwalter gewesen und von Cajus ins Zorn ins Gefängnis gesetzt worden war, wieder los. Desselbigen Sohn Marcus vermählte sich nachher mit des Königs Agrippa Tochter Berenike“. [15]

Was von Alexandrien, gilt auch von Antiochien:

„Wie in der Hauptstadt Ägyptens ist auch in derjenigen Syriens den I1iden ein gewissermaßen selbständiges Gemeinwesen und eine privilegierte Stellung eingeräumt worden, und ihre Stellung als Zentren der jüdischen Diaspora ist nicht das schwächste Element in der Entwicklung der beiden Städte geworden“. [16]

In Rom läßt sich die Anwesenheit von Juden bis in das zweite Jahrhundert vor Christi zurückverfolgen. Schon 139 v. Chr. wies der römische Fremdenprätor Juden aus, die zu ihrem Sabbat italische Proselyten zugelassen hatten. Vielleicht waren das Mitglieder einer Gesandtschaft, die Simon Makkabäus ausgesandt hatte, das Wohlwollen der Römer zu gewinnen, und die die Gelegenheit benutzten, für ihre Religion Propaganda zu machen. Bald aber finden wir Juden in Rom ansässig, und die dortige Judengemeinde wurde sehr verstärkt, als Pompejus 63 v. Chr. Jerusalem eroberte. Er brachte zahlreiche kriegsgefangene Juden nach Rom, die dann als Sklaven oder Freigelassene dort lebten. Die Gemeinde gewann bedeutenden Einfluß. Um das Jahr 60 beschwerte sich Cicero, daß ihre Macht sogar auf dem Forum wirksam sei. Sie stieg noch unter Cäsar. Mommsen stellt das in folgender Weise dar:

„Wie zahlreich selbst in Rom die jüdische Bevölkerung bereits vor Cäsar war und zugleich wie landsmannschaftlich eng die Juden auch damals zusammenhielten, beweist die Bemerkung eines Schriftstellers dieser Zeit, daß es für den Statthalter bedenklich sei, den Juden in seiner Provinz nahezutreten, weil er dann sicher darauf zählen dürfe, nach seiner Heimkehr von dem hauptstädtischen Pöbel ausgepfiffen zu werden. Dies Judentum, obwohl nicht der erfreulichste Zug in dem nirgends erfreulichen Bilde der damaligen Völkermengung, war nichtsdestoweniger ein im natürlichen Verlauf der Dinge sich entwickelndes geschichtliches Moment, das der Staatsmann weder sich ableugnen noch bekämpfen durfte und dem Cäsar vielmehr, eben wie sein Vorgänger Alexander von Mazedonien), in richtiger Erkenntnis möglichst Vorschub tat. Wenn Alexander, der Stifter des alexandrinischen Judentums, damit nicht viel weniger für die Nation tat wie ihr eigener David durch den Tempelbau von Jerusalem, so förderte auch Cäsar die Juden in Alexandria wie in Rom durch besondere Begünstigungen und Vorrechte und schützte namentlich ihren eigentümlichen Kult gegen die römischen wie gegen die griechischen Lokalpfaffen. Die beiden großen Männer dachten natürlich nicht daran, der hellenischen oder italisch:hellenischen Nationalität die jüdische ebenbürtig zur Seite zu stellen. Aber der Jude, der nicht wie der Okzidentale die Pandoragabe politischer Organisation empfangen hat und gegen den Staat sich wesentlich gleichgültig verhält; der ferner ebenso schwer den Kern seiner nationalen Eigentümlichkeiten aufgibt, als bereitwillig denselben mit jeder beliebigen Nationalität umhüllt und bis zu einem gewissen Grade der fremden Volkstümlichkeit sich anschmiegt – der Jude war eben darum geschaffen für einen Staat, welcher auf den Trümmern von hundert Politien erbaut und mit einer gewissermaßen abstrakten und von vornherein verschliffenen Nationalität ausgestattet werden sollte. Auch in der alten Welt war das Judentum ein wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Dekomposition und insofern ein vorzugsweise berechtigtes Mitglied in dem cäsarischen Staat, dessen Politie doch eigentlich nichts als Weltbürgertum, dessen Volkstümlichkeit ihn Grunde nichts als Humanität war.“ [17]

Mommsen bringt es hier fertig, in ein paar Zeilen gleich drei Sorten professoraler Geschichtsauffassungen unterzubringen. Zuerst die, daß die Monarchen die Geschichte machen, daß ein paar Dekrete Alexanders des Großen es waren, wodurch das alexandrinische Judentum geschaffen wurde, und nicht etwa die Veränderung der Handelswege, die vor Alexander schon ein starkes Judentum in Ägypten erzeugt hatte und es nach Alexander weiterhin entwickelte und stärkte. Oder sollte gar der ganze, viele Jahrhunderte lang dauernde Welthandel Ägyptens durch einen gelegentlichen Einfall des mazedonischen Eroberers während seines flüchtigen Aufenthaltes in jenem Lande geschaffen worden sein?

Gleich nach diesem Aberglauben an königliche Dekrete marschiert der Rassenaberglaube auf: Die Völker des Abendlandes haben von Natur aus als „Pandoragabe“ die Rassenanlage der politischen Organisation erhalten, die den Juden von Geburt an fehlt. Die Natur schafft offenbar die politischen Veranlagungen aus sich selbst, ehe es noch eine Politik gibt, und verteilt sie dann nach Willkür unter den verschiedenen „Rassen“, was immer man darunter verstehen mag. Diese mystische Naturlaune erscheint hier um so komischer, wenn man sich erinnert, daß die Juden bis zum Exil von der „Pandoragabe“ der politischen Organisation einen ebene so großen Anteil besaßen und gebrauchten, wie alle anderen Völker ihrer Kulturstufe. Erst der Zwang äußerer Verhältnisse machte sie staatslos und nahm ihnen damit das Material zu einer politischen Organisation.

Zu der monarchischen und naturwissenschaftlichen Geschichtsauffassung gesellt sich als dritte noch jene Ideologie, die glaubt, daß die Feldherren und Organisatoren der Staaten sich durch Gedankengänge leiten lassen, wie sie deutsche Professoren in der Studierstube ausspintisieren. Da wird in den skrupellosen Hochstapler und Glücksritter Cäsar der Gedanke hineingeheimnist, er habe eine abstrakte Nationalität des Weltbürgertums und der Humanität schaffen wollen und die Juden als das brauchbarste Mittel dazu erkannt und darum bevorzugt!

Selbst wenn Cäsar sich in solchem Sinne ausgesprochen hätte, brauchte man das nicht ohne weiteres für seine wirklichen Gedankengänge anzunehmen. Ebensowenig wie man etwa Napoleon III. Phrasen ernst nehmen durfte. Die liberalen Professoren zu jener Zeit, in der Mommsens römische Geschichte geschrieben wurde, ließen sich freilich durch napoleonische Redensarten leicht gefangennehmen, aber das bildete nicht ihre politische Stärke. Cäsar hat indes nicht einmal eine Spur eines ähnlichen Gedankenganges geäußert. Die Cäsaren haben stets nur mit solchen Phrasen um sich geworfen, die in Mode waren, mit denen man Demagogie treiben konnte, unter leichtgläubigen Proletariern oder leichtgläubigen Professoren.

Die Tatsache, daß Cäsar die Juden nicht bloß duldete, sondern bevorzugte, erklärt sich bei seinen ewigen Schulden und seiner ewigen Geldgier wohl viel einfacher, wenn auch weniger großartig. Geld war die entscheidende Macht im Staate geworden. Weil die Juden Geld besaßen, ihm dadurch nützlich geworden waren und weiter nützlich werden konnten, und nicht, weil ihre Rasseneigentümlichkeiten bei der Schaffung einer „abstrakten, verschliffenen Nationalität“ verwendbar waren, schützte und privilegierte sie Cäsar.

Sie wußten dessen Gunst wohl zu schätzen. Seinen Tod beklagten sie aufs tiefste.

„Bei der großen öffentlichen Trauerfeier beweinten ihn auch die ausländischen Einwohner (Roms), jede Nation nach ihrer Art, besonders die Juden, die sogar eine Reihe von Nächten nacheinander die Leichenstätte besuchten.“ [18]

Auch Augustus wußte die Bedeutung des Judentums zu schätzen.

„Die vorderasiatischen Gemeinden machten unter Augustus den Versuch, ihre jüdischen Mitbürger bei der Aushebung gleichmäßig heranzuziehen und ihnen die Einhaltung des Sabbats nicht ferner zu gestatten; Agrippa aber entschied gegen sie und hielt den Status quo zugunsten der Juden aufrecht oder stellte vielmehr die bisher wohl nur von einzelnen Statthaltern oder Gemeinden der griechischen Provinzen nach Umständen zugelassene Befreiung der Juden vom Kriegsdienst und das Sabbatprivilegium vielleicht jetzt erst rechtlich fest. Augustus wies ferner die Statthalter von Asia an, die strengen Reichsgesetze über Vereine und Versammlungen gegen die Juden nicht zur Anwendung zu bringen ... Der Judenkolonie in der Vorstadt Roms jenseits der Tiber zeigte Augustus sich günstig und ließ bei seinen Spenden den, der des Sabbats wegen sich versäumt hatte, nachträglich zu.“ [19]

Die Juden in Rom müssen damals äußerst zahlreich gewesen sein. Von ihrer Gemeinde schlossen sich um 3 v. Chr. einer jüdischen Gesandtschaft an Augustus über 8.000 (bloß Männer?) an! Erst jüngst wieder hat man zahlreiche jüdische Begräbnisplätze in Rom entdeckt.

Übrigens, wenn der Handel ihre Hauptbeschäftigung bildete, so waren doch nicht alle Juden im Ausland Händler. Wo viele beisammenwohnten, beschäftigten sie auch jüdische Handwerker. Jüdische Ärzte werden auf Inschriften von Ephesus und Venosa bezeugt. [20] Josephus erzählt uns sogar von einem jüdischen Hofschauspieler in Rom. In Dikäarchia oder Puteoli, wie es die Italer nennen, gewann ich die Freundschaft des Schauspielers (μιμολόγος) Aliturus, der jüdischer Abstammung und bei Nero sehr beliebt war. Durch ihn wurde ich mit der Kaiserin Poppäa bekannt.“ [21]


c. Die jüdische Propaganda

Bis zum Exil hatte das Volk Israels sich in keiner ungewöhnlichen Weise vermehrt. Nicht mehr als andere Völker. Seitdem aber nahm es in unglaublichem Maße zu. Jetzt verwirklichte sich die Verheißung Jahves, die angeblich schon Abraham zuteil geworden war:

„Ich segne dich und will deine Nachkommenschaft so zahlreich werden lassen wie die Sterne am Himmel und der Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen, und durch deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.“ [22]

Diese Verheißung wurde wie so ziemlich alle Prophezeiungen der Bibel erst damals fabriziert, als der vo1i ihr vorausgesehene Zustand schon eingetroffen war – ähnlich den Voraussagungen, die einzelne gottbegnadete Helden in modernen historischen Dramen vom Stapel lassen. Was Jahve schon Abraham in Aussicht stellte, konnte erst nach dem Exil niedergeschrieben sein, denn erst damals hatte dieser Satz einen Sinn. Dann aber paßte er vortrefflich.

Das Judentum nahm in der Tat überraschend zu, so daß es sich in allen wichtigen Städten der Mittelmeerwelt einnisten, die „Tore seiner Feinde besetzen“ und überall ihren Handel beleben, „alle Völker auf Erden segnen“ konnte.

Der Geograph Strabo, der um die Zeit von Christi Geburt schrieb, sagte von den Juden:

„Dieses Volk ist schon in jegliche Stadt gekommen, und man kann nicht leicht einen Ort der bewohnten Erde finden, der nicht diese Nation aufgenommen hätte und nicht von ihr (finanziell) beherrscht würde.“

Diese rasche Zunahme der jüdischen Volkszahl ist wohl zum Teil der großen Fruchtbarkeit der Juden zuzuschreiben. Aber auch das ist nicht ein besonderes Merkmal ihrer Rasse – da müßte sie ja von jeher aufgefallen sein –, sondern ein besonderes Merkmal der Klasse, die sie jetzt vornehmlich repräsentierten, der Kaufmannschaft.

Nicht nur jede Gesellschaftsform, sondern innerhalb einer gegebenen Gesellschaft hat auch jede Klasse ihr besonderes Bevölkerungsgesetz. Das moderne Lohnproletariat zum Beispiel vermehrt sich rasch, dank dem Umstand, daß die Proletarier, weibliche nicht minder wie männliche, früh ökonomisch selbständig werden und Aussicht haben, auch ihre Kinder früh unterzubringen; auch hat der Proletarier kein Erbe zu teilen, das ihn veranlassen könnte, die Zahl seiner Kinder zu beschränken.

Bei den seßhaften Landwirten wechselt das Gesetz ihrer Vermehrung. Wo sie freien Boden vorfinden, wie das überall der Fall ist, wenn sie ein Land besetzen, das bis dahin von Jägern oder Hirten bewohnt war, da vermehren sie sich ungemein rasch, denn die Bedingungen ihrer Existenz sind der Aufzucht ihrer Kinder viel günstiger als zum Beispiel die von nomadisierenden Jägern mit der Unsicherheit ihrer Nahrungsquellen und dem Mangel an anderer Milchnahrung als Muttermilch, was die Mutter zwingt, ihre Kinder mehrere Jahre lang zu säugen. Der Ackerbauer erzeugt regelmäßige Nahrung in Fülle, und das Vieh, das er aufzieht, gibt auch reichliche Milch, mehr als das Vieh der nomadischen Hirten, das viele Kraft beim Suchen von Futter aufwendet.

Aber der zum Ackerbau verwendbare Grund und Boden ist beschränkt, und er kann durch das Privateigentum noch mehr beschränkt werden, als er es von Natur aus ist. Dabei ist die technische Entwicklung der Landwirtschaft meist eine äußerst langsame. Früher oder später kommt daher für ein Volk von Ackerbauern der Zeitpunkt, von dem an es neuen Boden zur Gründung neuer Heimstätten und Familien nicht mehr vorfindet. Das treibt den Bauern, wenn sein überschüssiger Nachwuchs nicht einen Abfluß in einen anderen Beruf, etwa Kriegsdienst oder eine städtische Industrie findet, die Zahl seiner Nachkommen künstlich zu beschränken. Bauern in dieser Situation werden das Ideal der Malthusianer.

Aber schon das bloße Privateigentum am Boden kann in gleicher Weise wirken, auch wenn noch nicht alles kulturfähige Land angebaut ist. Der Besitz von Boden gibt jetzt Macht: je mehr Boden man besitzt, über desto mehr Macht und Reichtum in der Gesellschaft verfügt man. Den Bodenbesitz zu vergrößern, wird jetzt das Streben der Grundbesitzer, und da die Bodenfläche gegeben und nicht vermehrbar ist, kann der Bodenbesitz nur vergrößert werden durch Zusammenfassung schon bestehender Besitzungen. Das Erbrecht kann diese Zusammenfassung fördern oder hemmen, Es kann sie fördern bei Eheschließungen, wenn beide Teile Grundbesitz erben, den sie vereinigen; es kann sie hemmen, wenn ein Grundbesitz unter mehreren Erben zu teilen ist. Daher kommt, wie beim bäuerlichen, so beim großen Grundbesitz, der Zeitpunkt, wo er entweder seine Nachkommenschaft möglichst beschränkt, um seinen Besitz möglichst groß zu erhalten, oder die Nachkommen bis auf einen enterbt. Wenn die Teilung des Erbes unter die Kinder Regel bleibt, dann führt das Privateigentum an Boden früher oder später zur Einschränkung des Nachwuchses der Grundbesitzer, unter Umständen zu ihrer steten Verminderung. Dies einer der Gründe, warum sich das römische Reich entvölkerte, das ja im wesentlichen auf der Landwirtschaft beruhte.

Einen lebhaften Gegensatz dazu bildete die Fruchtbarkeit der jüdischen Familien. Die Juden hatten eben aufgehört, ein Volk zu sein, in dem die Landwirtschaft überwog. In der großen Mehrheit waren sie Handelsleute, Kapitalisten. Das Kapital ist aber im Gegensatz zum Grund und Boden vermehrbar. Bei aufblühendem Handel kann es rascher wachsen, als die Nachkommenschaft der Handelsleute. Diese können sich schnell vermehren, und doch kann der Reichtum jedes einzelnen zunehmen. Gerade die Jahrhunderte nach dem Exil bis in die Anfänge der Kaiserzeit sahen aber einen enormen Aufschwung des Handels. Die Ausbeutung der in der Landwirtschaft tätigen Arbeiter – Sklaven, Pächter, Bauern – stieg rasch, und gleichzeitig dehnte sich das Gebiet dieser Ausbeutung aus. Auch die Ausbeutung der Bergwerke nahm zu, solange die Sklavenzufuhr nicht stockte. Das führte, wie wir gesehen, schließlich zum Niedergang der Landwirtschaft, zur Entvölkerung des flachen Landes, endlich zum Versiegen der militärischen Kraft, damit der Sklaveuzufuhr, die auf ständigen, glücklichen Kriegen beruhte, und daher auch zum Rückgang des Bergbaues. Aber es dauerte lange, bis diese Konsequenzen sich fühlbar machten, und bis dahin wuchs die Ansammlung von Reichtum in wenigen Händen bei gleichzeitigem Verkommen der Bevölkerung, und wuchs der Luxus der Reichen. Der Handel war aber damals vornehmlich Luxushandel. Die Mittel des Verkehrs waren noch wenig entwickelt, billige Massentransporte erst in ihren Anfängen. Der Kornhandel von Ägypten nach Italien erhielt wohl einige Bedeutung, aber im allgemeinen bildeten Gegenstände des Luxus den Hauptinhalt des Handels. Wenn der moderne Handel vor allem der Produktion und dem Konsum großer Massen dient, diente er ehedem dem Übermut und der Verschwendung einer kleinen Zahl von Ausbeutern. Hängt er heute ab vom Wachstum des Massenkonsums, so hing er früher ab vom Wachstum der Ausbeutung und der Verschwendung. Dazu fand er nie günstigere Bedingungen, als in der Zeit von der Begründung des persischen Reiches bis in die Zeit der ersten Cäsaren. Wie hart auch die Veränderung der Handelswege Palästina treffen mochte, sie förderte aufs lebhafteste den Handel im allgemeinen vom Euphrat und Nil bis an die Donau und den Rhein, von Indien bis nach Britannien. Wohl mochten in jener Zeit Nationen verkommen und sich entvölkern, die in der Landwirtschaft ihre ökonomische Grundlage fanden. Eine Nation von Kaufleuten mußte gedeihen und brauchte ihren natürlichen Bevölkerungszuwachs nicht im mindesten zu hemmen. Dieser fand auch keine äußeren Hindernisse, die ihn beeinträchtigt hätten.

Aber wie groß wir auch die natürliche Fruchtbarkeit des Judentums veranschlagen mögen, sie würde für sich allein nicht genügen, sein rasches Wachstum zu erklären. Sie wurde in hohem Grade ergänzt durch seine propagandistische Kraft.

Daß eine Nation sich durch religiöse Propaganda vermehrt, ist etwas so Außerordentliches, wie die historische Stellung des Judentums selbst.

Wie die anderen Völker wurden auch die Israeliten ursprünglich durch Blutbande zusammengehalten. Das Königtum setzte an Stelle der Gentilverfassung den territorialen Verband, den Staat und seine Bezirke. Mit der Verpflanzung ins Exil hörte dieses Band auf. Die Rückkehr nach Jerusalem stellte es bloß für einen kleinen Bruchteil der Nation wieder her. Ihr größerer und immer wachsender Teil lebte außerhalb des jüdischen Nationalstaats, in der Fremde, nicht bloß vorübergehend, wie die Kaufleute anderer Nationen, sondern dauernd. Das führte aber dahin, daß nn noch ein weiteres Band der Nationalität verloren ging, die Gemeinsamkeit der Sprache. Die im Ausland lebenden Juden mußten dessen Sprache sprechen, und wenn mehrere Generationen dort gewohnt hatten, dann sprachen die jüngeren schließlich nur noch die Sprache des Wohnlandes und vergaßen die des Mutterlandes. Namentlich das Griechische gewann unter ihnen eine weite Verbreitung. Schon im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wurden die heiligen Schriften der Juden ins Griechische übersetzt, wohl weil von den alexandrinischen Juden nur noch wenige Hebräisch verstanden. Vielleicht auch zur Propaganda unter den Griechen. Das Griechische wurde die Sprache der neueren jüdischen Literatur. Aber auch die Sprache des jüdischen Volkes, selbst in Italien. „Die verschiedenen jüdischen Gemeinden in Rom hatten teilweise gemeinsame Begräbnisplätze, deren bis jetzt fünf bekannt sind. Die Inschriften sind überwiegend griechisch, allerdings zum Teil bis zur Unverständlichkeit jargonartig; daneben finden sich lateinische, aber keine hebräischen.“ [23] Nicht einmal in Palästina vermochten die Juden das Hebräische zu bewahren. Sie nahmen dort die Sprache der umwohnenden Bevölkerung, das Aramäische, an.

Schon mehrere Jahrhunderte vor der Zerstörung Jerusalems durch die Römer hat das Hebräische aufgehört, eine lebendige Sprache zu sein. Es diente nicht mehr als Mittel der Verständigung zwischen den Volksgenossen, sondern nur noch als Mittel des Zuganges zu den heiligen Schriften der Vorzeit – welche Schriften freilich nur in der Illusion viele Jahrhunderte und Jahrtausende weit zurückreichten, da sie in Wirklichkeit eben erst aus alten Überresten und neuen Erfindungen zurechtgemacht worden waren.

Diese angeblich den Urvätern Israels geoffenbarte, tatsächlich im Exil und seit dem Exil gebildete Religion, sie wurde neben dem Handelsverkehr das festeste Band des Judentums, das einzige Merkmal, das es von den übrigen Nationen unterschied.

Aber der eine Gott dieser Religion war nicht mehr einer unter vielen Stammgöttern, wie ehedem, er war der einzige Gott der Welt, ein Gott aller Menschen, dessen Gebote allen Menschen galten. Die Juden unterschieden sich von den anderen nur dadurch, daß sie ihn erkannt hatten, indes die anderen in ihrer Verblendung nichts von ihm wußten. Die Erkenntnis dieses Gottes, das war jetzt das Merkmal des Judentums: wer ihn erkannte und seine Gebote anerkannte, der gehörte zu den Auserwählten Gottes, der war ein Bude.

Mit dem Monotheismus war also die logische Möglichkeit gegeben, durch dessen Propagierung den Kreis des Judentums zu erweitern. Diese Möglichkeit wäre jedoch vielleicht ohne Folgen geblieben, wenn sie nicht zusammengetroffen wäre mit seinem Drange, sich auszudehnen. Seine Kleinheit hatte das jüdische Volk in die tiefste Erniedrigung versetzt. Aber es war “nicht untergegangen. Die schlimmsten Trübsale hatte es überdauert, es hatte wieder festen Boden unter den Füßen gewonnen und fing an, in den verschiedensten Gegenden zu Macht und zu Reichtum zu gelangen. Daraus schöpfte es die stolze Zuversicht, daß es wirklich das auserwählte Volk sei, wirklich berufen, einmal die anderen Völker zu beherrschen. Aber so sehr es auf seinen Gott und den Messias, den es von ihm erwartete, bauen mochte, es mußte sich doch sagen, seine Sache sei hoffnungslos, solange es ein so winziges Völkchen unter den Millionen von Heiden ausmachte, deren gewaltige Überzahl ihm um so deutlicher zum Bewußtsein kam, je weiter sich der Kreis seiner Handelsbeziehungen ausdehnte. Je gewaltiger sein Sehnen nach Erhebung und Kraft war, in so eifriger mußte es trachten, die Zahl seiner Volksgenossen zu mehren, Anhang unter den fremden Völkern zu gewinnen. So entfaltete das Judentum in den letzten Jahrhunderten vor der Zerstörung Jerusalems einen kraftvollen Drang nach Ausdehnung.

Für die Bewohner des jüdischen Staatswesens war der nächstliegende Weg der gewaltsamer Bekehrung. Daß man ein Volk unterwarf, war nichts Ungewöhnliches. Wo den Juden das gelang, versuchten sie nun, ihm auch ihre Religion aufzuzwingen. Das geschah im Zeitalter der Makkabäer und ihrer Nachfolger, etwa von 165 bis 63 v. Chr., als der Niedergang des syrischen Reiches dem jüdischen Volke eine Zeitlang etwas Ellenbogenfreiheit gab, die es dazu benützte, nicht bloß das syrische Joch abzuschütteln, sondern sein eigenes Gebiet zu erweitern. Damals wurde Galiläa erobert, das vordem nicht jüdisch gewesen, wie Schürer bewiesen hat. [24] Idumäa und das Ostjordanland ward unterworfen, sogar Fuß an der Seeküste gefaßt, in Joppe. Eine derartige Eroberungspolitik bildete nichts Ungewöhnliches. Aber ungewöhnlich war es, daß sie zu einer Politik religiöser Ausdehnung wurde. Die Bewohner der neu eroberten Gebiete mußten den Gott, der im Tempel Jerusalems verehrt wurde, zu dem ihrigen machen, mußten nach Jerusalem wallfahrten, um ihn anzubeten, dahin die Tempelsteuer zahlen, mußten sich absondern von den übrigen Völkern durch die Beschneidung und die Befolgung der eigenartigen jüdischen rituellen Satzungen.

Ein derartiges Verfahren war ganz unerhört in der antiken Welt, wo der Eroberer dem Unterworfenen in der Regel volle Freiheit der Religion und der Sitten ließ und bloß seine Steuer an Gut und Blut verlangte.

Diese Art der Ausdehnung des Judentums wurde indes nur vorübergehend möglich, solange die Macht der Syrer zu schwach und die der Römer noch nicht nahe genug war, die kriegerischen Fortschritte Judas zu hemmen. Noch ehe Pompejus Jerusalem besetzt hatte (63 v. Chr.), war das Vordringen der Juden in Palästina zum Stillstand gekommen. Der gewaltsamen Methode der Ausbreitung der jüdischen Religionsgenossenschaft wurde dann durch die Oberhoheit der Römer ein kraftvoller Riegel vorgeschoben.

Um so eifriger warfen sich die Juden von da an auf die andere Methode der Erweiterung ihrer Religionsgenossenschaft, die der friedlichen Propaganda. Auch das war damals noch eine eigenartige Erscheinung. Noch vor dem Christentum entfaltete das Judentum denselben Bekehrungseifer wie später dieses und hatte dabei bedeutenden Erfolg. Es war sehr begreiflich, aber freilich nicht sehr logisch, wenn die Christen an den Juden diesen Eifer tadelten, den sie selbst für ihre eigene Religion so lebhaft entwickelten:

„Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer!“ läßt das Evangelium Jesus sagen, „ihr Heuchler, daß ihr Meer und Land durchstreift, um einen Proselyten zu machen; und wird er es, dann macht ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, zweimal so arg, als ihr selbst seid.“ (Matth. 23, 15)

Es war die Konkurrenz, die so christlich sprach.

Schon das materielle Interesse mußte dem Judentum so manchen Anhänger aus der „heidnischen“ Welt zuführen. Teilnehmer an einer so weit verzweigten und aufblühenden Handelsgesellschaft zu sein, mochte nicht wenigen sehr verlockend erscheinen. Wo immer ein Jude hinkam, er durfte darauf rechnen, von seinen Glaubensgenossen energisch unterstützt und gefördert zu werden.

Aber auch andere Gründe verliehen dem Judentum propagandistische Kraft. Wir haben gesehen, wie eine, dein ethischen Monotheismus günstige Stimmung von einer gewissen Ausdehnung des städtischen Lebens an erwächst. Aber der Monotheismus der Philosophen stand im Gegensatz zur überlieferten Religion oder doch zum mindesten außerhalb ihres Bereichs. Er verlangte Selbständigkeit des Denkens. Dieselbe gesellschaftliche Entwicklung jedoch, die den monotheistischen Gedanken begünstigte, führte, wie wir gesehen, zum Verkommen von Staat und Gesellschaft, zu wachsender Haltlosigkeit des einzelnen, zu einem steigenden Bedürfnis nach einer festen Autorität; in der Weltanschauung also nicht nach Philosophie, die den einzelnen auf sich stellt, sondern nach Religion, die dem einzelnen als fertiges, festes Produkt einer übermenschlichen Autorität gegenübertritt.

Zum Monotheismus nicht als Philosophie, sondern als Religion waren unter den Völkern der antiken Kultur nur zwei durch besondere Umstände gelangt, die Perser und die Juden. Beider Religionen machten unter den Völkern des Hellenismus und dann des Römerreichs bedeutende Fortschritte. Aber das Judentum wurde durch seine trübe nationale Lage zu größerem Bekehrungseifer angetrieben, und in Alexandrien trat es in innige Berührung mit der griechischen Philosophie.

So konnte es den Gemütern der versinkenden alten Welt, die an ihren überlieferten Göttern verzweifelten, ohne daß sie die Kraft fanden, eine eigene götterlose oder eingöttliche Weltanschauung zu bilden, am ehesten das bieten, wonach sie verlangten, um so mehr, als es mit denk Glauben an die eine ethische Urkraft auch den an den kommenden Erlöser verband, nach dem damals alle Welt lechzte.

Unter den vielen Religionen, die im römischen Weltreich zusammenkamen, war die jüdische diejenige, die dem Denken und Bedürfen jener Zeit am besten entsprach; sie war wohl nicht der Philosophie, aber den Religionen der „Heiden“ überlegen – kein Wunder, daß die Juden sich stolz über diese erhaben fühlten und daß die Zahl ihrer Anhänger reißend wuchs. „Alle Menschen,“ sagte der jüdische Alexandriner Philo, „unterwirft sich das Judentum und ermahnt sie zur Tugend, Barbaren, Hellenen, Festlands- und Inselbewohner, die Nationen des Ostens wie des Westens, Europäer, Asiaten, die Völker der Erde.“ Er erwartete, das Judentum werde die Religion der Welt werden. Das war zur Zeit Christi. [25]

Wir haben oben bereits darauf hingewiesen, daß schon im Jahre 139 v. Chr. sogar in Rom Juden ausgewiesen wurden, weil sie italische Proselyten gemacht hatten. Aus Antiochia wird berichtet, der größte Teil der dortigen Judengemeinde habe aus bekehrten, nicht aus geborenen Juden bestanden. An manchem anderen Orte wird es ebenso gewesen sein. Schon diese Tatsache allein beweist, wie lächerlich das Bestreben ist, die Merkmale des Judentums aus seiner Rasse zu erklären.

Sogar Könige traten zum Judentum über: Izates, König der Landschaft Adiabene in Assyrien wurde durch einige jüdische Proselytinnen dem Judentum zugeführt, dem sich auch seine Mutter Helena ergeben hatte. Sein Eifer ging so weit, daß er sich beschneiden ließ, obgleich sein jüdischer Lehrer selbst ihm das widerriet, damit er nicht seine Stellung gefährde. Auch seine Brüder traten zum Judentum über. Das geschah in der Zeit des Tiberius und des Claudius.

Schöne Jüdinnen haben noch manchen anderen König dem Judentum zugeführt.

So trat der König Aziz von Emesa zum Judentum über, um Drusilla, Agrippa II. Schwester zu heiraten. Diese lohnte seine Hingebung später in schnöder Weise, indem sie ihren gekrönten Gatten um eines römischen Prokurators Felix willen aufgab. Nicht besser machte es ihre Schwester Berenike, um derentwillen der König Polemon sich beschneiden ließ. Die Liederlichkeit seiner Gattin verleidete ihm nicht nur diese, sondern auch ihre Religion. Frau Berenike wußte sich zu trösten. Sie war an Männerwechsel gewöhnt. Zuerst hatte sie einen Marcus geheiratet, nach dessen Tode ihren Onkel Herodes. Als auch der starb, lebte sie mit ihrem Bruder Agrippa zusammen, bis sie den erwähnten Polemon heiratete. Schließlich aber erlangte sie die Würde einer Mätresse des Kaisers Titus.

Wurde diese Dame dabei ihrem Volke untreu, so ergaben sich dafür zahlreiche andere Damen dem Judentum, das sie faszinierte. Darunter Neros Gemahlin, Poppäa Sabina, von der berichtet wird, sie sei eine eifrige Jüdin geworden. Ihr Lebenswandel gewann dadurch allerdings nicht an Sittsamkeit.

Josephus erzählt von den Bewohnern der Stadt Damaskus, sie hätten beabsichtigt, zu Beginn des jüdischen Aufstandes unter Nero, die Juden, die in der Stadt wohnten, auszutilgen.

„Sie fürchteten nur ihre Weiber, denn diese waren fast alle der jüdischen Religion zugetan. Deshalb hielten sie ihr Vorhaben vor ihnen sehr geheim. Der Anschlag gelang. Sie brachten zehntausend Juden in einer Stunde um.“ [26]

Die Formen des Anschlusses an das Judentum waren sehr verschieden. Die eifrigsten der Neubekehrten nahmen es vollständig an. Ihre Aufnahme erforderte drei Prozeduren: einmal die Beschneidung, dann ein Tauchbad zur Reinigung von der heidnischen Sündhaftigkeit, endlich ein Opfer. Bei den Frauen fiel die erstere natürlich fort.

Aber nicht alle Bekehrten konnten sich entschließen, sämtliche Satzungen des Judentums ausnahmslos zu befolgen. Wir haben ja gesehen, wie widerspruchsvoll es war, wie es einen höchst aufgeklärten, internationalen Monotheismus mit höchst borniertem Stammesmonotheismus, reine Ethik mit ängstlichem Festhalten an überlieferten Gebräuchen vereinigte, so daß es neben Ideen, die den Menschen der damaligen Zeit höchst modern und großartig erschienen, auch Auffassungen enthielt, die namentlich einen Hellenen oder Römer höchst sonderbar, ja abstoßend berühren mußten und durch die sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde den gesellschaftlichen Verkehr mit Nichtjuden unendlich erschwerten. Dazu gehörten zum Beispiel die Speisegesetze, die Beschneidung und die strenge Feier des Sabbat, die oft die wahnsinnigsten Formen annahm.

Aus Juvenal ersehen wir, daß die Kochkiste, die heute als neueste Erfindung für den Haushalt gepriesen wird, bei den alten Juden schon bekannt war. Sie steckten ihre Speisen am Vorabend des Sabbat in mit Heu gefüllte Körbe, um sie dort warm zu halten. Ein solcher Korb soll in keiner jüdischen Haushaltung gefehlt haben. Das weist schon auf die Unbequemlichkeiten hin, welche die strenge Feier des Sabbat mit sich brachte. Aber sie wurde hin und wieder so weit getrieben, daß sie den Juden direkt verderblich wurde. Fromme Juden, die im Kriege am Sabbat angegriffen wurden, verteidigten sich weder, noch flohen sie, sondern ließen sich ruhig niederhauen, um nur ja nicht Gottes Gebot zu übertreten.

Eines derartigen Fanatismus und Gottvertrauens waren nicht viele fähig. Aber auch eine weniger weit getriebene Durchführung des jüdischen Gesetzes war nicht nach jedermanns Geschmack. So fanden sich neben jenen, die in die jüdische Gemeinde eintraten und alle Konsequenzen des jüdischen Gesetzes auf sich nahmen, viele, die wohl die jüdische Gottesverehrung mitmachten und die Synagogen besuchten, aber die jüdischen Satzungen ablehnten. Außerhalb Palästinas gab es unter den Juden selbst auch manche, die auf diese Satzungen keinen so großen Wert legten. Man begnügte sich vielfach mit der Verehrung des wahren Gottes und dem Glauben an den kommenden Messias, verzichtete auf die Beschneidung und war zufrieden, wenn der neugewonnene Freund der Gemeinde sich durch das Tauchbad, die Taufe, entsühnte.

Diese „frommen“ (Sebomenoi) Judengenossen bildeten wohl die Mehrzahl unter jenen Heiden, die sich dem Judentum zuwandten. Sie werden anfangs das wichtigste Rekrutierungsgebiet der christlichen Gemeinde gebildet haben, sobald diese die Grenzen Jerusalems überschritt.


d. Der Judenhaß

So groß auch die propagandistische Kraft des Judentums war, sie wirkte offenbar nicht auf alle Klassen in gleicher Weise. Manche mußten sich von ihm abgestoßen fühlen. So vor allem der Grundbesitz, dessen Seßhaftigkeit und Lokalborniertheit am ehesten der Ruhelosigkeit und Internationalität des Kaufmanns widerstrebte. Auf seine Kosten wurden auch zum Teil die Profite des Kaufmanns gemacht, der trachtete, den Preis der Produkte möglichst zu drücken, die der Grundbesitzer dem Kaufmann verkaufte, um jene Produkte in die Höhe zu treiben, die der Grundbesitzer vom Kaufmann kaufte. Mit dem Wucherkapital hat sich der große Grundbesitz stets vortrefflich abgefunden; wir haben gesehen, daß er aus dem Wucher schon frühzeitig große Kraft zog. Dem Handel dagegen stand er in der Regel feindselig gegenüber.

Aber auch die für den Export arbeitenden Industriellen standen zum Kaufmann in einem ähnlichen feindseligen Verhältnis, wie heute die Heimarbeiter gegenüber den Verlegern.

Diese Gegnerschaft gegen den Handel wandte sich vornehmlich gegen die Juden, die so sehr ihre Nationalität festhielten und, je weniger sie sich in ihrer Sprache von ihrer Umgebung unterschieden, um so zäher an den überkommenen nationalen Gebräuchen hingen, die nun mit dem nationalen Bande, der Religion, aufs innigste verschmolzen und durch die sie der Masse der Bevölkerung außerhalb Palästinas so sehr auffielen. Riefen diese Eigentümlichkeiten sonst nur den Spott der Menge hervor, wie alles Fremdartige, so wurden sie feindselig empfunden, wenn sie eine Schicht kennzeichneten, die wie alle Kaufleute von der Ausbeutung lebte, dabei in engster internationaler Gemeinschaft gegen die übrige Bevölkerung zusammenhielt, an Reichtum und Privilegien zunahm, indes diese zusehends verarmte und in Rechtlosigkeit versank.

Wir können aus Tacitus ersehen, wie das Judentum auf die anderen Nationen wirkte. Er berichtet:

„Neue Religionsgebräuche führte Moses ein, die denen der übrigen Sterblichen entgegengesetzt sind. Da ist alles gottlos (profanum), was bei uns heilig; und wieder bei ihnen gestattet, was für uns abscheulich.“

Als solche Gebräuche nennt er die Enthaltung von Schweinefleisch, das häufige Fasten, den Sabbat.

„Diese Religionsgebräuche, wodurch immer sie veranlaßt sein mögen, verteidigen sie wegen ihres hohen Alters. Andere widerwärtige und scheußliche Einrichtungen erhielten Kraft wegen ihrer Verworfenheit: denn dadurch erreichten sie, daß die Schlechtesten ihrer väterlichen Religion unsren werden und ihnen Beiträge und Spenden zuführen: so wuchs der Reichtum der Juden; auch weil unter ihnen selbst die strikteste Ehrlichkeit und stets hilfsbereite Mildtätigkeit herrscht, dagegen aber gehässige Feindseligkeit gegen alle anderen. Sie sondern sich von diesen ab bei ihren Mahlzeiten, enthalten sich des Beischlafs mit den Weibern anderen Glaubens, untereinander aber kennen sie nichts Unerlaubtes. Die Beschneidung führten sie ein, um sich dadurch von den anderen zu unterscheiden. Die zu ihnen Übergetretenen nehmen auch die Beschneidung an, und mit nichts werden sie eher erfüllt als mit der Verachtung der Götter, dem Verzicht auf das Vaterland, der Geringschätzung der Eltern, Kinder und Brüder. Dabei sind sie darauf bedacht, ihre Masse zu mehren, und einen Nachkommen zu töten erscheint ihnen als ein Verbrechen. Die Seelen der im Kampfe oder durch Hinrichtung wegen ihrer Religion Gestorbenen halten sie für unsterblich: daher ihr Drang, Kinder zu zeugen und ihre Verachtung des Todes.“

Tacitus bespricht dann noch ihre Verwerfung allen Bilderdienstes und schließt: „Die Sitten der Juden sind sinnlos und erbärmlich (Judaeorum mos absurdus sordidusque).“ [27]

Die Satiriker höhnten gern die Juden; Witze über die Juden fanden stets ein empfängliches Publikum.

In seiner vierzehnten Satire zeigt Juvenal, wie das Beispiel der Eltern auf die Kinder wirkt. Ein böses Beispiel gibt ein Vater, der zum Judentum neigt:

„Du findest Menschen, denen das Schicksal einen Vater gab, der den Sabbat heiligt. Solche Leute beten nur Wolken und die Himmelsgottheit an. Sie glauben, daß das Fleisch der Schweine nicht verschieden sei vom Menschenfleisch, weil der Vater sich des Schweinefleisches enthielt. Bald legen sie auch die Vorhaut ab und verachten die Gesetze der Römer. Jüdisches Recht dagegen erlernen, befolgen und verehren sie, alles, was Moses in seiner geheimnisvollen Rolle überliefert. Nur Verehrern des gleichen Glaubens zeigen sie den Weg, wenn jene dessen nicht kundig sind, nur Beschnittene (verpos) führen sie zur Quelle, nach der die Durstigen verlangen. Das bewirkt der Vater, dem jeder siebente Tag ein Ruhetag (ignavus) war, an dem er sich jeder Lebensäußerung enthielt.“ [28]

Je mehr das soziale Unbehagen wuchs, desto mehr nahm die Judenfeindschaft zu.

Sie war schon damals das nächstliegende und ungefährlichste Mittel, den Grimm über den Niedergang von Staat und Gesellschaft zu äußern. Die Aristokraten und Latifundienbesitzer, die Wucherer und Generäle, oder gar die Despoten auf den Thronen anzugreifen, war zu bedenklich, die Juden dagegen fanden trotz ihrer Privilegien bei der Staatsgewalt nur geringen Schutz.

In. den Anfängen der Kaiserzeit, als die Verarmung der Bauernschaft schon auf einen hohen Grad gestiegen war, ein massenhaftes Lumpenproletariat sich in den Großstädten ansammelte, das nach Plünderung verlangte, da kam es hin und wieder schon zu förmlichen Pogromen.

Mommsen beschreibt uns sehr anschaulich eine dieser Judenhetzen, die unter dem Kaiser Gajus Caligula (37 bis 41 n. Ch.), also ungefähr zu der Zeit stattfand, in die Christi Tod verlegt wird:

„Ein Enkel des ersten Herodes und der schönen Mariamme, nach dem Beschützer und Freunde seines Großvaters Herodes Agrippa genannt, unter den zahlreichen in Rom lebenden Fürstensöhnen ungefähr der geringfügigste und heruntergekommenste, aber dennoch oder eben darum der Günstling und der Jugendfreund des neuen Kaisers, bis dahin lediglich bekannt durch seine Liederlichkeit und seine Schulden, hatte von seinem Beschützer, dem er zuerst die Nachricht von dem Tode des Tiberius hatte überbringen können, eines der vakanten jüdischen Kleinfürstentümer zum Geschenk und dazu den Königstitel erhalten. Dieser kam im Jahre 38 auf der Reise in sein neues Reich nach der Stadt Alexandria, wo er wenige Monate vorher als ausgerissener Wechselschuldner versucht hatte, bei den jüdischen Bankiers zu borgen.

Als er im Königsgewand mit seinen prächtig staffierten Trabanten sich dort öffentlich zeigte, regte dies begreiflicherweise die nichtjüdische und den Juden nichts weniger als wohlwollende Bewohnerschaft der großen spott- und skandallustigen Stadt zu einer entsprechenden Parodie an und bei dieser blieb es nicht. Es kam zu einer grimmigen Judenhetze. Die zerstreut liegenden Judenhäuser wurden ausgeraubt und verbrannt, die im Hafen liegenden jüdischen Schiffe wurden geplündert, die in den nichtjüdischen Quartieren betroffenen Juden mißhandelt und erschlagen. Aber gegen die rein jüdischen Quartiere vermochte man mit Gewalt nichts auszurichten. Da gerieten die Führer auf den Einfall, die Synagogen, auf die es vor allem abgesehen war, so weit sie noch standen, sämtlich zu Tempeln des neuen Herrschers zu weihen und Bildsäulen desselben in allen, in der Hauptsynagoge eine solche auf einem Viergespann aufzustellen. Daß Kaiser Gajus so ernsthaft, wie sein verwirrter Geist es vermochte, sich für einen wirklichen und leibhaften Gott hielt, wußte alle Welt und die Juden und der Statthalter, auch. Dieser, Avilius Flaccus, ein tüchtiger Mann und unter Tiberius ein vortrefflicher Verwalter, aber jetzt gelähmt durch die Ungnade, in welcher er bei dem neuen Kaiser stand und jeden Augenblick der Abberufung und der Anklage gewärtig, verschmähte es nicht, die Gelegenheit zu seiner Rehabilitierung zu benutzen. Er befahl nicht bloß durch Edikt der Aufstellung der Statuen in den Synagogen kein Hindernis in den Weg zu legen, sondern er ging geradezu auf die Judenhetze ein. Er verordnete die Abschaffung des Sabbats. Er erklärte weiter in seinen Erlassen, daß diese geduldeten Fremden sich unerlaubterweise des besten Teiles der Stadt bemächtigt hätten; sie wurden auf ein einziges der fünf Quartiere beschränkt und alle übrigen Judenhäuser dem Pöbel preisgegeben, während die ausgetriebenen Bewohner massenweise obdachlos am Strande lagen. Kein Widerspruch wurde auch nur angehört; achtunddreißig Mitglieder des Rats der Ältesten, welcher damals anstatt des Ethnarchen der Judenschaft vorstand, wurden im offenen Zirkus vor allem Volke gestäupt. Vierhundert Häuser lagen in Trümmern; Handel und Wandel stockte; die Fabriken standen still. Es blieb keine Hilfe als bei dem Kaiser. Vor ihm erschienen die beiden alexandrinischen Deputationen, die der Juden geführt von dem früher erwähnten Philon, einem Gelehrten der neujüdischen Richtung und mehr sanftmütigen als tapferen Herzens, der aber doch für die Seinen in dieser Bedrängnis tapfer eintrat; die der Judenfeinde geführt von Apion, auch einem alexandrinischen Gelehrten und Schriftsteller, der ‚Weltschelle‘, wie Kaiser Tiberius ihn nannte, voll großer Worte und noch größerer Lügen, voll dreistester Allwissenheit und unbedingtem Glauben an sich selbst, wenn nicht der Menschen, so doch ihrer Nichtswürdigkeit kundig, ein gefeierter Meister der Rede wie der Volksverführung, schlagfertig, witzig, unverschämt und unbedingt loyal. Das Ergebnis der Verhandlung stand von vornherein fest; der Kaiser ließ die Parteien vor, während er die Anlagen in seinen Gärten besichtigte, aber statt den Flehenden Gehör zu geben, legte er ihnen spöttische Fragen vor, die die Judenfeinde, aller Etikette zum Trotz, mit lautem Gelächter begleiteten, und da er bei guter Laune war, beschränkte er sich darauf, sein Bedauern auszusprechen, daß diese im übrigen guten Leute so unglücklich organisiert seien, seine angeborene Gottesnatur nicht begreifen zu können, womit es ihm ohne Zweifel ernst war. Apion bekam also Recht und überall wo es den Judenfeinden beliebte, wandelten die Synagogen sich um in Tempel des Gajus.“ [29]

Wer denkt bei dieser Schilderung nicht an die heutigen russischen Zustände? Und die Ähnlichkeit bleibt bei den Judenhetzen nicht stehen. Man kann heute auch von Gajus, dieser wahnsinnigen Bestie auf dem kaiserlichen Throne, nicht sprechen, ohne daß einem die hochgeborenen Protektoren der Pogrome Rußlands in den Sinn kommen. Nicht einmal originell ist diese Bande!

In Rom selbst war die vorhandene Militärmacht zu stark und die Kaiser jeder Volksbewegung zu abgeneigt, als daß es dort zu ähnlichen Szenen hätte kommen können.

Aber sobald die kaiserliche Macht befestigt war, die Cäsaren die Juden nicht mehr brauchten, gingen sie ihnen zu Leibe. Bei ihrem Mißtrauen gegen jede, auch die harmloseste Vereinigung mußte ahnen diese internationale religiöse Organisation höchst unsympathisch sein.

Schon Tiberius begann mit Judenverfolgungen. Ihre Ursache beschreibt Josephus folgendermaßen:

„Zu Rom hielt sich ein Jude auf, ein überaus gottloser Mensch, der in seinem Vaterland vieler Vergehen beschuldigt worden war und aus Furcht vor der Strafe geflüchtet hatte. Dieser gab sich für einen Lehrer des mosaischen Gesetzes aus, verband sich mit drei Spießgesellen und überredete Fulvia, eine vornehme Dame, die den jüdischen Glauben angenommen und sich seiner Unterweisung anvertraut hatte, daß sie ein Geschenk von Gold und Purpur an den Tempel nach Jerusalem schicken sollte. Als sie das von der Dame erhalten hatten, verbrauchten sie es für sich selbst, wie das auch ihre Absicht gewesen war. Saturninus, der Mann der Fulvia, klagte darüber auf ihr Verlangen bei dem Kaiser Tiberius, seinem Freunde, und dieser befahl sofort, alle Juden aus Rom zu vertreiben. Viertausend von ihnen wurden zu Soldaten gemacht und nach Sardinien geschickt.“ [30]

Die Mitteilung ist bezeichnend für die Hinneigung vornehmer Damen der römischen Hofgesellschaft zum Judentum. Sollte der Vorfall wirklich die Veranlassung zu so harten Maßregeln gegen die gesamte römische Judenschaft gewesen sein, so bildete er doch sicher nicht deren letzte Ursache. Es hätte genügt, die Schuldigen zu bestrafen, wenn man nicht dem ganzen Judentum feindselig gegenübergestanden wäre. Nicht minder feindselig erwies sich Gajus Caligula, wie wir eben gesehen. Unter Claudius (41 bis 54 n. Ch.) wurden die Juden wieder aus Rom vertrieben, weil sie, wie Sueton (Claudius, Kap. 25) mitteilt, unter der Führung eines gewissen Chrestos Unruhen erregten. Dieser Chrestos war kein geborener Jude, sondern ein zum Judentum übergetretener Grieche. Auch hier begegnen sich die Zeugnisse vom Judenhaß mit solchen der propagandistischen Kraft des Judentums.


e. Jerusalem

Es ist klar, daß bei einer solchen Stimmung der herrschenden Klassen wie der Volksmasse gegen sie die Juden trotz aller gewaltigen Fortschritte im Ausland und trotz der wachsenden Unmöglichkeit, in der Heimat ihr Fortkommen zu finden, doch immer wieder sehnsüchtig nach Jerusalem mit seinem Landgebiet ausschauten, dem einzigen Erdenwinkel, wo sie wenigstens einigermaßen die Herren im Hause waren, wo die ganze Bevölkerung aus Juden bestand, dem einzigen Erdenwinkel, von dem aus das verheißene große Judenreich ausgehen, wo der erwartete Messias die Herrschaft des Judentums begründen konnte.

Jerusalem blieb das Zentrum, blieb die Hauptstadt des Judentums, und mit diesem wuchs auch jenes. Es wurde wieder eine reiche Stadt, eine große Stadt mit vielleicht 200.000 Einwohnern, aber nicht mehr wie unter David und Salomo zog sie ihre Größe und ihren Reichtum aus der kriegerischen Kraft oder dem Handel der Völker Palästinas, sondern nur noch aus dem Tempel Jahves. Jeder Jude, wo immer er wohnen mochte, hatte beizutragen zu seiner Erhaltung und mußte jährlich eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten, die nach Jerusalem gesandt wurde.

Daneben flossen dem Heiligtum noch zahlreiche außerordentliche Geschenke zu. Nicht jedes wird ihm unterschlagen worden sein, wie jene kostbare Gabe, die die vier jiddischen Gauner nach Josephus der Fulvia abschwindelten. Außerdem aber war jeder fromme Jude verpflichtet, wenigstens einmal in seinem Leben nach dem Orte zu wallfahren, au dem sein Gott wohnte und an dem allein dieser Opfer entgegennahm. Die Synagogen der Juden in den verschiedenen Städten außerhalb Jerusalems waren nur Versammlungs- und Bethäuser sowie Schulen – „Judenschulen“, nicht aber Tempel, in denen Jahve geopfert werden konnte.

Die Tempelsteuern und die Pilger mußten massenhaft Geld nach Jerusalem bringen und eine Menge Menschen dort beschäftigen. Direkt oder indirekt lebten in Jerusalem vom Jahvekultus nicht bloß die Priester des Tempels und die Schriftgelehrten, sondern auch die Krämer und Geldwechsler, die Handwerker, die Landleute, Ackerbauer, Viehzüchter und Fischer von Judäa und Galiläa, die in Jerusalem trefflichen Absatz für ihren Weizen und Honig fanden, für ihre Lämmer und Zicklein sowie für die Fische, die sie an der Meeresküste und im See Genezareth fingen und gedörrt oder eingesalzen nach Jerusalem brachten. Wenn Jesus im Tempel Käufer und Verkäufer fand, Wechsler und Taubenhändler, so entsprach dies ganz der Aufgabe, die der Tempel für Jerusalem erhalten hatte.

Was in der jüdischen Literatur als Zustand der Urahnen hingestellt wurde, das galt tatsächlich für die Zeit, in der diese Literatur entstand: nun lebte buchstäblich das gesamte Judentum Palästinas von der Verehrung Jahves, und der Untergang drohte ihm, sobald diese Verehrung nachließ, ja, sobald sie nur andere Formen annahm. Es fehlte nicht an Versuchen, außerhalb Jerusalems andere Kultstätten Jahves aufzurichten.

So erbaute ein gewisser Onias, der Sohn eines jüdischen Hohenpriesters, unter Ptolemäus Philometor (173 bis 146 v. Ch.) in Ägypten einen Tempel Jahves, mit Unterstützung des Königs, der erwartete, die ägyptischen Juden würden ihm treuere Untertanen sein, wenn sie einen eigenen Tempel in seinem Lande besäßen.

Aber der neue Tempel kam zu keiner Bedeutung, wohl gerade deswegen, weil er die Untertanentreue der Juden Ägyptens befestigen wollte. In Ägypten waren sie und blieben sie Fremde, eine geduldete Minorität: wie konnte ihnen von dort der Messias kommen, der ihrem Volke die Selbständigkeit und nationale Größe bringen sollte? Der Messiasglaube aber war eine der stärksten Triebkräfte des Jahvekultus.

Weit unangenehmer wurde ein Konkurrenztempel in der Nähe Jerusalems auf dem Berge Garrizim bei Sichem, den die Sekte der Samariter erbaut hatte, wie Josephus berichtet, zur Zeit Alexander des Großen, nach Schürer schon ein Jahrhundert früher, wo sie ihren Jahvekultus betrieb. Kein Wunder, daß sich zwischen den beiden Konkurrenten die bitterste Feindschaft entspann. Aber das ältere Gottesgeschäft war zu reich und angesehen, als daß ihm das jüngere hätte erheblichen Abbruch tun können. Trotz aller Propaganda der Samariter nahmen diese doch nicht so rasch zu wie die Juden, die in Jerusalem den Sitz ihres Gottes erblickten.

Je mehr aber das Monopol Jerusalem bedroht war, desto eifriger wachten die Bewohner Jerusalems über der „Reinheit“ des Kultus und desto fanatischer traten sie jedem Versuch entgegen, an ihm etwas zu ändern oder gar durch Gewalt eine Änderung zu erzwingen. Daher der religiöse Fanatismus und die religiöse .Intoleranz der Juden Jerusalems, die so seltsam abstechen von der religiösen Weitherzigkeit der anderen Völker jener Zeit. Für die anderen waren ihre Götter ein Mittel der Erklärung unbegreiflicher Vorgänge, auch des Trostes und der Hilfe in Situationen, in denen menschliche Kraft zu versagen schien. Für die Juden Palästinas ward ihr Gott das Mittel, ans dem sie ihre Existenz zogen. Er wurde für ihre Gesamtheit das, was ein Gott sonst nur für dessen Priester ist. Der pfäffische Fanatismus wurde in Palästina der Fanatismus der gesamten Bevölkerung.

Aber so einig diese war in der Verteidigung des Jahvekultus, so geschlossen sie jedem entgegentrat, der es wagte, ihn anzutasten, so machten sich doch selbst da die Klassengegensätze geltend, die auch Jerusalem nicht verschonten. Jede Klasse suchte in anderer Weise Jahve zu gefallen und seinen Tempel zu schützen. und jede sah dem kommenden Messias in anderer Weise entgegen.


f. Die Sadduzäer

Im 8. Kapitel des 2. Buches seiner Geschichte des jüdischen Krieges berichtet Josephus, es gebe drei Gedankenrichtungen bei den Inden: die Pharisäer, die Sadduzäer und die Essener. Von den beiden ersteren erzählt Josephus weiter:

„Was die zwei anderen Sekten betrifft, so hält man dafür, daß die Pharisäer das Gesetz am strengsten auslegen. Sie sind die ersten gewesen, die eine Sekte gebildet haben. Sie glauben, alles werde durch das Schicksal und Gott bestimmt. Nach ihrer Meinung hängt es wohl vom Menschen ab, ob er Gutes tut oder nicht, aber das Schicksal übt darauf auch einen Einfluß. Von der Seele des Menschen glauben sie, daß sie unsterblich sei und daß die Seelen der Guten in neue Leiber fahren, hingegen die der Bösen mit ewigen Martern gepeinigt werden.

„Die andere Sekte sind die Sadduzäer. Diese leugnen jegliches Wirken eines Schicksals und sagen, Gott habe gar keine Schuld, mag einer Gutes oder Böses tun; das stehe lediglich bei dem Menschen, der nach seinem freien Willen das eine tun und das andere lassen könne. Sie leugnen auch, daß die Seelen unsterblich seien und daß man nach seinem Tode entweder belohnt oder bestraft werde.

„Die Pharisäer sind hilfsbereit und streben danach, in Eintracht mit der Volksmasse zu leben. Die Sadduzäer hingegen sind sogar untereinander grausam, und hart sowohl gegen die Volksgenossen wie gegen Fremde.“

Hier erscheinen diese Sekten als Vertreter verschiedener religiöser Anschauungen. Aber obwohl die jüdische Geschichte bisher fast ausschließlich von Theologen betrieben wurde, denen die Religion alles ist und die Klassengegensätze nichts, haben doch selbst diese herausgefunden, daß der Gegensatz zwischen Sadduzäern und Pharisäern im Grunde kein religiöser war, sondern ein Klassengegensatz, ein Gegensatz, der verglichen werden kann dem zwischen dem Adel und dem dritten Stande vor der französischen Revolution.

Die Sadduzäer waren die Vertreter des Priesteradels, der sich der Herrschaft im jüdischen ·Staate bemächtigt hatte und der sie zuerst unter persischer Oberhoheit, dann unter der der Nachfolger Alexander des Großen ausübte. Er war der unumschränkte Herr im Tempel. Durch ihn beherrschte er Jerusalem, durch ihn das ganze Judentum. Ihm fielen alle die Steuern zu, die dem Tempel zuflossen. Und deren waren nicht wenige. Bis zum Exil freilich waren die Einkünfte der Priesterschaft bescheiden und unregelmäßig gewesen. Seitdem aber wuchsen sie gewaltig an. Wir haben schon die Steuer der Doppeldrachme (oder den Halbsekel, ungefähr gleich 1,60 Mark) erwähnt, die jeder männliche Jude, ob arm oder reich, der über zwei Jahre alt war, im Jahre an den Tempel zu entrichten hatte. Ferner die Geschenke, die ihm zuflossen. Wieviel Geld er erhielt, dafür nur einige Beispiele: Mithridates konfiszierte einmal auf der Insel Kos 800 Talente, die für den Tempel bestimmt waren. [31]

Cicero sagt in seiner Verteidigungsrede, die er 59 v. Ch. für Flaccus hielt, der zwei Jahre vorher Statthalter der Provinz Asien gewesen war: „Da das Geld der Juden jahraus jahrein aus Italien und allen Provinzen nach Jerusalem exportiert zu werden pflegt, bestimmte Flaccus, daß aus der Provinz Asien (dem westlichen Kleinasien) kein Geld (nach Jerusalem) exportiert werden dürfe.“ Cicero erzählt weiter, wie Flaccus an verschiedenen Orten Kleinasiens Gelder, die für den Tempel gesammelt waren, konfiszierte, in Apamea allein hundert Pfund Goldes.

Dazu kamen die Opfer. Ehedem hatten die Opfernden das Opfer selbst in fröhlichem Schmause verzehrt, der Priester durfte daran nur teilnehmen. Seit dem Exil wird der Anteil der Opfernden immer mehr beschränkt, der der Priester wächst. Aus einer Gabe zu einem Freudenfest, die der Geber selbst in fröhlicher Gesellschaft verzehrt, um nicht bloß Gott, sondern auch sich zu erfreuen, wird eine Naturalsteuer, die Gott für sich, das heißt seine Priester, allein in Anspruch nimmt.

Und der Betrag dieser Steuern wuchs immer mehr. Nicht nur gehörten die Opfer an Tieren und anderen Lebensmitteln jetzt immer mehr ganz den Priestern, es kam dazu noch die Abgabe des zehnten Teiles von allen Früchten sowie die jedes erstgeborenen Tieres. Die Erstgeburt von „reinen“ Tieren, Rindern, Schafen, Ziegen, das ist solchen, die gegessen wurden, war in natura im Hause Gottes abzuliefern. „Unreine“ Tiere, Pferde, Esel, Kamele, waren gegen Geld abzulösen. Ebenso die männliche Erstgeburt des Menschen. Diese kostete 5 Sekel.

Eine nette Übersicht dessen, was die jüdische Priesterschaft aus dem Volke zog – und was später noch gesteigert wurde; so wurde der dritte Teil des Sekel bald zu einem halben Sekel erhöht – finden wir im Buche Nehemia 10, 33 ff.:

„Weiter stellten wir (Juden) als gesetzliche Verpflichtung für uns fest, daß wir uns jährlich den dritten Teil eines Sekels für den Dienst am Tempel unseres Gottes auferlegen wollten ... Und wir, die Priester, Leviten und das Volk, warfen das Los wegen der Holzlieferungen, daß wir das Holz jahraus jahrein familienweise zur festgesetzten Zeit für den Tempel unseres Gottes liefern wollten, damit es auf dem Altar Jahves, unseres Gottes, verbrenne, wie es im Gesetz vorgeschrieben ist. Und weiter verpflichteten wir uns, die Erstlinge unseres Ackerlandes und die Erstlinge aller Früchte von jeder Art, von Bäumen jahraus jahrein an den Tempel Jahves abzuliefern und ebenso unsere erstgeborenen Söhne und die Erstgeborenen unseres Viehes nach der Vorschrift im Gesetze sowie die Erstgeborenen unserer Rinder und unserer Schafe an den Tempel unseres Gottes, an die Priester, die im Hause unseres Gottes Dienst tun, abzuliefern. Auch das Erste von unserer Grütze und unseren Hebeopfern und den Früchten sämtlicher Bäume, dem Most und Öl, wollen wir an die Priester in die Zellen des Tempels unseres Gottes einliefern und den Zehnten von unserem Ackerland an die Leviten; denn sie, die Leviten, sammeln in allen unseren Ackerbaustädten den Zehnten ein. Und der aaronitische Priester soll bei den Leviten zugegen sein, wenn die Leviten den Zehnten einsammeln, und die Leviten sollen den Zehnten vom Zehnten zum Tempel unseres Gottes in die Zellen des Schatzhauses bringen. Denn in diese Zellen haben die Israeliten und die Leviten die Hebe vom Getreide, dem Most und dem Öl abzuliefern, da sich dort die Gefäße des Heiligtums und die diensttuenden Priester und die Torhüter und die Sänger befinden. So wollen wir den Tempel unseres Gottes nicht im Stiche lassen.“

Man sieht, dieser Tempel war nicht etwa einer Kirche vergleichbar. Er umfaßte ungeheure Magazine, in denen massenhafte Vorräte an Naturalien, aber auch an Gold und Silber aufgestapelt wurden. Er war demnach auch stark befestigt und wohl verwahrt. Wie die heidnischen Tempel galt er als ein Ort, in dem Geld und Gut besonders gesichert war. Gleich ihnen wurde er daher ebenfalls von Privatleuten zur Deponierung ihrer Schätze benutzt. Diese Funktion einer Depositenbank wird Jahve jedenfalls nicht umsonst besorgt haben.

Sicher ist, daß der Reichtum des Priestertums Jerusalems enorm wuchs.

Marcus Crassus, der Mitverschworene Cäsars, den wir schon kennen gelernt, machte sich das zunutze, als er seinen Raubzug gegen die Parther unternahm. Er ließ unterwegs auch die Schätze des jüdischen Tempels mitgehen.

„Als Crassus gegen die Parther ziehen wollte, kam er nach Judäa und nahm alles Geld (χρήματα) aus dem Tempel, das Pompejus drinnen gelassen, zweitausend Talente, sowie alles (ungemünzte) Gold, welches achttausend Talente ausmachte. Endlich raubte er einen Barren Goldes im Gewicht von dreihundert Minen; eine Mine aber wiegt bei uns zwei und ein halbes Pfund.“ [32]

Das macht zusammen etwa 50 Millionen Mark. Trotzdem war der Tempel bald wieder mit Gold gefüllt.

Die Grenzen der Priesterschaft waren durch Abstammung gegeben, sie bildete eine Geburtsaristokratie, in der das Amt erblich war. Nach Josephus, der sich auf Hekatäus beruft (gegen Apion, I, 22), waren „der jüdischen Priester 1.500, welche die Zehnten einnehmen und das Gemeinwesen verwalten“.

Unter ihnen selbst aber bildete sich nach und nach eine Trennung in eine höhere und niedere Aristokratie. Einige Familien wußten die ganze Regierungsgewalt dauernd an sich zu ziehen, dadurch ihren Reichtum zu steigern, was wieder ihren Einfluß erhöhte. Sie bildeten eine fest zusammenhängende Clique, die stets den hohen Priester aus ihren Reihen stellte. Durch Soldknechte befestigten sie ihre Macht und verteidigten sie gegenüber den anderen Priestern, die sie herabzudrücken wußten.

So berichtet Josephus:

„Um diese Zeit gab König Agrippa das hohe Priestertum an Ismael, der ein Sohn des Phabi war. Die hohen Priester gerieten aber in Kampf mit den Priestern und Obersten des Volkes zu Jerusalem. Ein jeder von ihnen schaffte sich einen Haufen der verwegensten und unruhigsten Leute an und war ihr Anführer. Sie gerieten zuweilen mit Worten aneinander, schmähten sich und bewarfen sich mit Steinen. Niemand wehrte dem, alles geschah so gewaltsam, als wenn keine Obrigkeit in der Stadt wäre. Die hohen Priester wurden endlich so frech, daß sie sich nicht scheuten, Knechte in die Scheuern zu schicken und die den Priestern gebührenden Zehnten wegnehmen zu lassen, so daß einige Mangel leidende Priester sogar verhungerten.“ [33]

So schlimm wurde es freilich erst, als das jüdische Gemeinwesen schon seinem Ende entgegeneilte.

Von Anfang an aber erhob sich die priesterliche Aristokratie über die Volksmasse und bekam Anschauungen und Neigungen, die im Gegensatz zu denen des Volkes standen, vor allem zu denen der jüdischen Bevölkerung Palästinas. Das trat besonders auffallend zutage in der äußeren Politik.

Wir haben gesehen, wie auf Palästina stets, infolge seiner geographischen Lage, die Fremdherrschaft oder doch die Gefahr der Fremdherrschaft lastete. Zwei Wege gab es, sie abzuwehren oder zu mildern: die Diplomatie oder die gewaltsame Empörung.

Solange das persische Reich bestand, versprach freilich weder die eine noch die andere einen Erfolg, aber anders wurde die Situation, nachdem Alexander dies Reich zerstört hatte. Das neue Staatsgebilde, das er an dessen Stelle setzte, zerfiel nach seinem Tode, und wieder wie ehedem stritt nun ein syrisch-babylonisches Reich mit einem ägyptischen um die Herrschaft über Israel. Nur waren sie jetzt beide von griechischen Dynastien beherrscht, das eine von den Seleukiden, das andere von den Ptolemäern, und wurden sie beide immer mehr von griechischem Geiste erfüllt.

Militärisch gegen eine dieser Mächte zu obsiegen, erschien aussichtslos. Um so mehr mochte man durch eine kluge Diplomatie gewinnen, indem man sich auf die Seite des Stärkeren schlug und als Teil seines Reiches eine bevorzugte Stellung erlangte. Das erreichte man aber nicht durch Fremdenhaß und Ablehnung der hellenischen überlegenen Kultur und ihrer Machtmittel. Dazu war es vielmehr notwendig, diese Knltur in sich aufzunehmen.

Dahin trieb die Aristokratie Jerusalems ihre höhere Erkenntnis der auswärtigen Dinge, die sie vor der Masse der übrigen Bevölkerung durch ihre soziale Lage und ihre Regierungsfunktionen voraus hatte; dahin trieb sie aber auch ihr Reichtum. Die bildenden Künste und die Künste des Lebensgenusses waren in Palästina nicht gediehen, das Griechenvolk hatte sie dagegen auf eine Höhe gebracht, die zu jener Zeit und noch viele, viele Jahrhunderte später nirgends ihresgleichen fand. Die Beherrscher aller Völker, selbst des siegreichen Rom, entnahmen damals die Formen des Glanzes und Lebensgenusses aus Griechenland; das griechische Wesen wurde in der antiken Welt das aller Ausbeuter, wie es im achtzehnten Jahrhundert in Europa das französische werden sollte.

Je höher die Ausbeutung des Judentums durch seine Aristokratie stieg, je größere Reichtümer diese gewann, desto begehrlicher wurde sie nach hellenischer Kultur.

So klagte denn auch das erste Buch der Makkabäer über die Zeit des Antiochus Epiphanes (175 bis 164 v. Chr.):

„In jenen Tagen gingen aus Israel nichtswürdige Menschen hervor; die überredeten viele, indem sie sprachen: Lasset uns doch mit den Völkern, die ringsum sind, uns verbrüdern! Denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, hat uns viel Unglück betroffen! Solche Rede gefiel ihnen wohl, und etliche aus dem Volke erklärten sich bereit, zum König zu gehen; der gab ihnen Vollmacht, die Sitten der Heiden einzuführen. So erbauten sie denn in Jerusalem ein Gymnasium (das heißt eine Ringschule, in der man nackt kämpfte) nach dem Brauche der Heiden, stellten sich die Vorhaut wieder her und wurden so abtrünnig von dem heiligen Bund, verbanden sich vielmehr mit den Heiden und verkauften sich dazu, Böses zu tun.“

So verrucht waren diese bösen Menschen, die sich künstliche Vorhäute herstellten, daß sie auch ihre jüdischen Namen verleugneten und durch griechische ersetzten. Ein Hoherpriester Jesus nannte sich Jason, ein andere Hoherpriester Eljakim Alkimos, ein Manasse Menelaus.

Es waren die Massen des Volkes Juda, die diese Förderung hellenischen, ausländischen Wesens schwer ertrugen. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, wie wenig Industrie und Kunst in Judäa entwickelt waren. Das Vordringen des hellenischen Einflusses bedeutete, daß ausländische Produkte die inländischen verdrängten. Der Hellene kam aber auch stets als Unterdrücker und Ausbeuter, mochte er nun als syrischer oder ägyptischer König kommen. Juda, schon von seiner Aristokratie ausgesogen, empfand um so schwerer die Tribute, die es an die fremden Monarchen und deren Beamte entrichten mußte. Die Aristokraten verstanden es mitunter auch, dabei ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, indem sie sich selbst zu Vertretern und Steuereinnehmern der fremden Herren ernennen ließen. Dabei wußten sie sich noch durch Bewucherung der von den Steuern Erdrückten zu bereichern. Das Volk dagegen hatte nur die Last der Fremdherrschaft zu tragen.

Schon unter den Persern war derartiges vorgekommen, wie es anschaulich eine Darstellung kennzeichnet, die der Jude Nehemia gibt, der vom König Artaxerxes zu seinem Statthalter in Judäa ernannt worden war (445 v. Chr.). Er berichtet über seine eigene Tätigkeit:

„Es erhob sich aber ein großes Geschrei der gewöhnlichen Leute und ihrer Weiber gegen ihre jüdischen Brüder. Da sagten welche: Unsere Söhne und Töchter müssen wir verpfänden; möge man uns doch Getreide zukommen lassen, damit wir zu essen haben und am Leben bleiben! Und andere sagten: Unsere Felder und Weinberge und Häuser müssen wir verpfänden; möge man uns doch Getreide zukommen lassen in der Teuerung! Und wieder andere sagten: Wir haben zur Beschaffung der königlichen Steuer auf unsere Felder und Weinberge Geld geliehen. Und nun, obwohl unser Leib schließlich ebensoviel wert ist, wie unserer Brüder Leib, unsere Kinder wie ihre Kinder, so müssen wir doch unsere Söhne und unsere Töchter zu leibeigenen Knechten machen; auch einige von unseren Töchtern sind bereits leibeigen geworden. Und wir können nichts dagegen tun, da doch unsere Felder und unsere Weinberge anderen gehören.

„Da ward ich sehr zornig, als ich diese ihre Klage und diese Worte vernahm. Und ich ging mit mir selbst zu Rate; sodann machte ich den Edlen und den Vorstehern Vorwürfe und sprach zu ihnen: Auf Wucher leiht ihr einer dem anderen Und ich veranstaltete gegen sie eine große Versammlung und sprach zu ihnen: Wir haben unsere jüdischen Brüder, die an die Heiden verkauft waren, losgekauft, so oft es uns möglich war. Ihr aber wollt gar eure Brüder verkaufen, daß sie an uns verkauft werden? Da schwiegen sie still und wußten nichts zu antworten. und ich sprach: Es ist nicht schön, daß ihr so handelt! Solltet ihr nicht vielmehr in der Furcht unseres Gottes wandeln, schon um der Schmähung der Heiden, unserer Feinde willen? Auch ich, sowie meine Brüder und meine Leute haben ihnen Geld und Getreide dargeliehen; so wollen wir doch diese Schuldforderung fallen lassen! Gebt ihnen doch gleich heute ihre Felder, ihre Weinberge, ihre Ölgärten und ihre Häuser zurück und erlaßt ihnen die Schuldforderung an Geld und Getreide, an Most und Öl, das ihr ihnen geliehen habt. Da sprachen sie: Wir wollen sie zurückgeben und nichts von ihnen zurückverlangen; wir wollen tun, wie du es wünschest. Da ließ ich die Priester rufen und ließ ihnen einen Eid abnehmen, daß sie demgemäß verfahren wollten. Auch schüttelte ich meinen Busen aus und sprach: So möge Gott einen jeden, der diesem seinem Versprechen untreu wird, aus seinem Hause und seinem Eigentum ausschütteln, und so soll er ausgeschüttelt und ausgeleert sein. Da sprach die ganze Versammlung: Amen! und pries Jahve. Und das Volk verfuhr demgemäß.

„Übrigens habe ich von dem Tage an, andem er mich beorderte, ihr Statthalter im Lande Judäa zu sein – vom zwanzigsten Jahre bis zum zweiunddreißigsten des Königs Arthahsasta, also zwölf Jahre lang – samt meinen. Brüdern die dem Statthalter gebührende Kost nicht bezogen, während die früheren Statthalter, die vor mir waren, das Volk belastet und für Brot und Wen täglich vierzig Sekel Geldes von ihnen bezogen hatten; dazu hatten auch ihre Leute gegen das Volk die Herren gespielt. .Ich aber verfuhr nicht so, aus Scheu vor Gott. Und auch bei dem Bau dieser Mauer (der Stadtmauer von Jerusalem) habe ich mit Hand angelegt, ohne daß wir durch Ankauf Grundbesitz erworben gehabt hätten, und alle meine Leute waren dort beim Bau versammelt. Die Juden aber, sowohl die Vorsteher, hundertfünfzig an der Zahl, als auch die, welche aus den rings um uns befindlichen Heidenländern zu uns kamen, aßen an meinem Tisch; und was für jeden einzelnen Tag zurechtgerichtet zu werden pflegte – ein Stier, sechs auserlesene Schafe und Geflügel – das wurde auf meine Kosten zugerichtet und überdies je innerhalb zehn Tagen ein großes Quantum von allerlei Wein. Bei alledem habe ich die dem Statthalter gebührende Kost nicht beansprucht, denn die Fronpflicht lastete schwer auf diesem Volke. Gedenke mir, mein Gott, alles, was ich für dieses Volk getan habe, zum Besten!“

Derartiges Selbstlob ist in Dokumenten des Altertums, namentlich des Orients, nicht selten. Es wäre voreilig, daraus stets zu schließen, daß der betreffende Beamte sich auch wirklich um das Volk so verdient gemacht habe, wie er sich rühmt. Aber eines zeigen solche Ausführungen deutlich: Die Art und Weise, wie Statthalter und Edle in der Regel das Volk aussogen und bedrückten. Nehemia hätte sich seines Tuns nicht gerühmt, wäre es nicht eine Ausnahme gewesen. Niemand wird prahlend verkünden, er habe keine silbernen Löffel gestohlen, außer in einer Gesellschaft, in der solche Diebstähle gang und gäbe sind.

Unter den syrischen und ägyptischen Königen wurden die Steuern Palästinas verpachtet. Als Steuerpächter trat in der Regel der hohe Priester auf. Doch fand er mitunter Konkurrenten unter seinen Standesgenossen, und dann gab es Krakeel innerhalb der hochwürdigen Priesterschaft selbst.

Die Volksmasse in Judäa hatte also viel mehr Ursache, sich gegen die Fremdherrschaft aufzulehnen, als die Aristokratie, die aus ihr Nutzen zog. Ihre Wut gegen die Ausländer wurde aber noch verstärkt durch ihre Unwissenheit über die Machtverhältnisse. Die Masse der Juden in Palästina kannte nicht die Übermacht der Gegner. Aus allen diesen Gründen verschmähte sie die Diplomatie und verlangte nach gewaltsamer Abschüttelung des Joches der Fremdherrschaft. Aber nur dieser. Nicht auch des Joches der Aristokratie. Wohl lastete das letztere ebenfalls schwer auf dem Volke, aber zog dieses nicht in Jerusalem und dessen Umkreis seine ganze Existenz aus dem Tempel, aus der Bedeutung seines Kultes und seiner Priesterschaft? So mußte sich der ganze Grimm über sein Elend einzig auf die fremden Unterdrücker konzentrieren. Die Demokratie wurde zum Chauvinismus.

Und ein glückliches Zusammentreffen ermöglichte es, daß einmal eine Erhebung des kleinen Völkchens gegen seine mächtigen Herren von Erfolg gekrönt war. Das geschah zur Zeit, wie wir schon bemerkt, als das Reich der Seleukiden durch innere Kriege aufs tiefste zerrüttet und ebenso wie das der Ptolemäer in völligem Verfall begriffen war, beide dabei in heftigem Zwist miteinander, und sich bereits ihre Unterwerfung unter die neuen Gebieter des Ostens wie des Westens, unter die Römer, vorbereitete.

Wie jedes verfallende Regime, steigerte auch dieses seinen Druck, der natürlich ebenfalls Gegendruck erzeugte. Immer rebellischer empfand der jüdische Patriotismus, der seinen Mittelpunkt und seine Führerschaft in der Organisation der Asidäer fand.

Aus deren Mitte entsprang wohl auch das Buch Daniel, das damals entstand (zwischen 167 und 164 v. Chr.), eine Agitationsschrift, die den Unterdrückten weissagte, Israel werde sich bald erheben und sich selbst befreien. Es werde sein eigener Erretter, sein eigener Messias sein. Damit begann die Reihe der messianischen Agitationsschriften, die die Überwindung der Fremdherrschaft und den Sieg des Judentums, seine Erlösung und seine Herrschaft über die Völker der Erde ankündigten.

Aber im Buche Daniel findet dieser Gedanke noch demokratischen Ausdruck. Der Messias ist dort noch das Volk selbst. Der Messias, das ist „das Volk der Heiligen des Höchsten“. Diesem Volke „wird die Herrschaft, Gewalt und Macht der Reiche unter dem ganzen Himmel verliehen; sein Reich wird ein ewiges Reich sein und ihm werden alle Mächte dienen und untertan sein.“ [34]

Diese messianische Prophezeiung schien bald glänzend gerechtfertigt zu sein. Der Guerillakrieg gegen die Unterdrücker nahm immer größere Dimensionen an, bis es glücklichen Bandenführern aus dem Hause der Hasmonäer, unter ihnen vor allem Judas Makkabäus, gelang, sich in offenem Felde erfolgreich mit den syrischen Truppen zu messen, und schließlich auch Jerusalem zu erobern, das die Syrier besetzt hielten. Judäa wurde frei, es erweiterte sogar seine Grenzen. Nachdem Judas Makkabäus gefallen war (160 v. Chr.), durfte nun sein Bruder Simon unternehmen, was vor ihm und nach ihm mancher Feldherr der Demokratie unternommen hat, dem es gelang, in glücklichem Kriege seinem Volke die Freiheit zu erobern: er eskamotierte sie und setzte sich die Krone auf. Oder vielmehr, er gestattete, daß das Volk sie ihm aufsetzte. Eine große Versammlung der Priester und des Volkes beschloß, er solle hoher Priester, Kriegsoberster ulnd Volksfürst sein (Archiereus, Strategos und Ethnarches) (141 v. Ch.). So wurde Simon der Begründer der hasmonäischen Dynastie.

Er fühlte wohl, wie wenig sicher die neuerrungene Unabhängigkeit war, denn er beeilte sich sofort, auswärtige Stützen für sie zu suchen. Im Jahre 139 finden wir eine Gesandtschaft von ihm in Rom, die bitten sollte, die Römer möchten den Juden ihr Gebiet garantieren. Es war jene Gesandtschaft, von der wir schon berichteten, von der einige Mitglieder wegen Proselytenmacherei ausgewiesen wurden. Indessen erreichte die Gesandtschaft ihren Zweck.

Simon ahnte nicht, daß es nicht lange dauern sollte, bis die neuen Freunde Judäas als dessen gefährlichste Feinde auftraten, die dem Judenstaat schließlich für immer ein Ende machen sollten. Solange die Bürgerkriege zwischen den römischen Machthabern wüteten, schwankte das Schicksal Judäas noch auf und nieder. Pompejus eroberte Jerusalem 63 v. Ch., machte viele Kriegsgefangene, die er als Sklaven nach Rom schickte, beschränkte das judäische Gebiet auf Judäa, Galiläa, Peräa und legte den Juden eine Steuer auf. Crassus plünderte 54 den Tempel. Nach seiner Niederlage empörten sich die Juden gegen die Römer in Galiläa und wurden niedergeschlagen, viele der Gefangenen als Sklaven verkauft. Cäsar behandelte dann die Juden besser, machte sie sich zu Freunden. Die Bürgerkriege nach seinem Tode verheerten auch Judäa und legten ihm schwere Lasten auf. Als dann Augustus siegte, zeigte er sich gleich Cäsar den Irden günstig, aber Judäa blieb von den Römern abhängig, wurde von römischen Truppen besetzt, kam unter die Aufsicht und schließlich die direkte Verwaltung durch römische Beamte, und wie dieses Gesindel in den Provinzen hauste und sie aussog, haben wir gesehen. So wuchs immer gewaltiger der Haß gegen die Römer, namentlich in der Masse der Bevölkerung. Die Scheinkönige und Priesterlichen Aristokraten, die sie beherrschten, suchten ja bei den neuen römischen Herren ebenso wie vor der makkabäischen Erhebung bei den griechischen, sich lieb Kind zu machen, so ingrimmig manche von ihnen die Fremden im Herzen hassen mochten. Aber ihre Partei, die der Sadduzäer, vermochte immer weniger gegen die demokratische Partei der Patrioten, die Pharisäer.

Schon aus der Zeit um das Jahr 100 v. Chr. schreibt Josephus in seinen Altertümern: „Die Reichen standen auf der Seite der Sadduzäer, die Masse des Volkes hing an den Pharisäern“ (XIII, 10, 6).

Und von der Zeit des Herodes (Zeit Christi) berichtet er:

„Der Sekte der Sadduzäer hängen nur wenige an, jedoch sind es die Vornehmsten im Lande. Indessen werden die Angelegenheiten des Staates nicht nach ihrer Meinung betrieben. Sobald sie zu öffentlichen Ämtern kommen, müssen sie, mögen sie wollen oder nicht, nach den Anschauungen der Pharisäer handeln, sonst würde sie das gemeine Volk nicht dulden.“ (Altertümer, XVIII, 1, 4)

Die Pharisäer wurden immer mehr die geistigen Beherrscher des jüdischen Volkes, an Stelle seiner priesterlichen Aristokratie.


g. Die Pharisäer

Wir haben oben bei den makkabäischen Kämpfen die Frommen, die Asidäer, kennen gelernt. Einige Jahrzehnte später, unter Johannes Hyrkan (135 bis 104 v. Chr.) treten die Vertreter der gleichen Richtung unter dem Namen der Pharisäer auf, wie auch die gegnerische Richtung damals zuerst den der Sadduzäer trägt.

Woher die letzteren ihren Namen erhielten, ist nicht bestimmt. Vielleicht vom Priester Zadok, nach dem die Priesterschaft das Geschlecht der Zadokiden hieß. Die Pharisäer (Peruschim), das heißt die Abgesonderten, nannten sich selbst „Genossen“ (Chaberim) oder Bundesbrüder.

Bei einer Gelegenheit gibt Josephus au, daß sie sechstausend Mann stark gewesen seien, für ein so kleines Land eine ansehnliche politische Organisation. Er berichtet aus der Zeit des Herodes (37 bis 4 v. Chr.):

„Es gab aber damals Leute unter den Juden, die stolz darauf waren, daß sie das Gesetz der Väter streng hielten und die glaubten, daß Gott sie besonders liebe. Besonders die Frauen hielten zu ihnen. Diese Leute wurden Pharisäer genannt. Sie hatten eine große Macht und durften sich am ehesten dem König widersetzen, waren dabei aber vorsichtig klug und warteten die Gelegenheit ab, wann sie einen Aufstand machen wollten. Als das ganze jüdische Volk eidlich gelobte, dem Kaiser (Augustus) untertan zu sein und dem König (Herodes) zu gehorchen, weigerten sich diese Männer den Eid zu leisten, und es waren ihrer über sechstausend.“ [35]

Herodes, der grausame Tyrann, der sonst mit Hinrichtungen gleich bei der Hand war, wagte doch nicht, diese Verweigerung des Untertaneneides strenge zu bestrafen; ein Zeichen, wie hoch er den Einfluß der Pharisäer auf die Volksmasse einschätzte.

Die Pharisäer wurden die geistigen Beherrscher der Volksmasse. Unter ihnen selbst wieder dominierten die „Schriftgelehrten“ oder Literaten, die im Neuen Testament immer mit ihnen zusammen genannt werden, die Rabbis (Rabbi = Mein Herr, Monsieur).

Die Klasse der Intellektuellen, das war ursprünglich bei den Juden, wie überall im Orient, die Kaste der Priester. Aber es ging mit ihr in Judäa wie mit jeder Aristokratie. Je reicher sie wurde, desto mehr vernachlässigte sie die Funktionen, aus denen ihre bevorzugte Stellung hervorgegangen war. Gerade nur, daß sie die äußerlichsten Kulthandlungen vollzog, zu denen sie verpflichtet war. Die wissenschaftliche, literarische, gesetzgeberische, richterliche Tätigkeit vernachlässigte sie immer mehr und bewirkte, daß diese nach und nach gebildeten Elementen aus dem Volke fast völlig zufiel.

Besonders wichtig wurde die richterliche und gesetzgeberische Tätigkeit. Gesetzgebende Versammlungen kennen die Staaten des alten Orients nicht. Alles Recht gilt als Gewohnheitsrecht, uraltes Recht. Wohl geht die gesellschaftliche Entwicklung weiter, bringt neue Verhältnisse und neue Probleme, die neue Rechtsnormen erfordern. Aber im Volksbewußtsein ist das Empfinden so tief eingewurzelt, das Recht bleibe ewig dasselbe, es stamme von Gott, daß das neue Recht um so eher anerkannt wird, je mehr es die Form von Gewohnheitsrecht, herkömmlichem Recht annimmt, das seit jeher existierte und nur neu erscheint, weil es in Vergessenheit geraten war.

Als das einfachste Mittel der herrschenden Klassen, aus diese Art neues Recht als altes Recht zu schaffen, besteht darin, daß man Dokumente fälscht.

Davon hat das Priestertum Judas, wie wir schon mehrfach sahen, reichlichsten Gebrauch gemacht. Das ging ziemlich leicht dort, wo der Volksmasse eine einzige herrschende Klasse als Kenner und Bewahrer der religiösen Überlieferungen gegenübertrat, die im Orient alles höhere Wissen umfaßten. Wo dagegen neben dem alten Priestertum eine literarisch gebildete Klasse neu aufkam, da wurde es jenem wie dieser sehr erschwert, eine Neuerung für ein Produkt auszugeben, das etwa Moses oder sonst eine Autorität der Vorzeit geschaffen habe. Die konkurrierende Klasse sah den Fälschern jetzt auf die Finger.

Ununterbrochen geht in den letzten zwei Jahrhunderten vor der Zerstörung Jerusalems durch die Römer das Streben der Rabbiner dahin, den von der Priesterschaft festgesetzten Kanon der heiligen Schriften zu durchbrechen und durch neuere literarische Produktionen zu erweitern, die als alte gelten und dasselbe Ansehen genießen sollten, wie die früheren. Aber sie hatten keinen Erfolg.

In seiner Schrift gegen Apion (I, 7 und 8) prüft Josephus die Glaubwürdigkeit der jüdischen Schriften: „Denn es hat nicht ein jeder das Recht, nach Belieben zu schreiben, sondern das steht allein den Propheten zu, welche die vergangenen Dinge aus Gottes Eingebung und die Begebenheiten ihrer Zeit zuverlässig aufgezeichnet haben. Daher haben wir nicht tausende von Schriften, die einander widersprechen und bekämpfen, sondern nur zweiundzwanzig Bücher, die verzeichnen, was sich von Anfang der Welt an zugetragen hat, und mit Recht für göttlich gehalten werden“; nämlich die fünf Bücher Mosis, dreizehn Bücher der Propheten, die den Zeitraum vom Tode Mosis bis Artaxerxes beschreiben, und vier Bücher Psalmen und Sprüche.

„Von Artaxerxes an bis auf unsere Zeit ist zwar auch alles beschrieben, aber es ist nicht so glaubwürdig ... Wie hoch wir unsere Schriften halten, ist daraus zu entnehmen, daß sich in so langer Zeit niemand herausnahm, etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen oder zu ändern.“

Zu Josephus Zeit war das sicher der Fall. Je schwerer es so wurde, das bestehende Gesetz, das in der hier angeführten Literatur festgesetzt war, zu ändern, desto mehr wurden die Neuerer getrieben, durch Auslegung des Gesetzes es den neuen Bedürfnissen anzupassen. Dazu eigneten sich die heiligen Schriften der Juden um so eher, als sie ja nicht aus einem Gusse waren, sondern literarische Niederschläge der verschiedensten Zeiten und gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie umfaßten ebensogut Sagen der beduinischen Urzeit, wie hochkultivierte großstädtische Weisheit Babylons, alles unter nachbabylonischer, priesterlicher Redaktion zusammengefaßt, einer noch höchst ungeschickten, verständnislosen Redaktion, die die gröbsten Widersprüche stehen ließ. Aus einem derartigen „Gesetz“ konnte man alles beweisen, wenn man den nötigen Scharfsinn und das nötige Gedächtnis besaß, um alle Gesetzesstellen auswendig zu lernen und stets zur Hand zu haben. Darauf ging auch die rabbinische Weisheit hinaus. Nicht das Leben zu erforschen, stellte sie sich zur Aufgabe, sondern den Schülern die genaue Kenntnis der heiligen Schriften einzutrichtern und ihre Schlagfertigkeit und Spitzfindigkeit in deren Auslegung auf das höchste Maß zu bringen. Unbewußt blieben sie freilich dabei von dem Leben beeinflußt, das um sie herumflutete, aber je länger die rabbinische Schulweisheit sich entwickelte, desto mehr hörte sie auf, ein Mittel zu sein, das Leben zu begreifen und dadurch zu meistern; sie wurde auf der einen Seite zur Kunst, durch überraschende juristische Rabulistik und Kniffigkeit alle Welt, sogar den Herrgott selbst, zu überlisten, und andererseits zur Kunst, sich in jeglicher Situation durch ein frommes Zitat zu trösten und zu erbauen. Zur Erkenntnis der Welt hat sie nichts beigetragen. Sie geriet über diese in immer tiefere Unwissenheit. Das trat deutlich zutage in den Kämpfen, die schließlich mit der Zerstörung Jerusalems endeten.

Die klugen, welterfahrenen Sadduzäer kannten die Machtverhältnisse ihrer Zeit genau. Sie wußten, daß es unmöglich sei, sich der Römer erwehren zu wollen. Die Pharisäer dagegen strebten um so mehr nach gewaltsamer Abschüttelung des Römerjochs, je schwerer dies auf Judäa lastete und das Volk zur Verzweiflung trieb. Die makkabäische Erhebung hatte ein glänzendes Beispiel geboten, wie ein Volk seine Freiheit gegen einen Tyrannen verteidigen solle und könne.

Die messianische Erwartung, die jener Erhebung eine starke Stütze geworden war und ans ihrem Gelingen ihrerseits wieder Kraft gewonnen hatte, erstarkte immer mehr, je größer die Sehnsucht wurde, das römische Joch abzuschütteln. Freilich, die Römer waren furchtbarere Gegner als das morsche Syrerreich, und das Vertrauen in die Selbsttätigkeit der Völker hatte seit den Zeiten der Makkabäer in der ganzen antiken Welt abgenommen. Was man die Bürgerkriege nannte, waren nur die Käm|pfe einzelner glücklicher Feldherren um die Weltherrschaft. So wurde nunmehr auch unter dem Messias nicht mehr das jüdische Volk verstanden, das sich selbst befreit, sondern ein gewaltiger Kriegsheld, voll wundertätiger Kraft, den Gott entsendet, das gequälte Volk der Auserwählten und Heiligen aus Trübsal und Not zu erretten und zu erlösen.

Ohne solchen wundertätigen Feldherrn hielten es auch die schwärmerischsten Pharisäer nicht für möglich, mit den Unterdrückern fertig zu werden. Aber sie bauten nicht auf ihn allein. Mit Stolz berechneten sie, wie die Zahl ihrer Anhänger im Reiche stets wuchs, namentlich unter den Nachbarvölkern; wie stark sie in Alexandrien, in Babylon, Damaskus, Antiochien waren. Würden diese der bedrängten Heimat nicht zu Hilfe kommen, wenn sie sich erhob? Und wenn es einer einzelnen Stadt wie Rom gelungen war, die Weltherrschaft zu erobern, warum sollte das dem großen und stolzen Jerusalem mißlingen müssen?

Die Grundlage der Offenbarung Johannis ist eine jüdische Agitationsschrift nach der Art des Buches Daniel. Sie wurde wahrscheinlich in jener Zeit verfaßt, als Vespasian und dann Titus Jerusalem belagerten. Sie verkündet ein Duell zwischen Rom und Jerusalem. Hier Rom, das „Weib, das auf sieben Bergen sitzt“, „Babylon (d. h, Rom), die große, die Mutter der Buhler und der Greuel“, mit der „die Könige der Erde Unzucht getrieben“, und von deren Üppigkeit „die Kaufleute der Erde reich geworden“ (17 und 18). Diese Stadt wird fallen, Gericht wird gehalten über sie, „die Kaufleute der Erde werden heulen und trauern über sie, weil niemand mehr ihre Waren kauft“, an ihre Stelle wird die heilige Stadt Jerusalem treten, „und die Nationen werden in ihrem Lichte wandeln und die Könige der Erde bringen ihre Herrlichkeit zu ihr“ (21, 24).

In der Tat war Jerusalem eine Stadt, die naiven Gemütern, denen die römische Macht fremd blieb, wohl als gefährliche Rivalin der Weltbeherrscherin am Tiber erscheinen konnte.

Josephus berichtet, unter Nero sei einmal durch die Priester die Menge der Leute gezählt worden, die in Jerusalem zum Osterfest zu finden waren. „Die Priester zählten 256.500 Osterlämmer. Es saßen aber nicht weniger als zehn bei einem Tisch mit einem Lamm. Bisweilen aber beliefen sich die Tischgenossen zu einem Osterlamm auf zwanzig. Wenn nun auf jedes Lamm nur zehn Menschen gerechnet werden, so kommen wir auf rund 2.700.000 Personen,“ ungerechnet die Unreinen und Ungläubigen, die an dem Osterfest nicht teilnehmen durften. [36]

Trotzdem sich Josephus hier auf eine Zählung beruft, scheint seine Angabe doch unglaublich zu sein, selbst wenn wir annehmen, daß unter diesen zweieinhalb Millionen Mensche zahlreiche Landleute aus der Umgebung waren, die weder Lebensmittel noch Unterkunft in Jerusalem heischten. Der Massentransport von Lebensmitteln aus größerer Entfernung war damals nur möglich zu Schiff. Die großen Städte jener Zeit lagen alle an schiffbaren Flüssen oder am Meere. Nach Jerusalem aber konnte von einem Wassertransport keine Rede sein. Das Meer wie der Jordan lagen weitab und dieser ist nicht schiffbar. Solche Menschenmengen dürften nicht einmal genug Trinkwasser in Jerusalem gefunden haben. War doch die Stadt zum Teil auf Regenwasser angewiesen, das in Zisternen aufgefangen wurde.

So ist auch die Mitteilung unglaublich, die Josephus an gleicher Stelle macht, daß in Jerusalem während der Belagerung, die seiner Zerstörung vorausging, 1.100.000 Juden umgekommen seien.

Erheblich geringer ist die Zahl, die Tacitus angibt. [37] Die Belagerten jeden Alters und Geschlechtes hätten zusammen 600.000 ausgemacht. Da viele in der Stadt eingeschlossen wurden, die sonst nicht dort wohnten, so wird man vielleicht die Hälfte als ihre gewöhnliche Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten vor ihrer Zerstörung annehmen können. Selbst wenn wir nur ein Drittel annehmen, stellt das für jene Zeit eine ansehnliche Stadtbevölkerung dar. Die Ziffern des Josephus aber zeigen, wie sich diese Menge in der Phantasie des jüdischen Volkes noch vergrößerte.

Indes, wie groß und stark Jerusalem auch sein mochte, es hatte keine Aussicht auf Sieg ohne Hilfe von außen. Auf solche rechneten auch die Juden. Aber sie vergaßen, daß die jüdische Bevölkerung außerhalb Palästinas eine rein städtische, ja großstädtische war, außerdem überall eine Minorität. Damals aber noch mehr als später war nur der Bauer zu ausdauerndem Kriegsdienst fähig. Die großstädtischen Massen von Krämern, Hausindustriellen und Lumpenproletariern konnten keine Armee bilden, die im freien Felde gegen geübte Truppen zu bestehen vermochte. Wohl kam es während des letzten großen Aufstandes Jerusalems auch zu jüdischen Unruhen außerhalb Palästinas, aber nirgends hatten sie den Erfolg einer Hilfsaktion für Jerusalem.

Wenn nicht ein Messias Wunder wirkte, war jede jüdische Erhebung aussichtslos. Je rebellischer die Situation in Judäa, desto inbrünstiger wurde die Messiaserwartung in den pharisäischen Kreisen gepflegt. Die Sadduzäer freilich standen ihr sehr skeptisch gegenüber. Ebenso der Lehre von der Auferstehung, die aufs engste mit der Messiaserwartung zusammenhing.

Wie die ganze Mythologie boten auch die Vorstellungen der Israeliten über den Zustand des Menschen nach dem Tode ursprünglich nichts was sie von anderen Völkern gleicher Kulturstufe unterschied. Die Tatsache, daß Verstorbene im Traume erschienen, führte zur Annahme, daß der Tote noch ein persönliches Dasein weiterführe, jedoch ein körperloses, schattenhaftes. Und es dürfte die Bestattung des Verstorbenen in einer finsteren Grube gewesen sein, was die Anschauung anregte, daß dies schattenhafte Dasein an einen düsteren, unterirdischen Ort gebunden sei. Die Lebenslust und Lebensfreude endlich konnte sich nicht vorstellen, daß das Ende des Lebens nicht auch das Ende aller Lust und Freude bedeuten, daß das Schattendasein des Toten ein anderes als ein freudloses und trübsinniges sein könne.

Diese Anschauungen finden wir ursprünglich bei den Israeliten ebenso wie etwa bei den alten Griechen. Deren Hades entsprach die israelitische Scheol, ein tief in der Erde liegender Ort schwärzester Finsternis, der wohl verwahrt ist, so daß die Abgestorbenen, die dorthin hinabstiegen, nie wieder zurückkommen können. Wenn der Schatten des Achilles im Homer klagt, ein lebender Taglöhner sei besser daran, als ein toter Fürst, so sagt noch der Prediger Salomo (eine Schrift aus der Makkabäerzeit): „Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe“, und er fährt fort: „Die Toten wissen gar nichts und haben weiter keinen Lohn, denn vergessen wird ihr Gedächtnis. Sowohl ihr Lieben als ihr Hassen und ihr Eifern ist längst dahin und sie haben nie mehr teil an irgend etwas, was unter der Sonne geschieht.“

Irgend einen Lohn haben also die Toten nicht. Mögen sie gottlos gewesen sein oder gerecht, sie alle trifft das gleiche Schicksal in der Unterwelt. Nur im Leben gibt es Freude und Genuß.

„Wohlan denn, iß mit Freuden dein Brot und trinke mit frohem Herzen deinen Wein; denn vorlängst hat Gott dieses dein Tun gut geheißen. Zu jeder Zeit seien deine Kleider weiß und deinem Haupte mangle es nie an Öl. Genieße das Leben mit dem Weibe, das du lieb hast, alle die Tage deines eitlen Lebens hindurch, die er dir gegeben hat unter der Sonne, alle deine eitlen Tage; denn das ist dein Teil am Leben und für deine Mühe, womit du dich mühst unter der Sonne. Alles, was deine Hand zu tun vermag mit deiner Kraft, das tue, denn weder Tun noch Berechnung noch Erkenntnis, noch Weisheit gibt’s in der Unterwelt, wohin du gehen wirst.“ (Der Prediger, 9, 4 bis 10)

Daraus spricht noch eine ganz „hellenische“ Lebenslust, aber auch eine ganz „heidnische“ Anschauung vom Tode. Es waren die alten jüdischen Auffassungen, die vom Sadduzäertum bewahrt wurden. Aber bereits erstanden um die gleiche Zeit mit dem „Prediger“ Anschauungen gegensätzlicher Art.

Die Lebenslust entsprach dem Volksempfinden in einer Zeit gesunder, blühender Bauernschaft. Nach deren Niedergang konnte die Aristokratie noch Freude an der Wirklichkeit, Freude am Leben empfinden, ja sie zur Genußsucht steigern, den unteren Klassen kam sie um so mehr abhanden, je qualvoller ihr Dasein wurde. Aber noch waren sie nicht so weit, an jeder Möglichkeit der Verbesserung der Wirklichkeit zu verzweifeln. Je erbärmlicher sich diese für sie gestaltete, um so inniger klammerten sie sich an die Hoffnung der Revolution, die ihnen ein besseres Leben und damit wieder Lebensfreude bringen werde. Der Messias, das war die Revolution, die freilich um so mehr auf übermenschliche Kräfte, auf Wundertaten bauen mußte, je mehr sich die Kräfte der Wirklichkeit zuungunsten der ausgebeuteten und gequälten Massen verschoben.

In gleichem Maße, wie der Wunderglaube und das Zutrauen in die Wunderkraft des kommenden Messias, wuchs auch die Masse der Leiden und Opfer, die der Kampf gegen die Unterdrückung erforderte, wuchs die Zahl der Märtyrer, die im Kampfe erlagen. Sollten sie alle umsonst gehofft und geharrt haben, sollten von dem herrlichen Leben, das der Sieg des Messias seinen Auserwählten bringen mußte, gerade seine hingebendsten und tapfersten Vorkämpfer ausgeschlossen sein? Sollte ihnen, die um der Sache der Heiligen und Auserwählten willen auf jeden Lebensgenuß verzichtet, ja das Leben selbst hingegeben hatten, dafür kein Lohn erblühen? Sollten sie in der Scheol ein trübseliges Schattendasein führen, indessen ihre siegreichen Genossen in Jerusalem die Welt beherrschten und aller ihrer Genüsse teilhaftig wurden?

Wenn man dem Messias die Krach zutraute, Rom zu überwinden, mochte er wohl auch mit dem Tode fertig werden. Totenerweckungen galten damals als nichts unmögliches.

So kam man zur Anschauung, daß die Vorkämpfer des Judentums, die im Kampfe gefallen waren, nach dessen Siege in voller Leiblichkeit aus ihren Gräbern erstehen und ein neues Leben der Freude und des Genusses beginnen würden. Nicht um eine Unsterblichkeit der Seele handelte es sich da, sondern um eine Wiederbelebung des Leibes, dem auch höchst reale Genüsse im siegreichen Jerusalem zugedacht waren. Reichlicher Weingenuß spielte bei diesen Erwartungen eine große Rolle. Aber auch die Freuden der Liebe vergaß man nicht. Josephus erzählt von einem Eunuchen des Herodes, den die Pharisäer für sich gewannen, weil sie ihm versprachen, der kommende Messias werde ihm die Kraft geben, den Beischlaf zu üben und Kinder zu zeugen. [38]

Traute man aber einmal dem Messias solche Kraft zu, seine Getreuen zu belohnen, dann lag es nahe, ihm auch die entsprechende Strafgewalt zuzusprechen. In der Tat, ebenso unerträglich wie der Gedanke war, daß die Märtyrer ohne Lohn bleiben sollten, mußte für die Kämpfer der Gedanke sein, daß alle ihre Verfolger, die im Glücke starben, nun ihrer Rache entrückt seien, da sie in der Unterwelt das gleiche empfindungslose Dasein führten, wie die Schatten der Gerechten. So sollten auch deren Leiber durch den Messias wieder erweckt und gräßlicher Pein zugeführt werden.

Es handelte sich dabei ursprünglich keineswegs um die Wiedererweckung aller Toten. Die Auferstehung sollte den Abschluß des Kampfes um die Selbständigkeit und die Weltherrschaft Jerusalems bedeuten, sie sollte nur jene Toten betreffen, die in diesem Kampfe hüben und drüben gefochten hatten. So heißt es im Buche Daniel vom Tage des Sieges des Judentums:

„Und viele von denen, die im Erdenstaube schlafen, werden erwachen, die einen zu ewigem Leben, die anderen zur Schmach und zu ewigem Abscheu“ (12, 2).

Die sogenannte Offenbarung Johannis gehört, wie wir schon bemerkt, dem gleichen Gedankenkreis an. In der uns erhaltenen christlichen Überarbeitung kennt sie zwei Auferstehungen. Die erste ist keineswegs die aller Menschen, sondern mir die der Märtyrer, in der überlieferten Fassung natürlich der christlichen, die zu einem tausendjährigen Leben auf dieser Welt erweckt werden:

„Die Seelen derer, die hingerichtet sind wegen des Zeugnisses Jesu und wegen des Wortes Gottes und die da nicht angebetet hatten das Tier noch sein Bild und nicht genommen hatten den Stempel auf ihre Stirn und Hand, sie wurden lebendig und herrschten mit dem Messias tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben bis zum Ende der tausend Jahre“ (20, 4, 5).

Der Auferstehungsglaube war eine Kampfesdoktrin. Aus dem Fanatismus eines langen und wütenden Ringens mit einem übermächtigen Feinde geboren, und nur durch ihn erklärlich, war er wohl imstande, diesen Fanatismus weiterhin zu nähren und zu kräftigen.

In der nichtjüdischen Welt traf aber dieser Glaube auf ein Unsterblichkeitsbedürfnis der Menschen, das mit den Bedürfnissen des Kampfes nichts zu tun hatte, vielmehr müder Resignation entstammte. Ihm verdankten die philosophischen Anschauungen von der Unsterblichkeit der Seele des Platonismus und Pythagoreismus ihre weite Verbreitung. Aber weit anschaulicher und lebendiger wirkte die Auferstehungshoffnung der Pharisäer auf die wundergläubige, nicht ili abstraktem Denken geübte Masse der Menschen jener Zeit. Gern akzeptierten sie diese Hoffnung, die sie sich aus den jüdischen in ihre andersgearteten Verhältnisse übersetzten.

Nicht zum wenigsten dem Auferstehungsglauben verdankte das Judentum seine propagandistische Wirkung bis zur Zerstörung Jerusalems. Diese raffte die Mehrzahl jener dahin, die das nahe Kommen des Messias fest erwartet hatten, erschütterte den Glauben an dessen baldiges Kommen bei den anderen Juden. Die messianische Erwartung hörte auf, ein Beweggrund praktischer Politik im Judentum zu bilden; sie wurde ein frommer Wunsch, eine wehmütige Sehnsucht. Damit verlor aber auch der Auferstehungsglaube des Pharisäertums seine Wurzeln im jüdischen Denken. Er erhielt sich mit dem Messiasglauben nur noch in der christlichen Gemeinde, die auf diese Weise vom Pharisäertum einen Teil seiner besten propagandistischen Kraft übernahm.

Aber noch größere Kraft als von der bürgerlichen Demokratie, wenn man so sagen darf, gewann sie von den proletarischen Elementen in der Judenschaft.


h. Die Zeloten

Die Pharisäer waren die Vertreter der Masse des Volkes im Gegensatz zur priesterlichen Aristokratie. Aber diese Masse bestand ebenso wie etwa in Frankreich der „dritte Stand“ vor der großen Revolution, selbst wieder aus sehr verschiedenen Elementen mit sehr verschiedenen Interessen, verschiedenen Graden von Kampflust und Kampffähigkeit.

Das gilt sogar für die Juden außerhalb Palästinas. Bildeten sie eine ausschließlich städtische Bevölkerung, die vorwiegend von Handel und Geldgeschäften, Steuerpachtungen und dergleichen lebte, so würde man doch sehr irren, wollte man sich vorstellen, sie habe nur aus reichen Handelsherren und Bankiers bestanden. Wir haben schon darauf hingewiesen, wie viel launischer der Handel ist als das bäuerliche Gewerbe oder das Handwerk. Das galt damals noch weit mehr als heute, wo die Schiffahrt unvollkommener war, der Seeraub üppig gedieh. Und wie viele Existenzen ruinierten die Bürgerkriege!

Aber mußte es zahlreiche Juden geben, die reich gewesen und arm geworden waren, so noch mehr solche, denen es niemals gelang, reich zu werden. Wenn der Handel das Gewerbe war, das ihnen unter den gegebenen Verhältnissen die besten Aussichten bot, so war damit doch nicht jedem schon das Kapital zum Großhandel gegeben. Der Handel der meisten mußte ein dürftiger Hausier- oder Kramhandel bleiben.

Daneben konnten sie auch Handwerke betreiben, die nicht große Kunstfertigkeit und auserlesenen Geschmack erforderten. Wo die Juden zahlreich zusammenwohnten, mußte schon die Eigenart ihrer Sitten und Gebräuche das Bedürfnis nach manchen Handwerkern des eigenen Glaubens erwecken. Wenn wir lesen, daß von den acht Millionen Bewohnern Ägyptens eine Million Juden waren, können diese unmöglich alle vom Handel gelebt haben. In der Tat werden auch jüdische Industrien in Alexandrien erwähnt. Aus anderen Städten wird ebenfalls von jüdischen Handwerkern berichtet.

In manchen Städten, namentlich in Rom, müssen die Juden aber auch als Sklaven und daher als Freigelassene ziemlich stark vertreten gewesen sein. Ihre steten unglücklichen Kämpfe und Aufstandsversuche lieferten immer wieder von neuem Kriegsgefangene, die in die Sklaverei verkauft wurden.

Aus allen diesen Klassen, die zum Teil schon dem Proletariat sehr nahe standen, bildete sich ein Bodensatz von Lumpenproletariern, der stellenweise sehr stark wurde. So fielen zum Beispiel unter den Proletariern Roms die jüdischen Bettler besonders auf. Martial beschreibt einmal das Straßenleben der Hauptstadt. Unter den auf der Straße arbeitenden Handwerkern, den Prozessionen der Priester, den Gauklern und Hausierern erwähnt er da auch den Judenjungen, den seine Mutter zum Betteln ausschickt. Juvenal spricht in seiner dritten Satire vom Hain der Egeria, der „jetzt an die Juden verpachtet ist, deren ganzer Hausrat aus einem Korb und einem Bündel Heu besteht. Denn jeder Baum muß uns jetzt Profit bringen. Bettler haben jetzt den Wald, vertrieben sind die Musen.“ [39]

Das ist freilich ein Zeugnis aus der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems, aus der Regierung Domitians, der die Juden aus Rom vertrieben hatte und ihnen gegen ein Kopfgeld den Aufenthalt in diesem Hain gestattete. Jedenfalls bezeugt es das Vorhandensein einer großen Zahl jüdischer Bettler in Rom.

Der Schnorrer war damals schon eine bemerkenswerte Erscheinung im Judentum.

Die Lumpenproletarier bildeten natürlich ein sehr mobiles Element.

Das vornehmste Ziel der Wanderungen der jüdischen Schnorrer war aber sicher Jerusalem. Dort fühlten sie sich zu Hause, dort brauchten sie nicht zu fürchten, von einer feindseligen oder doch verständnislosen Bevölkerung verhöhnt und mißhandelt zu werden. Dort sammelten sich auch die wohlhabenden Pilger aus den verschiedensten Gegenden der Welt in großen Massen, dort war ihre religiöse Rührung und damit auch ihre Wohltätigkeit am größten.

Es gab zur Zeit Christi keine große Stadt, die nicht ein zahlreiches Lumpenproletariat gesammelt hätte. Nächst Rom wird aber Jerusalem, wenigstens relativ, das meiste Proletariat dieser Art enthalten haben; denn hier wie dort wurde es aus dem ganzen Reiche angezogen. Diesem Proletariat standen die Handwerker zu jener Zeit noch sehr nahe, wie wir schon gesehen; sie waren ja in der Regel nichts als Heimarbeiter, und solche zählen heute auch zu den Proletariern. Leicht kamen sie dazu, mit Bettlern und Lastträgern gemeinsame Sache zu machen.

Wo aber solche besitzlose Volksschichten in großen Massen beisammensitzen, da zeigten sie sich besonders kampflustig. Sie haben nicht, wie die Besitzenden, etwas zu verlieren; ihre soziale Lage ist unerträglich und durch Warten haben sie nichts zu gewinnen. Das Bewußtsein ihrer großen Masse macht sie kühn. Überdies konnte in den engen, gewundenen Straßen jener Zeit das Militär seine Übermacht nur schlecht entfalten. Sowenig die städtischen Proletarier zum Kriegsdienst in freiem Felde taugten, so unsicher sie sich dabei meist benahmen, im Straßenkampf stellten sie ihren Mann. Das zeigten die Erfahrungen in Alexandrien wie in Jerusalem.

Dies Proletariat war in Jerusalem von ganz anderer Kampflust beseelt, als die Besitzenden und die Intellektuellen, aus denen sich das Pharisäertum rekrutierte. In normalen Zeiten ließen sich freilich die Proletarier von den Pharisäern leiten. Als sich aber die Gegensätze zwischen Jerusalem und Rom zuspitzten, als die Entscheidung immer näher rückte, da wurde das Pharisäertum immer vorsichtiger und zaghafter und es kam immer mehr in Konflikt mit den vorwärtsdrängenden Proletariern.

Eine kräftige Stütze fanden diese in der Landbevölkerung von Galiläa. Wie überall im römischen Reiche wurden auch dort die Zwergbauern und Hirten durch Steuerdruck und Wucher aufs äußerste ausgesogen, in Schuldknechtschaft gestürzt oder expropriiert. Ein Teil von ihnen dürfte das Proletariat Jerusalems verstärkt haben. Aber wie in anderen Gegenden des Reiches griffen auch dort die energischsten unter den Expropriierten und zur Verzweiflung Getriebenen zur gewaltsamen Erhebung,·zum Räuberwesen. Die Nähe der Wüste, die noch beduinische Gewohnheiten wach hielt, erleichterte auch den Kampf. Sie lieferte zahlreiche Schlupfwinkel, die nur die Kenner des Landes fanden. Galiläa selbst aber mit seinem zerrissenen, höhlenreichen Boden bot dem Räuberhandwerk nicht minder günstige Bedingungen. Die Fahne, unter der die Räuber kämpften, war die Messiaserwartung. Wie heute in Rußland die Revolution von jedem Räuber als Vorwand genommen wird, seine „Expropriationen“ zu vollziehen; wie andererseits der Drang, der Revolution zu nützen, manchen naiven, tatenlustigen Empörer zum Räuber macht, so war es auch in Galiläa. Räuberhäuptlinge gaben sich als Messias oder doch dessen Vorläufer aus, und Schwärmer, die sich zum Amte des Propheten oder Messias berufen fühlten, wurden zu Räuberhäuptlingen.

Die Räuber Galiläas und die Proletarier Jerusalem standen in steter Verbindung miteinander, unterstützten einander und bildeten endlich eine gemeinsame Partei im Gegensatz zu den Pharisäern, die der Zeloten oder Eiferer. Der Gegensatz zwischen beiden weist viele Berührungspunkte auf mit dem zwischen Girondisten und Jakobinern.

Die Verbindung zwischen den Proletariern Jerusalems und den bewaffneten Banden Galiläas und ihr Tatendrang tritt gerade von der Zeit Christi an deutlich zutage.

Während Herodes’ letzter Krankheit (4 v. Chr.) erhob sich schon das Volk Jerusalems in gewaltigem Tumult gegen die Neuerungen, die er vorgenommen hatte; vor allem richtete sich die Wut gegen einen goldenen Adler, den Herodes über dem Tempel hatte anbringen lassen. Mit Waffengewalt wurde der Tumult gestillt. Aber nach Herodes’ Tode erhob sich das Volk nochmals, zu Ostern, und diesmal so machtvoll, daß es erst nach großem Blutvergießen den Truppen des Archelaus, des Sohnes des Herodes, gelang, den Aufstand niederzuwerfen. Dreitausend Juden wurden erschlagen. Auch das stillte noch nicht den Kampfesdrang der Volksmasse Jerusalems. Als Archelaus nach Rom reiste, um sich dort als König bestätigen zu lassen, erhob sich das Volk von neuem. Jetzt griffen die Römer ein. Varus, derselbe, der später im Kampfe gegen die Cherusker fiel, verwaltete damals Syrien. Er eilte nach Jerusalem, schlug den Aufstand nieder, ging dann wieder nach Antiochien zurück und ließ eine Legion in Jerusalem unter dem „Landpfleger“ (Prokurator) Sabinus. Dieser bedrängte im Vertrauen auf seine Kriegsmacht die Juden aufs äußerste, plünderte und raubte, was er konnte. Das schlug dem Fasse den Boden aus. Zu Pfingsten kam zahlreiches Volk in Jerusalem zusammen, darunter besonders viele Galiläer. Sie waren stark genug, die römische Legion samt den Soldtruppen, die Herodes geworben und hinterlassen hatte, einzuschließen und zu belagern. Vergebens machten die Römer Ausfälle, in denen sie zahlreiche Juden töteten. Die Belagerer wichen nicht. Sie erreichten es, daß sogar ein Teil der Truppen des Herodes zu ihnen überging.

Gleichzeitig aber erhob sich der Aufruhr im Lande. Die Briganten von Galiläa fanden jetzt starken Zulauf und bildeten ganze Heere. Ihre Führer ließen sich als Könige der Juden, also wohl als Messias, ausrufen. Unter ihnen ragte besonders Judas hervor, dessen Vater Ezechias bereits ein berühmter Räuber gewesen und als solcher hingerichtet worden war (47 v. Chr.). In Peräa sammelte ein ehemaliger Sklave des Herodes, Simon, eine Bande, eine dritte wurde von dem Hirten Athronges befehligt.

Nur mit Mühe wurden die Römer mit dem Aufstand fertig, nachdem Varus mit zwei Legionen und zahlreichen Hilfsvölkern den Belagerten in Jerusalem zu Hilfe gekommen war. Ein unsägliches Morden und Plündern begann, zweitausend der Gefangenen wurden ans Kreuz geschlagen, viele andere in die Sklaverei verkauft.

Das war zu der Zeit, in die Christi Geburt verlegt wird.

Nun gab es für einige Jahre Ruhe. Aber nicht lange. Im Jahre 6 n. Chr. kam Judäa direkt unter römische Verwaltung. Die erste Maßregel der Römer bestand in der Vornahme eines Zensus, um danach die Steuern zu bemessen. Die Antwort bildete ein neuerlicher Aufstandsversuch Judas des Galiläers, jedenfalls desselben, der schon zehn Jahre vorher im Aufstand so hervorgetreten war. Er tat sich zusammen mit dem Pharisäer Sadduk, der das Volk Jerusalems aufreizen sollte. Praktischen Erfolg hatte dieser Versuch nicht, aber er führte den Bruch der niederen Volksmassen und der rebellischen Galiläer mit den Pharisäern herbei. Im Aufstand von 4 v. Chr. waren sie noch alle zusammengegangen. Nun hatten die Pharisäer genug und wollten nicht mehr mittun. Jetzt bildete sich daher im Gegensatz zu ihnen die Partei der Zeloten. Von da an erlosch das Feuer des Aufruhrs nie völlig in Judäa und Galiläa bis zur Zerstörung Jerusalems.

Josephus berichtet darüber von seinem pharisäischen Standpunkt aus:

„Hernach reizte Judas, ein Gaulaniter, ans der Stadt Gamala, mit Beihilfe Sadduks, eines Pharisäers, das Volk zum Aufruhr auf, indem sie den Leuten vorstellten, sie würden Sklaven, wenn sie sich der Schätzung des Vermögens unterwürfen, und sie sollten ihre Freiheit schützen. Sie wiesen darauf hin, daß sie dadurch nicht nur ihre Güter erhalten, sondern noch eine weit größere Glückseligkeit erlangen würden, denn durch ihre Kühnheit müßten sie große Ehre und Ruhm erringen. Gott würde ihnen dazu nicht anders verhelfen, als wenn sie kraftvolle Entschlüsse faßten und keine Mühe scheuten, sie durchzuführen. Die Leute hörten das gern und wurden ganz beherzt zu kühnen Taten.

„Man kann nicht genügend schildern, wie viel Böses diese zwei Männer im Volke angerichtet haben. Es gab kein übel, das sie nicht herbeiführten. Sie erregten einen Krieg nach dem anderen. Bei ihnen herrschte beständige Gewalttätigkeit; wer dagegen auftrat und sprach, mußte es mit dem Leben bezahlen. Räuber wüteten im Lande. Die vornehmsten Leute wurden angeblich zur Rettung der Freiheit umgebracht; in Wirklichkeit geschah es aus Habgier und dem Drange, ihre Güter zu rauben. Darauf erfolgten vielfache Empörungen und allgemeines Blutvergießen, indem einesteils die Leute des Landes selbst wider einander tobten, und eine Partei die andere niederzuwerfen suchte, andernteils aber die äußeren Feinde sie niedermachten. Zuletzt kam zu alledem noch Hungersnot, die alle Schranken aufhob und die Städte in das äußerste Verderben stürzte, bis endlich der Tempel Gottes durch die Feinde eingeäschert wurde. So gereichten die Neuerungen und Abänderungen der alten Gewohnheiten den Empörern selbst zum Verderben. In dieser Weise haben Judas und Sadduk, die eine vierte Lehre einführten und sich viele Anhänger machten, nicht allein den Staat zu ihrer Zeit beunruhigt, sondern auch durch diese neue Lehre, von der man zuvor nichts wußte, zu allem Übel Anlaß gegeben, das nachmals entstand ... Die jungen Leute, die ihr anhingen, haben uns den Untergang gebracht.“ (Altert., XVIII, 1, 1)

Am Schluss desselben Kapitels aber spricht Josephus mit weit mehr Respekt von denselben Zeloten, die er an dessen Anfang so schmäht. Er sagt da:

„Die vierte dieser Lehren (neben der der Pharisäer, Sadduzäer und Essener) führte Judas der Galiläer ein. Seine Anhänger hielten es in allen Stücken mit den Pharisäern, außer daß sie eine hartnäckige Liebe zur Freiheit zeigten und erklärten, man dürfe nur Gott allein als Herrn und Fürsten anerkennen. Sie leiden viel lieber die größte Marter und lassen auch eher ihre Freunde und Verwandten martern, ehe sie einen Menschen ihren Herrn nennen. Ich will aber davon nicht weitläufig handeln, weil es genügend bekannt ist, welche Hartnäckigkeit sie in solchen Dingen bewiesen haben. Ich besorge nicht, daß man mir nicht glauben wird, sondern vielmehr, daß ich nicht Worte finde, um genügend zu beschreiben, mit welchem Heldenmut und welcher Standhaftigkeit sie die größten Martern dulden. Diese Tollheit steckte wie eine ansteckende Krankheit das ganze Volk an, als der Landpfleger Gessius Florus (64 bis 66 n. Chr.) seine Gewalt gegen sie so mißbrauchte, daß er sie zur Verzweiflung und zum Abfall von den Römern trieb.“

Je drückender das römische Joch wurde, je größer die Verzweiflung der jüdischen Volksmassen, um so mehr entschlüpften sie dem Einfluß des Pharisäertums und wurden sie vom Zelotismus angezogen. Gleichzeitig aber erzeugte dieser wieder Nebenprodukte besonderer Art.

Eines davon war die verzückte Schwärmerei. Wissen gehörte nicht zu den Kennzeichen des antiken Proletariers, auch nicht Wissensdrang. Mehr als jede andere Volksschicht abhängig von gesellschaftlichen Mächten, die er nicht begriff, die ihm als unheimliche erschienen; mehr als jede andere in einer verzweifelten Lage, in der man sich angstvoll an jeden Strohhalm klammert, war er dem Wunderglauben besonders ergeben, faßte die messianische Prophezeiung besonders tiefe Wurzeln in ihm, wurde er dadurch mehr noch als alle anderen zur völligen Verkennung aller wirklichen Verhältnisse, zur Erwartung des Unmöglichsten getrieben.

Jeder Schwärmer, der sich für einen Messias ausgab und durch seine Wundertaten das Volk zu befreien versprach, fand da Anhang. Einer dieser Art war der Prophet Theudas unter dem Landpfleger Fadus (von 44 n. Chr. an), der eine Menge Volk mit sich an den Jordan führte, wo sie von den Reitern des Fadus zersprengt wurden. Theudas selbst wurde gefangen und geköpft.

Unter dem Prokurator Felix (52 bis 60 n. Chr.) nahm das Schwärmerwesen noch mehr überhand:

„Da war eine Bande von Bösewichtern, die zwar nicht mordeten, aber gottlos dachten und nicht weniger als die Mörder selbst die Stadt (Jerusalem) unruhig und unsicher machten. Denn sie waren verführerische Betrüger, die unter dem Vorgeben göttlicher Offenbarung allerhand Neuerungen predigten und das Volk zum Aufruhr bewegten. Sie lockten es in die Wüste hinaus und gaben vor, Gott würde sie ein Zeichen der Freiheit sehen lassen. Da Felix annahm, dies sei der Anfang der Empörung, sandte er gegen sie Soldaten aus, Reiter wie Fußvolk, und ließ eine große Anzahl erschlagen.

„Noch größeres Unheil brachte über die Juden ein falscher Prophet aus Ägypten (das heißt ein ägyptischer Jude. – K.). Er war ein Zauberer und brachte es durch seine Zauberwerke zuwege, daß er für einen Propheten gehalten wurde. Er verführte an 30.000 Menschen, die ihm anhingen. Diese führte er aus der Wüste auf den sogenannten Ölberg, um von dort aus in Jerusalem einzudringen, die römische Besatzung zu überwinden und die Herrschaft über das Volk zu erobern. Sobald Felix von seinem Anschlag Kunde erhielt, ging er ihm mit den römischen Soldaten und dem ganzen Volke entgegen, soweit es sich bereit zeigte, für das gemeine Wohl einzutreten, und lieferte ihm eine Schlacht. Der Ägypter kam mit einigen wenigen davon. Die meisten wurden gefangen. Der Rest verbarg sich im Lande.

„Kaum war dieser Aufruhr gestillt, so brach abermals, gleichsam wie aus einem kranken und angesteckten Körper, eine neue Seuche hervor. Einige Zauberer und Mörder taten sich zusammen und erwarben sich großen Anhang. Sie riefen jedermann zur Erlangung der Freiheit auf und drohten denjenigen den Tod, die hinfort der römischen Obrigkeit untertan und gehorsam sein wollten, indem sie sagten: Man müsse jene wider Willen befreien, die sich gutwillig unter das Joch der Knechtschaft beugten.

„Sie durchzogen das ganze jüdische Land, plünderten die Häuser der Reichen, brachten die Leute darin um, zündeten die Dörfer an und hausten so scheußlich, daß durch sie das ganze jüdische Volk bedrängt wurde. Und von Tag zu Tag griff diese verderbliche Seuche mehr um sich.“ [40]

Innerhalb Jerusalems selbst war der offene Aufruhr gegen die römische Kriegsmacht nicht leicht. Hier griffen die erbittertsten Feinde des herrschenden Regiments zum Meuchelmord. Unter dem Landpfleger Felix, unter dem die Räober und Schwärmer überhand nahmen, bildete sich auch eine Sekte von Terroristen. Explosivstoffe waren damals noch nicht erfunden. Die Lieblingswaffe der Terroristen wurde ein krummer Dolch, den sie unter dem Mantel versteckten. Nach diesem Dolche (sica) wurden sie Sikarier genannt.

Das verzweifelte Wüten aller dieser Verfechter der Volkssache war nur die unvermeidliche Antwort auf das schamlose Wüten der Unterdrücker des Volkes. Man höre nur, wie Josephus, der alle diese Dinge mitgemacht hat, das Treiben der beiden letzten Landpfleger schildert, die Judäa vor der Zerstörung Jerusalems regierten:

Festus bekam die Landpflegerstelle (60 bis 62). Er stellte den Räubern ernstlich nach, die das jüdische Land heimsuchten, ergriff und tötete viele. Sein Nachfolger Albinus (62 bis 64) folgte ihm darin leider nicht. Ihm war kein Verbrechen und kein Laster zu groß, das er nicht vollbracht und ausgeübt hätte. Er unterschlug nicht nur öffentliche Gelder in der Staatsverwaltung, sondern griff auch das Privateigentum der Untertanen an und zog es mit Gewalt an sich. Er beschwerte das Volk mit großen und unbilligen Steuern. Die Räuber, die von den Obrigkeiten in den Städten oder von seinen Vorgängern ins Gefängnis gesetzt worden waren, ließ er für ein Stück Geld wieder frei und nur diejenigen waren Verbrecher und blieben gefangen, die nichts zahlen konnten. Dadurch wuchs die Kühnheit der Umsturzmänner in Jerusalem. Die Reichen vermochten bei Albinus durch Geschenke und Gaben so viel, daß er es ihnen nachsah, wenn sie ein Gefolge um sich sammelten. Die Volksmasse aber, die Ruhe nicht liebt, begann, ihnen anzuhängen, weil Albinus sie begünstigte. Daher umgab sich ein jeder Bösewicht mit einer Rotte, an der er selbst als oberster Erzgauner hervorragte, der durch seine Söldner alle guten Bürger ausplündern und bestehlen ließ. Die Beraubten schwiegen still, und jene, die noch nicht beraubt waren, schmeichelten noch den henkermäßigen Buben, aus Furcht, sonst gleiches zu erfahren. Kein Mensch durfte sich beschweren, denn der Druck war zu groß. So wurde der Keim zum Untergang unserer Stadt gelegt.

„Wie wohl Albinus so schändlich und bösartig hauste, übertraf ihn doch weit sein Nachfolger, Gessius Florus (64 bis 66), so daß bei einer Vergleichung der beiden Albinus immer noch als der bessere erscheinen würde. Denn Albinus vollzog seine Untaten heimlich und wußte allen einen guten Schein zu geben. Jener aber tat alles öffentlich, als wenn er seinen Ruhm darin suchte, unser Volk zu mißhandeln. Er raubte, er plünderte, er strafte und geberdete sich so, wie wenn er nicht als Landpfleger geschickt wäre, sondern als Henker, die Juden zu peinigen. Wo er Milde üben sollte, übte er Grausamkeit. Dazu war er noch frech und verlogen, und niemand hat mehr Kniffe erfinden können, die Leute zu betrügen, wie er. Es genügte ihm nicht, einzelne Privatleute auszusaugen und aus ihrer Schädigung Gewinn zu ziehen. Er plünderte ganze Städte und ruinierte das gesamte Volk. Es fehlte nur noch, daß er öffentlich ausrufen ließ: man möge rauben und stehlen, wie man wolle, wenn man nur ihm seinen Anteil davon gebe. So geschah, daß das ganze Land verödete, da viele ihr Vaterland verließen und in die Fremde zogen.“ [41]

Wer glaubt nicht, einen Bericht über das Wüten russischer Tschinowniks zu lesen!

Unter Florus kam es endlich zu dem großen Aufstand, in dem sich das ganze Volk mit voller Wucht gegen seine Peiniger erhob. Als er daran ging, den Tempel zu plündern, im Mai 66, da empörte sich Jerusalem. Oder vielmehr, empörten sich die unteren Klassen in Jerusalem. Die Mehrzahl der Besitzenden, Pharisäer wie Sadduzäer, fürchtete die Empörung, verlangte nach Frieden. Mit der Rebellion gegen die Römer begann auch der Bürgerkrieg. Dabei siegte die Kriegspartei. Die Friedenspartei unterlag im Straßenkampf, aber auch die römische Besatzung in Jerusalem wurde zum Abzug gezwungen und dabei niedergemacht.

So groß war der streitbare Enthusiasmus der Insurgenten, daß es ihnen gelang, ein Entsatzheer von 30.000 Mann, das der syrische Legat Cestius Gallus herbeiführte, in die Flucht zu schlagen.

In ganz Palästina erhob sich die Judenschaft im Aufruhr und weit über Palästina hinaus. Die Empörung der Juden in Alexandria erforderte das Aufgebot aller militärischen Kräfte der Römer in Ägypten.

Eine Niederwerfung Roms durch das Judentum stand freilich außer Frage. Dazu war dieses zu schwach, zu ausschließlich städtisch. Aber immerhin hätte es vielleicht den Römern noch für einige Zeit etwas Schonung Judäas abzwingen können, wenn die Aufständischen sofort energisch an die Offensive gingen, die errungenen Vorteile weiter verfolgten. Die Verhältnisse wären ihnen bald zu Hilfe gekommen. Im zweiten Jahre des jüdischen Krieges empörten sich im Westen des Reiches die Soldaten gegen Nero, die Kämpfe der Legionen untereinander dauerten auch nach dessen Tod (9. Juni 68) fort; Vespasianus, der Oberbefehlshaber des Heeres, das Judäa wieder unterwerfen sollte, schenkte den Ereignissen des Westens, in denen um das Reich gerungen wurde, mehr Aufmerksamkeit als dem kleinen Lokalkrieg, in den er verwickelt war.

Die einzige, ohnehin geringe Chance, welche die Empörer hatten, wurde jedoch verpaßt. Wohl waren es die unteren Klassen gewesen, die den Römern den Krieg erklärt und die jüdische Friedenspartei niedergeworfen hatten. Aber noch besaßen die Besitzenden und Gebildeten Ei1ifluß genug, die Führung des Krieges gegen die Römer in die Hände zu bekommen. Das bedeutete, daß er nur zaghaft, nur mit halbem Herzen geführt wurde, nicht in der Absicht, den Gegner niederzuschlagen, sondern nur in der, sich mit ihm zu vergleichen. Allzulange ging das freilich nicht. Schließlich merkten die Empörer, mit welcher Lauheit ihre Führer kämpften, und nun vermochten die Zeloten die Führung des Kampfes an sich zu reißen.

„Von seiten der fanatischen Volkspartei schrieb man – und nicht mit Unrecht – den unglücklichen Verlauf der Dinge dem Mangel an Energie in der bisherigen Leitung des Krieges zu. Die Männer des Volkes setzten daher alles daran, sich selbst der Lage zu bemächtigen und die bisherigen Führer zu verdrängen. Da diese nicht freiwillig ihre Stellung räumten, so kam es im Winter 67/68 in Jerusalem zu einem furchtbar blutigen Bürgerkrieg und zu Greuelszenen, wie sie außerdem nur die erste französische Revolution aufzuweisen hatte.“ [42]

Der Vergleich mit der französischen Revolution drängt sich in der Tat jedem Beschauer dieser Dinge auf. Aber wenn für Frankreich das Schreckensregiment zum Mittel wurde, die Revolution zu retten und zu sieghaftem Vordringen gegen ganz Europa zu befähigen, so war für Jerusalem ein solcher Erfolg bei der Lage der Dinge von vornherein ausgeschlossen. Das Schreckensregiment der unteren Klassen kam dort sogar zu spät, um auch nur eine zeitweilige Galgenfrist für das jüdische Staatswesen zu erringen, dessen Tage gezählt waren. Es vermochte nur noch den Kampf zu verlängern, seine Leiden zu steigern, das Wüten des schließlichen Siegers grauenvoller zu gestalten. Aber freilich vermochte es auch der Welt ein Denkmal von Ausdauer, Heldenmut und Hingebung zu geben, das aus dem Schmutz allgemeiner Feigheit und Selbstsucht jener Zeit einsam, aber um so gewaltiger hervorragt.

Es war nicht das gesamte Judentum Jerusalems, das den hoffnungslosen Riesenkampf gegen den übermächtigen Feind noch drei Jahre lang, bis zum September 70, aufs tapferste, zäheste und scharfsinnigste führte, jeden Zoll Bodens mit Leichen bedeckend, ehe es ihn aufgab, um schließlich, von Hunger und Krankheiten entkräftet, in den brennenden Ruinen sein Grab zu finden. Die Priester, die Schriftgelehrten, die Kaufherren, sie hatten sich zum großen Teile schon bei Beginn der Belagerung in Sicherheit gebracht. Es waren die kleinen Handwerker und Krämer wie die Proletarier Jerusalems, die zu den Heroen ihrer Nation wurden, im Verein mit proletarisierten Bauern Galiläas, welche sich nach Jerusalem durchgeschlagen hatten.

Das war die Atmosphäre, in der die christliche Gemeinde entstand. Sie bietet ganz und gar nicht jenes lachende Bild, das uns Renan in seinem Leben Jesu von dessen Umgebung entwirft – freilich nicht auf die Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände jener Zeit, sondern auf die malerischen Eindrücke gestützt, die der moderne Tourist in Galiläa empfängt. Daher bringt er es fertig, uns in seinem Roman von Jesus (Leben Jesu) zu versichern, dieses schöne Land habe zu Jesu Zeiten „in Fülle, Fröhlichkeit und Wohlbehagen gestrotzt“, so daß „jede Geschichte der Entstehung des Christentums sich zu einer lieblichen Idylle gestaltet“.

So lieblich, wie der wunderschöne Monat Mai 1871 in Paris.


i. Die Essener

Indessen muß man zugeben, daß inmitten des Schauergemäldes von Jammer und Blut, das die Geschichte Judäas im. Zeitalter Christi darstellt, eine Erscheinung auftaucht, die den Eindruck einer friedlichen Idylle erweckt. Es ist der Orden der Essener oder Essäer, der nach Josephus um das Jahr 150 v. Chr, entstand und bis zur Zerstörung Jerusalems dauerte. [43] Von da an verschwindet er in der Geschichte.

Wie das Zelotentum, war auch er offenbar proletarischen Ursprunges, aber ganz anderen Charakters. Die Zeloten entwickelten keine eigene Gesellschaftsauffassung. Sie unterschieden sich von den Pharisäern nicht im Ziele, sondern in den Mitteln, in der Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit, womit sie es zu erreichen suchten. War das Ziel erreicht, Jerusalem an Stelle Roms als Herrin der Welt getreten, flossen dem Judentum alle die Schätze zu, die das Römervolk an sich zog, dann mußte für alle Klassen jegliche Not ein Ende haben. So schien der Nationalismus auch für die Proletarier den Sozialismus überflüssig zu machen. Die proletarische Eigenart trat bei den Zeloten nur in der Energie, im Fanatismus ihres Patriotentums zutage.

Aber nicht alle Proletarier mochten warten, bis der Messias das neue, weltbeherrschende Jerusalem herbeiführte. Manche suchten sofort ihre Lage zu verbessern, und da ihnen die Politik nicht rasche Abhilfe zu versprechen schien, machten sie sich an eine ökonomische Organisation.

Diesem Gedankengang dürfte das Essenertum seine Entstehung verdanken. Überliefert ist darüber nichts. Feststeht dagegen sein Charakter, und der besteht in einem ausgesprochenen Kommunismus. Sie wohnten, zu des Josephus Zeit 4.000 Mann stark, in verschiedenen Dörfern und Landstädten Judäas in Ordenshäusern zusammen.

„Sie wohnen dort zusammen“, erzählt Philo von ihnen, „nach Korporationen, Freundschaftsbünden, Tischgesellschaften organisiert (κατὰ ϑάσους, ἑταιρίας καὶ συσσίτια ποιούμενοι) und regelmäßig mit Arbeiten für die Gemeinschaft beschäftigt.

„Keiner will auch eigenen Besitz haben, weder ein Haus, noch einen Sklaven, noch ein Grundstück, noch Herden, noch was sonst irgendwie Reichtum verschafft. Sondern indem sie alles ohne Unterschied zusammenlegen, haben sie alle gemeinsamen Nutzen davon.

„Das Geld, welches sie sich durch verschiedenartige Arbeit erwerben, geben sie einem erwählten Verwalter. Dieser empfängt es und kauft davon, was nötig ist, und spendet reichliche Nahrung und was sonst das Leben erheischt.“

Danach könnte man annehmen, daß jeder für sich produzierte oder um Lohn arbeitete.

Josephus beschreibt ihr Leben folgendermaßen:

„Danach (nach dem Morgengebet) werden sie von ihren Vorstehern entlassen und geht jeder an die Arbeit, die er gelernt hat, und wenn sie bis zur fünften Stunde (von Sonnenaufgang an, also bis 11 Uhr) fleißig gearbeitet haben, versammeln sie sich an einem bestimmten Ort, gürten sich mit leinenen Tüchern und waschen den Körper mit kaltem Wasser. Nach dieser Reinigung gehen sie in ihr Speisehaus, wohin niemand Zutritt hat, der nicht zu ihrer Sekte gehört. Sie kommen so sauber und rein dahin, wie in einen Tempel. Wenn sie sich daselbst still niedergesetzt haben, kommt der Bäcker und legt einem jeden sein Brot vor, und der Koch stellt gleichfalls vor einen jeden eine Schüssel mit einer Speise hin, dann kommt der Priester und segnet die Speise. Und es ist nicht gestattet, etwas zu verkosten, ehe man gebetet. Nach vollbrachtem Mittagsmahl sprechen sie in gleicher Weise die Danksagung und preisen also am Anfang und Beschluß des Essens Gott, als Spender aller Nahrung. Alsdann legen sie ihre Gewänder wie ein heiliges Kleid wieder ab und machen sich wieder an ihre Arbeit bis zum Abend. Das Nachtessen vollziehen sie ebenso wie das Mittagessen, und wenn Gäste kommen (jedenfalls Ordensmitglieder von auswärts, denn Fremde hatten ja zum Speisehaus nicht Zutritt. – K.), so lassen sie diese mit sich zu Tisch sitzen. Weder Geschrei noch Unruhe verunehrt das Haus, und wenn sie miteinander reden, spricht einer nach dem anderen, nicht alle zugleich, so daß den Leuten, die außer ihrem Hause sind, das stille Wesen im Hause wie ein ehrfurchtgebietendes Mysterium erscheint. Die Ursache ihres stillen Lebens ist die stete Mäßigkeit, weil sie nicht mehr essen und trinken, als die Erhaltung ihres Lebens erfordert.

„Im allgemeinen vollziehn sie keine Arbeit ohne Auftrag ihrer Vorsteher, doch dürfen sie nach freiem Ermessen Mitleid und Hilfsbereitschaft betätigen. So oft es ein Notstand erfordert, kann ein jeder denen, die Hilfe brauchen u1id verdienen, beistehn, auch den Armen Nahrung zutragen. Aber den Freunden und Verwandten dürfen sie ohne Vorwissen ihres Vorstehers oder Verwalters nichts zukommen lassen.“

Der Kommunismus war bei ihnen aufs äußerste getrieben. Er erstreckte sich bis auf die Kleider. So sagt Philo:

„Nicht nur die Speise, sondern auch die Kleidung ist ihnen gemeinsam. Für den Winter nämlich sind dicke Mäntel vorhanden und für den Sommer leichte Überwürfe, so daß jeder nach Belieben davon Gebrauch machen kann. Denn was einer hat, gilt als Besitztum aller, und was sie alle haben, als das jedes einzelnen.“

Die Sklaverei verwarfen sie, Ackerbau war ihre Hauptarbeit, doch trieben sie auch Handwerke. Nur die Anfertigung von Luxuswaren und Werkzeugen des Krieges war verpönt. Ebenso der Handel.

Die Grundlage des ganzen kommunistischen Systems war die Gemeinsamkeit des Konsums, nicht die gesellschaftliche Produktion. Wohl ist auch von solcher die Rede, daneben aber von Arbeiten, die dem einzelnen Geld einbringen, entweder als Lohn oder für verkaufte Waren, das sind aber Arbeiten, die außerhalb des gesellschaftlichen Organismus vollzogen werden. Dagegen besteht für alle Ordensmitglieder die Gemeinsamkeit der Wohnung und der Mahlzeit. Das ist es, was sie vor allem zusammenhält. Es ist der Kommunismus des gemeinsamen Haushaltes. Der erfordert aber das Aufgeben des gesonderten Haushaltes, das Aufgeben der Sonderfamilie, damit aber auch der Sonderehe.

In der Tat finden wir bei allen Organisationen, die auf dem Kommunismus der Genußmittel, der Gemeinsamkeit des Haushaltes, beruhen, daß ihnen die Einzelehe Schwierigkeiten verursacht, daß sie suchen, sie aufzuheben. Dafür gibt es zwei Wege – die schroffsten Extreme der geschlechtlichen Verhältnisse, die einander völlig auszuschließen scheinen, die größte Keuschheit und die größte „Unzucht“. Und doch stehen beide Wege den kommunistischen Organisationen der fraglichen Art gleich nahe. Von den Essenern an durch alle christlichen kommunistischen Sekten bis zu den sektiererischen kommunistischen Kolonien in den Vereinigten Staaten unserer Tage läßt sich’s verfolgen, daß sie alle der Ehe abgeneigt sind, aber ebenso zur Weibergemeinschaft neigen wie zum strengen Zölibat.

Das wäre undenkbar, wenn einfache ideologische Erwägungen zu diesem Kommunismus und seinem Überbau an Ideen führten. Es erklärt sich unschwer aus seinen ökonomischen Bedingungen.

Die Mehrzahl der Essener verwarf jegliche Berührung eines Weibes.

„Sie verachten die Ehe, doch nehmen sie fremde Kinder an, wenn sie noch jung und belehrbar sind, halten sie wie eigene Kinder und unterweisen sie in ihren Sitten und Gebräuche. Nicht, daß sie die Ehe und die Fortpflanzung der Menschen aufheben oder verbieten wollten. Aber sie sagen, man müsse sich stets vor der Unkeuschheit der Weiber hüten, da sich keine mit einem Manne allein begnüge.“

Das sagt Josephus im 8. Kapitel des 2. Buches seiner Geschichte des jüdischen Krieges, dem die bisherigen Zitate über die Essener entnommen sind. Im 18. Buche seiner jüdischen Altertümer, 1. Kapitel, äußert er sich ebenfalls darüber:

„Sie nehmen keine Frauen und halten keine Sklaven. Sie meinen, das letztere sei ein Unrecht, das erstere aber gebe Anlaß zu Zwistigkeiten.“

Hier wie dort gibt er mir praktische Erwägungen, nicht asketischen Drang als Grund der Ehefeindschaft an. Josephus kannte die Essener aus eigener Anschauung. Er war nacheinander bei den Sadduzäern, Essenern und Pharisäern gewesen, bis er bei diesen blieb.

Josephus ist also am besten in der Lage, uns zu sagen, womit die Essener ihre Weiberfeindschaft begründeten. Damit ist nicht gesagt, daß diese Erwägungen den letzten Grund dafür abgaben. Man muß stets unterscheiden zwischen den Argumenten, die jemand zur Begründung seines Tuns vorbringt, und den psychologischen Motiven, die jenes Tun wirklich verursachen. Nur die wenigsten Menschen sind sich dieser Motive klar bewußt. Unsere Historiker lieben es aber, die Argumente, die ihnen überliefert werden, für die wirklichen Motive der historischen Handlungen und Verhältnisse zu nehmen. Das Forschen nach den wirklichen Motiven verwerfen sie als willkürliche „Konstruktion“, das heißt, sie verlangen, unsere historische Erkenntnis soll nie einen höheren Standpunkt erreichen, als sie zu der Zeit gewonnen hatte, aus der unsere Quellen stammen. Das ganze ungeheure Tatsachenmaterial, das sich seitdem aufgehäuft hat und das uns ermöglicht, das Wesentliche und Typische in den verschiedensten historischen Erscheinungen vom Unwesentlichen und Zufälligen zu scheiden und die wirklichen Motive der Menschen hinter ihren vermeintlichen zu entdecken – alles das soll für uns nicht existieren!

Wer die Geschichte des Kommunismus kennt, begreift sofort, daß es nicht die Natur der Weiber, sondern die des kommunistischen Haushaltes war, die den Essenern die Ehe verekelte. Wo viele Männlein und Weiblein in gemeinsamem Haushalt zusammenlebten, da lag die Verführung zu Ehebruch und ehelichen Zwisten aus Eifersucht zu nahe. Wollte man diese Art des Haushaltes nicht missen, wurde man gedrängt, entweder auf das Zusammensein der Männer mit den Frauen oder auf die Einehe zu verzichten.

Nicht alle Essener taten das erstere. Josephus berichtet in dem schon mehrfach zitierten achten Kapitel des zweiten Buches vom jüdischen Krieg:

„Es gibt auch noch eine andere Art der Essenern, die sich den vorigen in der Lebensweise, den Sitten und Satz1ingen vollkommen. anschließen, nur wegen der Ehe von ihnen abweichen. Denn sie sagen, diejenigen, die sich der ehelichen Beiwohnung enthielten, nähmen dem Leben seine wichtigste Funktion (μέρος), die Fortpflanzung müßte ständig abnehmen und das Menschengeschlecht rasch aussterben, wenn alle so dächten wie sie. Diese haben den Brauch, die Gattinnen drei Jahre lang zu probieren (δοκιμάζοντες). Haben sie nach drei Reinigungen gezeigt, daß sie geeignet seien, Kinder zu gebären, dann ehelichen sie sie. Sobald eine schwanger ist, schläft der Mann nicht mehr bei ihr. Dadurch geben sie zu verstehen, daß sie sich nicht um fleischlicher Wollust, sondern allein um der Kindererzielung willen auf die Ehe einlassen.“

Der Passus ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall sagt er so viel, daß diese Ehen der Essener von den gewöhnlichen sehr verschieden waren. Das „probieren“ der Weiber scheint aber nicht anders denkbar, als unter der Voraussetzung einer Art Weibergemeinschaft.

Von dem ideologischen Überbau, der sich auf diesen gesellschaftlichen Grundlagen erhob, ist ein Gedanke besonders hervorzuheben, der der Unfreiheit des Willens, die die Essener behaupteten, im Gegensatz zu den Sadduzäern, die die Willensfreiheit lehrten, und den Pharisäern, die eine vermittelnde Stellung einnahmen.

„Wenn die Pharisäer sagen, es geschehe alles nach dem Schicksal, so heben sie doch den freien Willen des Menschen nicht auf, sondern sagen, es habe Gott gefallen, gleichsam eine Mischung zu vollbringen zwischen dem Ratschluß des Schicksals und dem der Menschen, die Gutes oder Böses tun wollen.“ [44]

„Die Essener hingegen schreiben dem Schicksal alles zu. Sie meinen, es könne dem Menschen nichts begegnen, das nicht vom Schicksal bestimmt sei. Die Sadduzäer wollen vom Schicksal überhaupt nichts wissen. Sie sagen, es gebe keines und es bestimme nicht die Geschicke der Menschen. Sie schreiben alles dem freien Willen des Menschen zu, so daß er es sich selbst zu danken hat, wenn ihm etwas Gutes zuteil wird; hingegen habe er widrige Vorkommnisse seiner eigenen Torheit zuzuschreiben“. [45]

Diese Unterschiede der Auffassung scheinen bloß dem reinen Denken zu entstammen. Wir wissen aber schon, daß jede dieser Richtungen eine andere Klasse repräsentiert. Und wenn wir die Geschichte verfolgen, finden wir, daß sehr oft die herrschenden Klassen zur Annahme der Willensfreiheit neigen, noch öfter aber die unterdrückten Klassen zur Idee der Unfreiheit des Willens.

Das ist auch leicht begreiflich. Die herrschenden Klassen fühlen sich frei, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt. Das entspringt nicht bloß ihrer machtvollen Position, sondern auch der geringen Zahl ihrer Mitglieder. Das Gesetzmäßige kommt nur in der Masse zum Vorschein, Wo die verschiedenen Abweichungen vom Normalen sich gegenseitig aufheben. Je kleiner die Zahl der Individuen, die man beobachtet, desto mehr überwiegt das Persönliche, Zufällige über das Allgemeine und Typische. Bei einem Monarchen vollends scheint dieses ganz ausgelöscht.

So kommen die Herrschenden leicht dazu, sich erhaben über die gesellschaftlichen Einflüsse zu dünken, die, solange sie nicht erkannt sind, den Menschen als geheimnisvolle Macht, als das Schicksal, das Fatum erscheinen. Die herrschenden Klassen fühlen sich aber auch getrieben, nicht bloß sich, sondern auch den Beherrschten Willensfreiheit zuzuschreiben. Das Elend des Ausgebeuteten erscheint ihnen als seine eigene Schuld, jedes Vergehen, das er begeht, als eine frevle Missetat, die bloß persönlicher Freude am Schlechten entspringt und strenge Sühne heischt.

Die Annahme der Willensfreiheit erleichtert es den herrschenden Klassen, ihre Funktionen des Richtens und Niederhaltens der unterdrückten Klassen mit Gefühlen der sittlichen Überlegenheit und Entrüstung zu vollziehen, die ihre Energie sicher steigern.

Die Masse der Armen und Gedrückten empfindet es dagegen auf Schritt und Tritt, daß sie die Sklaven der Verhältnisse, des Geschicks sind, dessen Ratschlüsse ihnen unbegreiflich erscheinen, das aber auf jeden Fall mächtiger ist, als sie selbst. Sie verspüren am eigenen Leibe, welcher Hohn es ist, wenn die Begüterten ihnen zurufen, jeder sei seines Glückes Schmied. Vergebens trachten sie den Verhältnissen zu entkommen, die sie niederdrücken, sie fühlen deren Faust immer in ihrem Nacken. Und ihre große Masse zeigt ihnen, wie es nicht bloß einzelnen unter ihnen so geht, wie jeder von ihnen die gleiche Kette nach sich schleppt. Sie sehen es auch ganz genau, daß nicht bloß ihr Handeln und dessen Erfolg, nein, daß auch ihr Fühlen und Denken und damit ihr Wollen ganz abhängig ist von ihren Verhältnissen.

Komisch kann es erscheinen, daß die Pharisäer, ihrer sozialen Zwischenstellung entsprechend, gleichzeitig die Willensfreiheit und die Notwendigkeit annahmen. Aber fast zweitausend Jahre nach ihnen hat der große Denker Kant das gleiche getan.

Den sonstigen ideologischen Überbau, der sich auf der Grundlage der essenischen Gesellschaftsverfassung erhob, brauchen wir hier nicht weiter zu behandeln, obwohl gerade er es ist, der die Historiker in der Regel am meisten beschäftigt. Denn er gibt ihnen Gelegenheit zu sehr tiefsinnigen Erörterungen über die Abstammung des Essenismus vom Parsismus oder Buddhismus oder Pythagoreismus oder sonstigen Ismen.

Die Frage nach den wirklichen Wurzeln des Essenismus wird dadurch nicht gelöst. Gesellschaftliche Einrichtungen innerhalb eines Volkes erstehen stets nur aus wirklichen Bedürfnissen in ihm selbst, nicht durch bloße Nachahmung äußerlicher Vorbilder. Wohl kann man vom Auslande oder der Vorzeit lernen, aber man nimmt davon nur an, was man brauchen kann, was einem Bedürfnis entspricht. Das römische Recht zum Beispiel fand in Deutschland seit der Renaissance nur deshalb Aufnahme, weil es so gut den Bedürfnissen aufkommender starker Klassen entsprach, des Absolutismus und der Kaufmannschaft. Man spart sich natürlich die Mühe, ein neues Werkzeug zu erfinden, wenn man ein vollkommenes bereits fertig vor sich sieht. Aber die Tatsache, daß ein Werkzeug ans dem Ausland stammt, beantwortet nicht die Frage, warum es Anwendung findet; diese kann nur aus wirklichen Bedürfnissen im Volke selbst erklärt werden.

Übrigens sind alle die Einflüsse, die der Parsismus, Buddhismus und Pythagoreismus auf den Essenismus geübt haben können, sehr zweifelhafter Natur. Eine direkte Beeinflussung der Essener durch eines dieser Elemente ist nirgends bezeugt. Die Ähnlichkeiten zwischen ihnen können aber auch daher rühren, daß sie alle unter ziemlich gleichen Verhältnissen entstanden, die von selbst hier wie dort zu den gleichen Lösungsversuchen drängten.

Am ehesten könnte an einen Zusammenhang zwischen den Pythagoreern und den Essenern gedacht werden. Josephus sagt auch (Altertümer, XV, 10, 4), die Essener führten eine Lebensweise, die der pythagoreischen sehr ähnlich sei. Aber man könnte die Frage aufwerfen, ob die Essener von den Pythagoreem oder diese von jenen gelernt haben Freilich des Josephus Behauptung (gegen Apio, I, 22), Pythagoras selbst habe jüdische Anschauungen akzeptiert und für die seinen ausgegeben, ist eine, wahrscheinlich auf einer Fälschung beruhende Aufschneiderei zur Verherrlichung des Judentums. Tatsächlich wissen wir von Pythagoras fast gar nichts sicheres. Erst geraume Zeit nach seinem Tode beginnen Nachrichten über ihn reichlicher zu werden, und sie nehmen um so mehr zu, werden um so bestimmter, aber auch um so unglaublicher, je weiter wir uns von seiner Lebenszeit entfernen. Wir haben schon eingangs darauf hingewiesen, daß es mit Pythagoras ging wie mit Jesus. Er wurde zu einer Idealgestalt, der man alles zuschrieb, was man von einem sittlichen Vorbild erwartete und verlangte, aber auch zu einem Wundertäter und Propheten, der seine göttliche Mission durch die erstaunlichsten Leistungen dartat. Gerade, weil man nichts bestimmtes von ihm wußte, konnte man ihm zuschreiben und in den Mund legen, was einem paßte.

Auch die angeblich von Pythagoras eingeführte Lebensordnung, die der essenischen sehr ähnelte, mit Gütergemeinschaft, ist wahrscheinlich jüngeren Ursprungs, vielleicht nicht älter als die essenische.

Seinen Ursprung fand dieser Pythagoreismus wahrscheinlich in Alexandrien. [46] Eine Berührung mit dem Judentum lag dort sehr nahe, die Übertragung pythagoreischer Anschauungen nach Palästina war wohl möglich. Aber auch das Umgekehrte konnte stattfinden. Endlich ist es ebenso möglich, daß beide Teile aus einer gemeinsamen Quelle schöpften: aus der ägyptischen Praxis. In Ägypten hatte die so weit vorgeschrittene soziale Entwicklung schon relativ früh zu klösterlichen Einrichtungen geführt.

Hatte seine alte Kultur und deren schon lange vor sich gehender Niedergang früher als in anderen Ländern des Römerreichs Abscheu vor den Genüssen des Lebens und dem Privateigentum, das Streben nach Weltflucht erzeugt, so war diese auch nirgends bequemer durchzuführen, wie in Ägypten, wo die Wüste bis dicht an die Sitze der Zivilisation heranreichte. Wer anderswo die Großstadt floh, der fand auch auf dem Lande das Privateigentum, und zwar die drückendste von allen Arten Eigentum, das am Boden. Oder er mußte sich in Wildnisse zurückziehen, viele Meilen weit von der Kultur entfernt, die nur angestrengteste Arbeit bewohnbar machen konnte, eine Arbeit, zu der gerade der Großstädter am wenigsten taugte.

In der ägyptischen Wüste, wie in jeder andern, gab es kein Privateigentum am Boden. Dabei war es nicht schwer, sie zu bewohnen, ihr Klima erforderte keinen großen Aufwand an Bauten, Kleidung, Feuerung zum Schutze vor den Unbilden des Wetters. Und sie lag so nahe der Stadt, daß der Eremit von dort durch Freunde jederzeit leicht seines Lebens Notdurft erhalten, ja, sie durch einen Marsch weniger Stunden selbst holen konnte.

Ägypten hat daher schon frühzeitig begonnen, ein mönchartiges Eremitentum zu produzieren. In Alexandrien erstand dann der Neupythagoreismus, endlich im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung nahm dort das christliche Klosterwesen seinen Ausgangspunkt. Aber auch das alexandrinische Judentum hat einen eigenartigen Mönchsorden geschaffen, den der Therapeuten.

Man hat die Schrift „über das beschauliche Leben“, in der Philo von ihnen berichtet, für gefälscht erklärt, aber in diesem Falle ist der Verdacht grundlos gewesen.

Sie entsagen, sagt er, wie der Weise, ihrem Besitz, den sie unter ihre Verwandten und Freunde verteilen, verlassen ihre Brüder, Kinder, Weiber, Eltern, ihre Freunde, ihre Vaterstadt und finden ihre wahre Heimat in der Vereinigung mit Gleichgesinnten. Diese Vereine finden sich in vielen Teilen Ägyptens, namentlich bei Alexandrien. Hier bewohnt jeder für sich allein eine einfache Zelle; nahe bei denen der anderen, wo er in beschaulicher Frömmigkeit die Zeit verbringt. Ihre Nahrung ist sehr einfach, Brot, Salz und Wasser. Am Sabbat vereinigen sie sich, Männer und Frauen in einem gemeinsamen Festsaal, in dem aber die Geschlechter durch eine Scheidewand getrennt sind, zu frommen Vorträgen und Gesängen. Sie verwerfen den Fleischgenuß, den Wein und die Sklaverei. Von Arbeit erfährt man aber bei ihnen nichts. Sie lebten wohl von Almosen ihrer Freunde und Gönner.

Es ist sehr wohl möglich, daß alexandrinische Juden die Anschauungen der Therapeuten nach Palästina brachten und dadurch das Essenertum beeinflußten. Und doch sind beide voneinander grundverschieden. Die einen leben in beschaulichem Nichtstun von der Arbeit anderer, die Essener arbeiten eifrig und erwerben so viel, daß sie nicht bloß selbst davon leben, sondern auch Dürftigen von ihrem Überfluß miteilen. Beide verwerfen das Privateigentum. Aber die Therapeuten wissen mit den Gütern der Welt überhaupt nichts anzufangen. Die Arbeit ist ihnen ebenso verhaßt wie der Genuß, sie verzichten auf Produktions- wie auf Konsumtionsmittel und verteilen daher ihren Besitz unter Freunde und Verwandte. Die Essener arbeiten, dazu brauchen sie Produktionsmittel; ihre Mitglieder verteilen daher nicht ihre Besitztümer an Freunde, sondern legen sie zu gemeinsamem Gebrauch zusammen.

Da sie arbeiten, müssen sie aber auch arbeitskräftig bleiben, sie müssen sich tüchtig nähren. Strenge Askese ist unmöglich für arbeitsame Menschen.

Der Unterschied zwischen den Therapeuten und noch mehr den Neupythagoreern, die von Askese, Weltflucht und Hingabe des Eigentums meist bloß schwatzten, auf der einen Seite und den Essenern auf der anderen kennzeichnet den Gegensatz zwischen dem Judentum Palästinas und der übrigen Kulturwelt des römischen Reiches zur Zeit der Entstehung des Christentums. Im Essenismus begegnen wir derselben Tatkrach, die wir im Zelotentum kennen gelernt haben und die das Judentum jener Zeit so gewaltig erhebt über die feige Katzenjämmerlichkeit der anderen Kulturvölker, die den Genuß und die Versuchung flohen, weil sie den Kampf fürchteten. Selbst die kommunistischen Tendenzen nahmen bei ihnen einen feigen und asketischen Charakter an.

Was den Essenismus möglich machte, das war die Tatkraft des Judentums. Aber nicht sie allein. Noch andere Faktoren bewirkten, daß gerade das Judentum diese eigenartige Erscheinung erzeugte.

Allgemein finden wir im letzten Jahrhundert vor Christi, daß mit der Massenarmut auch das Bestreben der Proletarier und ihrer Freunde wächst, durch Organisationen dem Elend abzuhelfen. Gemeinsame Mahlzeiten, der letzte Rest des urwüchsigen Kommunismus, bilden auch die Ausgangspunkte des neuen.

Unter dem Judentum war aber das Bedürfnis nach Zusammenschluß und gegenseitiger Hilfe besonders stark entwickelt. In der Fremde halten Nationsgenossen stets enger zusammen, als in der Heimat, und niemand war heimatloser, befand sich ständiger in der Fremde, als der Jude außerhalb Judäas. So waren auch die Juden untereinander von einer Hilfsbereitschaft, die ebenso auffiel, wie ihre Abschließung von den Nichtjuden. Tacitus hebt in einem Atem ihren feindseligen Haß gegen alle anderen, wie ihre stets bereite Mildtätigkeit untereinander hervor. [47]

An ihren Vereinigungen mit gemeinsamen Mahlzeiten scheinen sie auch besonders hartnäckig gehangen zu haben. Sonst ist es nicht erklärlich, warum Cäsar, der alle nicht von altersher überlieferten Vereine verbot, gerade die jüdischen gestattete.

„Während er sonst die Gründung selbständiger Korporationen mit eigenem Vermögen von der Bewilligung des Senats abhängig machte, erlaubte er ohne weiteres im Reiche die Bildung jüdischer Genossenschaften mit gemeinsamen Mahlzeiten und eigenem Vermögen. Bei der gerade damals weitverbreiteten Lust nach Zusammenschluß in den vom Staate so gefürchteten und darum verfolgten Verbindungen hatte diese Zulassung jüdischer Glaubensvereine die Folge, daß sich eine Menge Heiden als sogenannte Gottesfürchtige zur Aufnahme in die jüdische Genossenschaft meldeten, die ihnen leicht gewährt wurde.“ [48]

Es lag nahe, daß ein solcher Verein bei Proletariern einen rein kommunistischen Charakter annahm. Aber weit über die gemeinsamen Mahlzeiten aus gemeinsamen Mitteln konnte er in der Großstadt nicht leicht gehen. Auch war wenig Veranlassung dazu. Die Kleidung spielte im Süden damals bei den Proletariern keine große Rolle; sie war mehr Mittel des Prunkes als des Schutzes vor dem Wetter. Zum Schlafen suchten die Proletarier der Großstadt irgend einen Winkel. Der Erwerb führte sie endlich auch nach den verschiedensten Richtungen der Stadt auseinander, mochten sie betteln oder stehlen oder hausieren oder Lasten tragen oder sonstwie sich fortbringen.

Die gemeinsame Mahlzeit der Genossenschaft, zu der jeder sein Teil beitrug und an der jeder Genosse teil hatte, mochte er gerade in der Lage sein, etwas abzuliefern oder nicht, das war das wichtigste Band, welches die Genossenschaft zusammenhielt, und das wichtigste Mittel, den einzelnen gegen die Wechselfälle des Lebens zu versichern, die dem Besitzlosen nur zu leicht verderblich wurden.

Anders als in der Großstadt war es auf dem Laude. Dort sind Haushalt und Erwerbsarbeit vereinigt. Gemeinsame Mahlzeiten erfordern auch eine gemeinsame Wohnung und eine gemeinsame Wirtschaft. Landwirtschaftliche Großbetriebe waren damals nichts Seltenes; teils mit Sklaven betriebene, aber auch kommunistische Großfamilien, Hausgenossenschaften sind dieser Stufe der Entwicklung eigen.

Palästina war nun die einzige Gegend, in der das Judentum noch eine Bauernschaft besaß, und diese war, wie wir gesehen, mit der Großstadt Jerusalem und ihrem Proletariat in steter, enger Verbindung. Da war es nicht schwer, daß kommunistische Tendenzen, die dem jüdischen Proletariat näher lagen als jedem anderen jener Zeit, auch auf das flache Land übertragen wurden und dort jene Ausgestaltung fanden, die das Essenertum kennzeichnet.

Die ökonomische Grundlage der essenischen Organisation bildete die bäuerliche Wirtschaft. „Sie werfen sich ganz auf den Ackerbau“, sagt etwas übertreibend Josephus. (Altertümer, XVIII, 1, 5.)

Eine solche Organisation auf dem flachen Lande konnte sich aber auch nur behaupten, solange sie von Staats wegen geduldet wurde. Als Geheimbund vermag eine Produktivgenossenschaft, namentlich auf dem flachen Lande, nicht zu existieren.

Der Essenismus war daher an das Bestehen der jüdischen Freiheit gebunden. Deren Untergang mußte auch den seinen nach sich ziehen. Für die Existenz in der Großstadt, als Geheimbund, außerhalb eines freien Palästina, war er nicht geeignet.

Die Großstadt Jerusalem sollte indessen eine Form der Organisation entwickeln, die sich anpassungsfähiger als jede andere für die Bedürfnisse des großstädtischen Proletariats im ganzen Reiche, schließlich auch anpassungsfähiger als jede andere für die Bedürfnisse des Reiches selbst erwies.

Sie war es, die, vom Judentum ausgehend, sich über das gesamte Reich ausdehnte und alle die Elemente des neuen Empfindens und Denkens in sich aufnahm, die aus der gesellschaftlichen Umwandlung und Zersetzung jener Zeit erstanden.

Diese Organisation bleibt uns noch zu betrachten. Es war die christliche Gemeinde.


Fußnoten

1. Das Judentum, Neue Zeit, VIII, S. 23 ff.

2. Vergleiche Frank Buhl, Die sozialen Verhältnisse der Israeliten, S. 43.

3. V. Stade, Geschichte des Volkes Israel, II, S. 17.

4. A. a. O., S. 187.

5. 1. Mose 82, 25 bis 31.

6. E. Meyer, Geschichte des alten Ägypten, S. 192, 193.

7. H. Winckler, Die babylonische Geisteskultur, 1907, S. 144.

8. 2. Könige 28, 5 ff.

9. Wellhausen, a. a. O., S. 32.

10. Jesaja 42, 8 bis 12.

11. Jesaja 41, 8 bis 27.

12. Marx, Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie, abgedruckt in der Ausgabe der Kritik der politischen Ökonomie von 1907, S. XIII, XIV.

13. Mommsen, Römische Geschichte, V, S. 489 bis 492.

14. Josephus, Altertümer der Juden, 18, 6, 3.

15. Altert., 19, 5, 1.

16. Mommsen, Römische Geschichte, V, S. 456.

17. Mommsen, Römische Geschichte, III, S. 549 bis 551.

18. Sueton, Julius Cäsar, Kap. 84.

19. Mommsen, Römische Geschichte, V, S. 497, 498.

20. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes, III, 90.

21. Josephus, Selbstbiographie.

22. 1. Mose 22, 17, 18.

23. Friedländer, Sittengeschichte Roms, II, 519.

24. Geschichte des jüdischen Volkes, II, S. 5.

25. Vergl. das Buch Tobit, 14, 6, 7.

26. Jüdischer Krieg, II, 20, 2.

27. Historien, V, 5.

28. Satiren, XIV, 96 bis 105.

29. Römische Geschichte, V, S. 515 bis 518.

30. Altertümer, XV, 3, 5.

31. Josephus, Altertümer, V, 7. 1 Talent = 4.700 Mark.

32. Josephus, Altertümer, XIV, 7.

33. Jüdische Altertümer, XX, 8, 8, vergl. Auch 9, 2.

34. Daniel 7, 27.

35. Altertümer, XVII, 2, 4.

36. Jüdischer Krieg, VI, 9, 3.

37. Historien, V, 18.

38. Altertümer, XVII, 2, 4.

39. Juvenal, Satiren, III, 13 bis 16.

40. Josephus, Jüdischer Krieg, II, 13, 4 bis 6.

41. Jüdischer Krieg, II, 14, 1, 2.

42. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes, I, 617.

43. Josephus schreibt „Essener“, Philo „Essäer“. Das Wort ist eine Gräzisierung des syrischen chase (hebräisch chasid): fromm. Der Plural des Wortes hat zwei Formen, chasen und chasuja.

44. Josephus, Altertümer, XVIII, 1, 3.

45. Altertümer, XIII, 9.

46. Vergleiche darüber und über die Pythagoreer überhaupt, Zeller, Philosophie der Griechen, erster und dritter Band.

47. Historien, V, 5.

48. O. Holtzmann, Das Ende des jüdischen Staatswesens und die Entstehung des Christentums, 1888, S. 460.


Zuletzt aktualisiert am 26.12.2011