Karl Kautsky

Bernstein und die materialistische Geschichtsauffassung

(1899)


Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 1898/99, Bd. 2, S. 4–16.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1917, Bd. 1, Frankfurt/M, 1978, S. 391–410.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Eine eingehende Kritik der Bernsteinschen Streitschrift schreiben hieße ein Buch schreiben, so zahlreich sind die Fragen, die sie aufwirft. Es bleibt abzuwarten, ob es notwendig wird, an die Abfassung eines solchen Buches zu gehen. Aber selbst wenn wir uns nur auf die Kritik der Hauptgesichtspunkte beschränken, wird dies eine Aufgabe, die den Rahmen einer Zeitschrift zu überschreiten droht. Der Schreiber dieser Seiten hat daher seine Aufgabe geteilt, die Auseinandersetzung über die mehr praktischen Fragen, über Programm und Taktik, in den Vorwärts verlegt. Hier gedenken wir bloß die mehr akademischen Fragen der Methode und Theorie zu erörtern, Bernsteins Stellung zur materialistischen Geschichtsauffassung, zur Dialektik, zur Werttheorie. Indessen werden auch diese anscheinend rein akademischen Erörterungen zu aktuellen und praktischen Gesichtspunkten führen. Unsere Leser brauchen nicht zu fürchten, daß wir uns völlig in Abstraktionen verlieren werden.

Mit Recht erklärt Bernstein, es werde „von niemand bestritten werden, daß das wichtigste Glied im Fundament des Marxismus, sozusagen das Grundgesetz, das das ganze System durchdringt, seine spezifische Geschichtstheorie ist, die den Namen materialistische Geschichtsauffassung trägt. Mit ihr steht und fällt es im Prinzip. In dem Maß, wie sie Einschränkungen erleidet, wird die Stellung der übrigen Glieder zueinander in Mitleidenschaft gezogen. Jede Untersuchung seiner Richtigkeit muß daher von der Frage ausgehen, ob und inwieweit diese Theorie Gültigkeit hat.

„Die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung ist die Frage nach dem Grad der geschichtlichen Notwendigkeit. Materialist sein heißt zunächst die Notwendigkeit alles Geschehens behaupten ... So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott.“

Auch die marxistische Geschichtsauffassung war in ihrer ersten Fassung, die sie in der Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie erhielt, deterministisch, das heißt, sie ging aus von dem Grundsatz der Notwendigkeit alles Geschehens in der Menschenwelt ebenso wie in der übrigen Welt. Aber, behauptet Bernstein, später, im Kapital, im Anti-Dühring und endlich in einigen Engelsschen Briefen aus dem Anfang dieses Jahrzehnts, wurde diese Anschauung eingeschränkt.

„Nach alledem sehen wir die materialistische Geschichtsauffassung heute in anderer Gestalt vor uns, als sie ihr zuerst von ihren Urhebern gegeben wurde. Bei ihnen selbst hat sie eine Entwicklung durchgemacht, bei ihnen selbst in absolutistischer Deutung Einschränkungen erlitten ... Der Grundgedanke der Theorie verliert dadurch nicht an Einheitlichkeit, aber die Theorie selbst gewinnt an Wissenschaftlichkeit. Sie wird mit diesen Ergänzungen erst wahrhaft zur Theorie wissenschaftlicher Geschichtsbetrachtung ... Als wissenschaftliche Grundlage für die sozialistische Theorie kann die materialistische Geschichtsauffassung heute nur noch in der vorgeführten Erweiterung gelten, und alle Anwendungen, die ohne Berücksichtigung oder mit ungenügender Berücksichtigung der damit angezeigten Wechselwirkung der materiellen und ideologischen Kräfte vorgenommen wurden, sind, ob von den Urhebern der Theorie selbst oder von anderen herrührend, demgemäß entsprechend zu berichtigen ...

„Der philosophische oder naturwissenschaftliche Materialismus ist deterministisch, die marxistische Geschichtsauffassung ist es nicht, sie mißt der materiellen Grundlage des Völkerlebens keinen unbedingten Einfluß auf dessen Gestaltungen zu.“

Das ist im wesentlichen die Anschauung Bernsteins von der materialistischen Geschichtsauffassung.

Wenn wir sie näher betrachten, fällt uns vor allem eins auf: Bernstein wirft da zwei Fragen durcheinander, die streng voneinander gesondert gehalten werden müssen: einmal die nach der Auffassung, welche Marx und Engels vom geschichtlichen Prozeß hatten, und dann die nach der Richtigkeit dieser Auffassung. Er behauptet, Marx und Engels seien nur anfangs Deterministen in der Geschichte gewesen, später nicht mehr, also sei die deterministische Auffassung der Geschichte unwissenschaftlich und falsch. Selbst wenn die Voraussetzungen richtig wären, würde ich diesen Schluß entschieden bestreiten.

Ob und inwieweit die materialistische Geschichtsauffassung richtig ist, das hängt nicht von Briefen und Artikeln von Marx und Engels ab, das kann nur entschieden werden durch die Erforschung der Geschichte selbst. So wegwerfend sich auch Bernstein über das „bequeme Schlagwort“ von der Scholastik äußern mag, ich stimme vollkommen Lafargne bei, wenn er es Scholastik nennt, über die Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung an und für sich zu diskutieren, statt sie in der geschichtlichen Forschung zu erproben. Das war auch die Absicht von Marx und Engels selbst, was ich nicht nur aus Privatgesprächen des letzteren weiß, sondern was schon durch die manchem so verwunderliche Tatsache bewiesen wird, daß die beiden über ihre grundlegende Theorie nur selten und kurz sprachen, den besten Teil ihrer Lebensarbeit aber dahin richteten, sie in der Erforschung der Wirklichkeit anzuwenden.

Ebenso bemerkenswert ist aber die andere Tatsache, daß diejenigen unter den Marxisten, die ihrem Beispiel folgten und die materialistische Geschichtsforschung trieben, nie, weder untereinander noch mit ihren Meistern, in Zwiespalt darüber gerieten, was sie unter materialistischer Geschichtsauffassung zu verstehen hätten. Nicht als ob jeder von uns allen Resultaten der anderen zustimmte – selbst manche Resultate, zu denen Engels und Marx selbst kamen, erweisen sich heute als unhaltbar. Aber unter den Historikern der Marxschen Schule ist kein Disput darüber, daß alle ihre Forschungen die von Marx in seiner schon erwähnten Vorrede gegebene Darstellung des geschichtlichen Prozesses bestätigen. Es sind die Nichthistoriker, die dieser historischen Auffassung die Wissenschaftlichkeit abstreiten.

Aber Marx und Engels selbst sollen später auf einen anderen Boden sich gestellt, ihre Theorie eingeschränkt und dadurch wissenschaftlicher gemacht haben.

Auch hier wirft Bernstein wieder zwei Fragen durcheinander, die einander zwar vielfach berühren, aber doch gesondert gehalten werden müssen, will man zu Klarheit statt zu Verschwommenheit gelangen. Bernstein nimmt den Determinismus und die Annahme, daß die Entwicklung der Produktivkräfte die bestimmende Triebkraft der gesellschaftlichen Zustände ist, als gleichbedeutend. Das ist aber falsch. Vor allem irrt er, wenn er behauptet: Materialist sein heißt die Notwendigkeit alles Geschehens behaupten. Gewiß behauptet der Materialist die Notwendigkeit alles Geschehens, das heißt, die Geltung des Kausalitätsgesetzes für alle Tatsachen unserer Erfahrung, aber es gibt auch idealistische Philosophen, die dasselbe behaupten. Selbst wenn Marx und Engels daher später die bestimmende Macht der Produktionsverhältnisse eingeschränkt und den Ideen eine selbständige Eigenbewegung zuerkannt hätten, wäre damit noch lange nicht gesagt, daß ihre Geschichtsauffassung aufgehört hätte, deterministisch zu sein.

Nehmen wir z. B. die Geschichtsauffassung Buckles. Sie ist weit genug von der marxistischen entfernt. Buckle hatte noch keine Ahnung davon, daß jeder Gesellschaftsformation andere ökonomische Gesetze entsprechen, er stand noch auf dem Boden der liberalen Ökonomie, für die die Gesetze der entwickelten Warenproduktion die Naturgesetze jeder Wirtschaft waren; er sah in der Geschichte nur zwei Faktoren, Natur und Geist, und für ihre Triebkraft erklärte er die Entwicklung des letzteren, den Fortschritt unseres Wissens. Insofern dieser aufgefaßt wird als Fortschritt der Entdeckungen und Erfindungen, führt die Auffassung Buckles zur Marxschen. Aber daran hinderte den ersten sein schon erwähnter liberaler Standpunkt, der die Gesetze der herrschenden Produktionsweise für Naturgesetze hielt. Von diesem Standpunkt aus bestand der Fortschritt der Gesellschaft darin, daß man ihre Naturgesetze immer klarer erkannte und die Gesellschaft diesen ewigen Wahrheiten gemäß einrichtete.

Buckles Auffassung ist von der Marxschen gänzlich verschieden, trotzdem hält jener an der Notwendigkeit alles Geschehens streng fest.

Wir müssen also die Behauptung Bernsteins, Marx und Engels hätten schließlich in ihrer Geschichtsauffassung den Determinismus aufgegeben, von der Behauptung sondern, sie hätten dem ökonomischen Faktor in der geschichtlichen Entwicklung später eine geringere Bedeutung beigemessen als früher.

Man wird aber in den Anforderungen an die Beweiskraft der Sätze, die Bernstein zur Stützung der ersten Behauptung vorbringt, nicht leicht zu streng sein können. Man bedenke: Bernstein selbst erklärt, der Materialist ist Determinist. Die marxistische Geschichtsauffassung war in ihren Anfängen eine deterministische, sie soll es später nicht mehr gewesen sein. Marx und Engels blieben jedoch bis an ihr Lebensende Materialisten. Was heißt das anderes als behaupten: sie waren anfangs konsequente, später aber inkonsequente Denker.

Dieser Fortschritt von der Konsequenz zur Inkonsequenz ist freilich in Bernsteins Augen der Fortschritt zu höherer Wissenschaftlichkeit und er fordert von uns, die marxistische Auffassung in ihrer inkonsequenten, nicht in ihrer konsequenten Form zu akzeptieren.

Was heißt aber Wissenschaft? Die Erkenntnis der notwendigen, gesetzmäßigen Zusammenhänge der Erscheinungen. Erscheinungen, die so kompliziert sind, daß es noch nicht möglich gewesen, ihre notwendigen Zusammenhänge zu erforschen, so daß wir in ihnen nur Zufall und Willkür entdecken können, liegen außerhalb des Gebiets der Wissenschaft. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht darin, das Reich des Zufalls und der Willkür einzuschränken, das der erkannten Notwendigkeit auszudehnen. Die große Tat von Marx und Engels bestand darin, daß sie mit besserem Erfolg als ihre Vorgänger das Gebiet der Geschichte in das Reich der Notwendigkeit einbezogen und damit die Geschichte zu einer Wissenschaft erhoben. Nun kommt Bernstein und behauptet, der wissenschaftliche Fortschritt der beiden hätte darin bestanden, den Determinismus in der Geschichte aufzuheben.

Am sonderbarsten bei alledem ist der Umstand, daß Marx und Engels sich dieser fundamentalen Umwälzung ihres Denkens gar nie bewußt wurden. Die materialistische Geschichtsauffassung, erklärt Bernstein selbst, ist das Grundgesetz, mit dem das ganze System steht und fällt. Aus diesem Grundgesetz entfernen nach Bernstein Marx und Engels im Lauf ihrer Entwicklung den tragenden Pfeiler, den Determinismus, und dabei glauben sie bis an ihr Lebensende, immer die gleiche Geschichtsauffassung zu hegen! In dem auch von Bernstein angezogenen Brief Engels’ an E. Schmidt vom 27. Oktober 1890 verweist jener auf den 1852 abgefaßten 18. Brumaire als ein Muster materialistischer Geschichtsschreibung!

Wie zwingend müßte da ein Beweis sein, der uns veranlassen könnte, zuzugeben, daß die marxistische Geschichtsauffassung nicht deterministisch ist! Was aber gibt uns Bernstein? Nichts, absolut nichts.

Oder sollen wir etwa den Hinweis auf die Vorrede zum Kapital als einen derartigen Beweis ansehen? Marx spricht dort von den „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion“, aber, meint Bernstein, er fügt gleich selbst hinzu: „Es handelt sich um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen.“ An dieses Wort „Tendenz“ klammert sich Bernstein an:

„Wo eben noch von Gesetz gesprochen wird“, sagt er, „drängt sich statt dieses starren ein biegsamerer Begriff ein: die Tendenz. Und auf dem nächsten Blatt steht dann der oft zitierte Satz, daß die Gesellschaft die Geburtswehen naturgemäßer Entwicklungsphasen ‚abkürzen und mildern‘ kann.“

Die Tendenz erscheint also Bernstein biegsamer als das Gesetz, selbst wenn es eine mit eherner Notwendigkeit wirkende und sich durchsetzende Tendenz ist. Aber was ist in diesem Zusammenhang die Tendenz anderes als ein Gesetz, dessen Wirken durch das anderer Gesetze gehemmt und modifiziert wird! Die Planeten haben vermöge der Gravitationskraft die Tendenz, in die Sonne zu fliegen, aber die Wirkung des Gravitationsgesetzes wird aufgehoben durch die des Gesetzes der Zentrifugalkraft, das den Planeten die Tendenz gibt, von der Sonne wegzufliegen. Sind die beiden Gesetze deshalb weniger eherne Naturgesetze, weil sie in diesem Fall nur als Tendenzen auftreten?

Aber kann nicht die Gesellschaft die Geburtswehen naturgemäßer Entwicklungsphasen abkürzen und mildern? Sicher, jedoch wodurch? Durch die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Phasen. Aber auch die Einsicht ist nichts Willkürliches; sie hängt ab von der Beschaffenheit unseres Intellekts, der Höhe unserer Forschungsmittel, dem Milieu, das unseren Standpunkt bestimmt.

Ich kann da nirgends die geringste Abschwächung oder Einschränkung des Determinismus entdecken. Sollte Bernstein nicht Determinismus mit Mechanismus verwechseln? Allerdings, mechanisch vollzieht sich nirgends die soziale Entwicklung, sie ist das Produkt des Handelns und Strebens bewußter Menschen; sie vollzieht sich auch nicht schablonenhaft, überall in gleicher Weise. Aber was beweist das gegen ihre Notwendigkeit?

Solange also Bernstein keine besseren Beweise beibringt, erklären wir seine Behauptung, die marxistische Geschichtsauffassung sei nicht deterministisch, für entschieden falsch.

Verwandt mit dieser Frage und von Bernstein mit ihr vermengt ist die Frage nach der Rolle der Ideen im geschichtlichen Prozeß. Die Entwicklung der marxistischen Geschichtsauffassung soll, wie Bernstein behauptet, vor allem in der Einschränkung der Rolle bestanden haben, die Marx und Engels dem ökonomischen Faktor in der Geschichte zuschrieben. Aber auch da kann ich Bernstein nicht zustimmen, und Engels hatte auch keine Ahnung von dieser Entwicklung, sonst hätte er nicht, wie schon oben erwähnt, 1890 ohne Einschränkung auf den 18. Brumaire als ein Muster materialistischer Geschichtsschreibung hingewiesen. Auch hier bleibt Bernstein nichts übrig, als den Entwicklungsgang aus vereinzelten Zitaten herauszudeuten.

Er geht aus von der Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie. Da heißt es:

„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ Dazu bemerkt Bernstein unter anderem, daß „im zweiten der zitierten Sätze ‚Bewußtsein‘ und ‚Sein‘ einander so schroff gegenübergestellt werden, daß die Folgerung naheliegt, die Menschen würden lediglich als lebendige Agenten geschichtlicher Mächte betrachtet, deren Werk sie wider Wissen und Willen ausführen ...

„Sehr viel bedingter erscheint die Abhängigkeit der Menschen von den Produktionsverhältnissen in der Erklärung, wie sie Fr. Engels noch zu Lebzeiten von Karl Marx und in Übereinstimmung mit ihm in der Streitschrift wider Dühring vom historischen Materialismus gibt. Da heißt es, daß ‚die letzten Ursachen‘ aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen nicht in den Köpfen der Menschen, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise zu suchen seien. Letzte Ursachen schließen aber mitwirkende Ursachen anderer Art ein“ etc.

Was sagt nun Engels an der angeführten Stelle? Er erklärt,

„daß die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen, sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären sind. Hiermit war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären.“

Man vergleiche diesen Passus des Anti-Dühring mit dem oben zitierten der Vorrede zur Kritik und man wird finden, daß beide fast wörtlich dasselbe sagen. Sogar der Satz vom Sein, der das Bewußtsein bestimmt, findet sich bei Engels wieder. Bernstein aber behauptet, daß in der Engelsschen Fassung die Abhängigkeit der Menschen von den Produktionsverhältnissen „sehr viel bedingter“ erscheint, denn bei Marx bedingt die Produktionsweise den sozialen Lebensprozeß, bei Engels dagegen erklärt sie ihn in letzter Instanz. Ich muß offen gestehen, daß ich zwischen beiden Lesearten einen Unterschied nicht entdecken kann.

„In seinen späteren Arbeiten“, fährt Bernstein fort, „hat Engels die bestimmende Kraft der Produktionsverhältnisse noch weiter eingeschränkt. Am meisten in zwei, im Sozialistischen Akademiker vom Oktober 1895 abgedruckten Briefen, der eine davon im Jahre 1890, der andere im Jahre 1894 verfaßt. Dort werden ‚Rechtsformen‘, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen bzw. Dogmen als Einflüsse aufgezählt, die auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe einwirken und in vielen Fällen ‚vorwiegend deren Form bestimmende‘. ‚Es sind also unzählige, einander durchkreuzende Kräfte‘, heißt es, ‚eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ereignis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann.‘„

Wodurch unterscheidet sich diese Anschauung von jener aus der Vorrede zur Kritik, welche Bernstein die „Folgerung nahelegt, die Menschen würden lediglich als lebendige Agenten geschichtlicher Mächte betrachtet, deren Werk sie wider Wissen und Willen ausführen“? Und was die Bestimmung der Formen der geschichtlichen Kämpfe durch Theorien und Dogmen anbelangt, so wies schon in seiner Vorrede zur Kritik Marx darauf hin, daß man „in der Betrachtung solcher Umwälzungen stets unterscheiden muß zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“.

Wo ist da der Unterschied zwischen 1859 und 1890?

Die Bernsteinsche Haarspalterei erscheint um so sonderbarer angesichts der Unbestimmtheit, mit der er das Ergebnis des angeblichen Entwicklungsgangs der marxistischen Geschichtsauffassung darlegt:

„Wer heute die materialistische Geschichtstheorie anwendet“, sagt er, „ist verpflichtet, sie in ihrer ausgebildetsten und nicht in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden, das heißt, er ist verpflichtet, neben der Entwicklung und dem Einfluß der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse den Rechts- und Moralbegriffen, den geschichtlichen und religiösen Traditionen jeder Epoche, den Einflüssen von geographischen und sonstigen Natureinflüssen, wozu denn auch die Natur des Menschen und seiner geistigen Anlagen gehört, volle Rechnung zu tragen.“

Rechnung tragen, unbestimmter kann man sich nicht ausdrücken. Wer die materialistische Geschichtsauffassung anwendet, also materialistisch die Geschichte erforscht, muß selbstverständlich allen diesen Faktoren Rechnung tragen. Die Zusammenhänge unter diesen Faktoren, ihr Aufeinanderwirken, ihr passives oder aktives Verhalten, das ist ja gerade das, was zu erforschen oder zu erklären ist. Aber muß das nicht jeder Geschichtsforscher tun, ganz gleich, welche Geschichtstheorie er anwendet? Was strittig ist, ist nicht das „Rechnung tragen“, sondern das, was dabei herauskommt.

Sehen wir uns aber die einzelnen Faktoren näher an, auf die Bernstein uns verweist: Da haben wir neben den Produktivkräften und Produktivverhältnissen die Rechts- und Moralbegriffe und die historischen und religiösen Traditionen. Aber was sind die Traditionen auch nach der „fortgeschritteneren“ Formulierung der materialistischen Geschichtsauffassung anderes als das Produkt früherer Gesellschaftsformen, also auch früherer Produktionsweisen, und ebenso die Rechts- und Moralbegriffe, soweit sie traditionell sind und nicht der augenblicklichen Gesellschaftsform entspringen? Die Natureinflüsse sind aber auch ein materieller Faktor, Bernstein sagt selbst: „Bei den vorgeschichtlichen Völkern ist die sie umgebende Natur die entscheidende ökonomische Macht.“ Die Natur ist also der primitivste ökonomische Faktor. So lassen sich die an der Oberfläche der Geschichte wirkenden Faktoren, auf die Bernstein uns verweist, bei näherem Zusehen selbst wieder auf ökonomische Faktoren zurückführen, und seine Forderung läuft darauf hinaus, daß man die Geschichte einer Zeit aus ihrer eigenen ökonomischen Geschichte allein nicht erklären kann, sondern daß man dazu der gesamten ihr vorhergehenden ökonomischen Entwicklung samt ihren Hervorbringungen von der Urzeit an „Rechnung tragen“ muß. Das ist richtig, das ist aber gerade dasjenige, was Marx und die marxistischen Historiker seit jeher getan haben. Man kann sagen, daß in der Geschichtsschreibung die marxistische Richtung die einzige ist, die der Urgeschichte volle Rechnung trägt. Daß der materialistische Historiker bei jeder seiner Untersuchungen ab ovo beginnen muß, das ist eines der Momente, die die materialistische Geschichtsschreibung viel schwieriger machen als jede andere.

Wollte Bernstein sagen, die marxistische Geschichtsauffassung habe sich in der Weise entwickelt, daß sie anfangs den direkten Einfluß der jeweilig herrschenden Produktionsweise überschätzte und den indirekten der vorhergegangenen zu gering anschlug, so ließe sich darüber reden. In der Tat haben die Fortschritte der urgeschichtlichen Forschung, die zur Zeit der Anfänge der materialistischen Geschichtsauffassung kaum geboren war, diese sehr erheblich beeinflußt. Eine Entwicklung der Theorie in diesem Sinn läßt sich verfolgen, sie wurde von den Urhebern der materialistischen Geschichtsauffassung selbst konstatiert (z. B. von Fr. Engels in seiner ersten Note zur jüngsten Auflage des Kommunistischen Manifests).

Die Entwicklung, welche Bernstein diese Geschichtsauffassung durchmachen läßt, ist dagegen von ihren Urhebern nirgends ausdrücklich anerkannt worden, sie wird von Bernstein bloß gefolgert aus der Vergleichung einzelner Sätze ihrer Schriften, die, soweit sie unzweideutig, alle das gleiche sagen, soweit sie verschieden gedeutet werden können, doch ohne Mühe als gleichbedeutend aufgefaßt werden können.

Die Bernsteinsche Beweisführung läßt sich am leichtesten charakterisieren durch ein Bild, das den Naturwissenschaften entnommen ist, in der die Verhältnisse einfacher und durchsichtiger liegen als in den Gesellschaftswissenschaften. Nehmen wir an, ein Naturforscher hätte in einer seiner ersten Schriften den Grundsatz behauptet, Licht und Wärme der Sonne seien in letzter Instanz die Triebkraft alles organischen Lebens auf der Erde. In seinen späteren Jahren erhielt er eine Anfrage, ob es wahr sei, daß er behaupte, das Wachstum eines Baumes hänge bloß von der Menge von Licht und Wärme der Sonne ab, die er direkt erhalte. Darauf antwortet er natürlich, das sei Unsinn, so sei seine Theorie nicht aufzufassen, er wisse sehr wohl, daß die Beschaffenheit des Samens, des Bodens, der Wechsel von Feuchtigkeit und Trockenheit, die Richtung und Kraft der Winde usw. ebenfalls von Einfluß auf das Wachstum der Bäume seien. Und nun kommt ein Kommentator, verwechselt den direkten Einfluß der Sonne auf das Wachstum der Pflanzen mit ihrer Wirkung als einzige Kraftquelle für die Erde in letzter Instanz und erklärt daraufhin, die Theorie unseres Naturforschers dürfe nicht in ihrer ersten, einseitigen Form, sondern in ihrer letzten, eingeschränkten, aber darum viel wissenschaftlicheren aufgefaßt werden. Er übersieht ganz, daß die Theorie in dieser Form aufhört, eine wissenschaftliche Tat zu sein; sie ist ein Gemeinplatz, der seit Jahrtausenden jedem Bauern geläufig war.

Nicht so schroff, aber ähnlich verhält sich’s mit dem Entwicklungsgang, den die Marx-Engelsche Theorie durchgemacht haben soll. Die Anschauung, daß die Geschichte nicht bloß von Rechtsund Moralanschauungen, Traditionen und Naturfaktoren, sondern auch von der Produktionsweise bestimmt wird, ist keine, die erst von Marx und Engels entdeckt zu werden brauchte, sie war bereits im vorigen Jahrhundert wohlbekannt, wie einige Beispiele bezeugen mögen, die uns zufällig gerade zur Hand sind und die sich leicht vermehren ließen.

Der vor mehr als zweihundert Jahren geborene Montesquieu untersuchte im „Geiste der Gesetze“ bereits den Einfluß der Produktionsweise auf den ideologischen Überbau. „Die Gesetze“, sagt er im 8. Kapitel des 18. Buches, „stehen in sehr wichtiger Beziehung zu der Art und Weise, wie die verschiedenen Völker sich ihren Unterhalt verschaffen.“ Und dieser Satz wird für Jägervölker, Nomaden, Ackerbauer, sowie für die Warenproduktion in den folgenden Kapiteln von ihm sehr scharfsinnig erläutert.

Erst kürzlich hat in der Neuen Zeit Kampffmeyer auf J. Möser hingewiesen, der den Einfluß der Produktionsweise auf das geistige Leben bereits stark betonte. „Die Religion eines Bergmanns“, sagte er, „unterscheidet sich von dem Glauben des Hirten.“

Sehr klar hat mitunter Hegel selbst die Bedeutung des ökonomischen Unterbaues für den politischen und ideologischen Überbau erfaßt. So erklärte er in seiner Philosophie der Geschichte den losen Föderalismus der Vereinigten Staaten aus ihren ökonomischen Verhältnissen:

„Was nun das Politische in Nordamerika betrifft, so ist der allgemeine Zweck noch nicht als etwas Festes für sich gesetzt, und das Bedürfnis eines festen Zusammenhaltens ist noch nicht vorhanden, denn ein wirklicher Staat und eine wirkliche Staatsregierung entstehen nur, wenn bereits ein Unterschied der Stände da ist, wenn Reichtum und Armut sehr groß werden und ein solches Verhältnis eintritt, daß eine große Menge ihre Bedürfnisse nicht mehr auf eine Weise, wie sie es gewohnt ist, befriedigen kann. Aber Amerika geht dieser Spannung noch nicht entgegen, denn es hat unaufhörlich den Ausweg der Kolonisation in hohem Grad offen und es strömen beständig eine Menge Menschen in die Ebenen des Mississippi ... Hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre freilich die Französische Revolution nicht ins Leben getreten.“

Was Bernstein uns als die reifste Frucht des Denkens von Marx und Engels vorführt, das ist also eine Einsicht, die sie bereits vorfanden, als sie zu denken anfingen.

Angesichts alles dessen müssen wir uns entschieden ablehnend gegen die Bernsteinsche Darstellung des Entwicklungsgangs der materialistischen Geschichtsauffassung verhalten. Es ist nicht die marxistische, sondern die Bernsteinsche Geschichtsauffassung, die sich in der von diesem gekennzeichneten Richtung entwickelt, damit aber auch von der marxistischen entfernt hat.

Dadurch ist freilich deren Unrichtigkeit noch nicht bewiesen.

Der Bernsteinsche Standpunkt scheint mir, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dem Baxschen sehr nahe zu kommen, mit dem ich mich in dieser Zeitschrift bereits auseinandergesetzt habe. Wesentlich weicht Bernstein von Bax nur in der Zeitfolge ab, die er annimmt. Beide stimmen darin überein, daß sie annehmen, zeitweise überwiege in der Menschengeschichte der Einfluß der Ideen, zeitweise der der ökonomischen Verhältnisse. Aber während Bax die Übermacht des „psychischen Antriebs“ in die Vorzeit versetzt, weist Bernstein diese Anschauung zurück. Für ihn ist gerade die Gegenwart die Zeit, in der der ökonomische Faktor an Bedeutung immer mehr zurücktritt.

„In je höherem Grad nun“, sagt er, „neben den rein ökonomischen Mächten andere Mächte das Leben der Gesellschaft beeinflussen, um so mehr verändert sich auch das Walten dessen, was wir historische Notwendigkeit nennen. In der modernen Gesellschaft haben wir in dieser Hinsicht zwei große Strömungen zu unterscheiden. Auf der einen Seite zeigt sich eine wachsende Einsicht in die Gesetze der Entwicklung und namentlich der ökonomischen Entwicklung. Mit dieser Erkenntnis geht, teils als ihre Ursache, teils aber wiederum als ihre Folge, Hand in Hand eine steigende Fähigkeit, die ökonomische Entwicklung zu leiten. Wie das physische, wird auch die ökonomische Naturmacht in dem Maß von der Herrscherin zur Dienerin der Menschen, als ihr Wesen erkannt ist. Die Gesellschaft steht so der ökonomischen Triebkraft theoretisch freier als je gegenüber, und nur der Gegensatz der Interessen zwischen ihren Elementen – die Macht der Privat- und Gruppeninteressen – verhindert die volle Übersetzung dieser theoretischen in praktische Freiheit. Indes gewinnt auch hier das Allgemeininteresse in wachsendem Maß an Macht gegenüber dem Privatinteresse, und in dem Grad wie dies der Fall ist, und auf allen Gebieten wo dies der Fall, hört das elementarische Walten der ökonomischen Mächte auf. Ihre Entwicklung wird vorweggenommen und setzt sich deshalb um so rascher und leichter durch. Individuen und ganze Völker entziehen so einen immer größeren Teil ihres Lebens dem Einfluß einer sich ohne oder gegen ihren Willen durchsetzenden Notwendigkeit.

„Weil aber die Menschen den ökonomischen Faktoren immer größere Beachtung schenken, gewinnt es leicht den Anschein, als spielten diese heute eine größere Rolle als früher. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Täuschung wird bloß dadurch erweckt, daß das ökonomische Motiv heute frei auftritt, wo es früher durch Herrschaftsverhältnisse und Ideologien aller Art verkleidet war. An Ideologie, die nicht von der Ökonomie und der als ökonomischer Macht wirkenden Natur bestimmt ist, ist die moderne Gesellschaft vielmehr reicher als frühere Gesellschaften. Die Wissenschaften, die Künste, eine größere Reihe sozialer Beziehungen sind heute viel weniger von der Ökonomie abhängig, als zu irgendeiner früheren Zeit. Oder um keiner Mißdeutung Raum zu geben, der heute erreichte Stand ökonomischer Entwicklung läßt den ideologischen und insbesondere den ethischen Faktoren einen größeren Spielraum selbständiger Betätigung, als dies vordem der Fall war. Infolgedessen wird der Kausalzusammenhang zwischen technisch-ökonomischer Entwicklung und der Entwicklung der sonstigen sozialen Einrichtungen ein immer mehr mittelbarer, und damit werden die Naturnotwendigkeiten der ersten immer weniger maßgebend für die Gestaltung der letzteren.

„Der ‚Geschichte ehernes Muß‘ erhält auf diese Weise eine Einschränkung, die für die Praxis der Sozialdemokratie, um dies vorauszuschicken, keine Minderung, sondern eine Steigerung und Qualifizierung ihrer sozialistischen Aufgaben bedeutet.“

Hier sind wir endlich aus dem Meer der Allgemeinheiten auf dem festen Boden konkreter Tatsachen angelangt, demjenigen, auf dem sich jede Geschichtsauffassung zu bewähren hat.

Aber diese Tatsachen, selbst wenn wir ihre Darstellung für richtig annehmen wollten, scheinen uns für Bernstein sehr wenig zu beweisen. Er behauptet, in der modernen Gesellschaft zeige sich stets steigende Fähigkeit, die ökonomische Entwicklung zu leiten; die ökonomische Naturmacht würde immer mehr von der Herrscherin zur Dienerin der Menschen, die Gesellschaft stehe der ökonomischen Triebkraft theoretisch freier als je gegenüber. Selbst wenn alles das richtig wäre, was würde dadurch gegen die materialistische Geschichtsauffassung (in der von Bernstein als primitiv hingestellten Form) bewiesen? Er scheint hier psychische Abhängigkeit von den ökonomischen Bedingungen mit Ökonomischer Abhängigkeit zu verwechseln. Die Frage ist die, ob die Aufgaben, welche sich die Menschheit jeweilen setzt, und ebenso die Arten ihrer Lösung durch die materiellen Bedingungen bestimmt werden, unter denen sie lebt, oder ob die Menschheit wirklich aus irgendeinem mystischen inneren Bedürfnis heraus sich Aufgaben setzen und lösen kann. Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht davon ab, ob die Gesellschaft Herrin der Produktionsverhältnisse ist oder nicht. Hinge sie aber davon ab, dann müßte das Resultat ein anderes sein, als Bernstein annimmt. Daran ist doch kein Zweifel, daß unter primitiven Wirtschaftsformen die Menschen viel mehr die Produktionsverhältnisse in ihrer Hand haben, als unter kapitalistischen, und daß jene viel einfacher und durchsichtiger, also die Einsicht in sie größer, als bei diesen der Fall. Eine Bauernfamilie, die alles selbst produziert, was sie braucht, hat den Produktionsprozeß, soweit er von gesellschaftlichen, nicht physischen Faktoren abhängt, völlig in ihrer Hand. Auch die Anfänge der Warenproduktion ändern nicht viel daran. Der Handwerker in einer mittelalterlichen Landstadt war noch halb Bauer, und soweit er von seinem Kundenkreis abhing, hatte er mit bestimmten, leicht übersehbaren Größen zu rechnen. Das ändert sich durch Dazwischentreten des Kaufmanns und durch die Entwicklung des Marktes zum Weltmarkt. Jetzt verwandeln sich die ökonomischen Mächte in vom Menschen unabhängige, über ihm stehende gesellschaftliche Mächte, die mit der elementaren Gewalt von Naturmächten wirken. Wäre die Abhängigkeit des Menschen von diesen Mächten gleichbedeutend mit seiner psychologischen Abhängigkeit vom Milieu, mit der Bestimmung des Bewußtseins durch das Sein, dann würde die Geltung der materialistischen Geschichtsauffassung sich verstärken, nicht sich abschwächen, wie Bernstein meint.

Diese Tatsachen sind ihm nicht unbekannt. Worauf stützt er aber dann seine Behauptung von der wachsenden Beherrschung der ökonomischen Mächte durch den Menschen in der modernen Gesellschaft? Innerhalb dieser selbst können wir allerdings Perioden unterscheiden, in denen die ökonomischen Mächte dem Menschen über den Kopf wachsen und solche, in denen diese glauben, sie völlig zu beherrschen. Erstere sind die Perioden der Krisen, letztere die des wirtschaftlichen Aufschwungs. Seit ein paar Jahren leben wir in einer der letzteren Perioden. Sollte das Bernstein genügen, daraus ein historisches Gesetz der „modernen Gesellschaft“ und die Aufhebung der materialistischen Geschichtsauffassung zu deduzieren? Dann ist seine neuere Geschichtsauffassung eine sehr prekäre.

Wer ist aber „die Gesellschaft“, wer sind die „Menschen“, die immer mehr die ökonomischen Mächte zu ihren Dienern machen? Sind es die Bauern, die Handwerker, die Kleinhändler? Oder die Lohnarbeiter? Ja, sind es auch nur die kleinen Kapitalisten und die Landjunker? Sie alle geraten in immer größere Abhängigkeit – in guten wie in schlechten Zeiten – von einer Handvoll Kapitalmagnaten. Diese letzteren bilden die „Gesellschaft“, die „Menschheit“, welche der „ökonomischen Triebkraft freier als je“ gegenübersteht.

Freilich ist das nur theoretische Freiheit. Ihre Übersetzung in praktische Freiheit wird verhindert durch die herrschenden Interessengegensätze, aber auch diese werden – in der bestehenden Gesellschaft notabene – durch das „Allgemeininteresse“ zurückgedrängt, das „in wachsendem Maße an Macht gegenüber dem Privatinteresse gewinnt“.

Ich traute nicht meinen Augen, als ich das las, und sah mich vergebens nach Tatsachen um, welche diesen kühnen Satz begründen könnten. Wo, bei welcher Klasse ist denn eine Überwindung der Klasseninteressen durch das Allgemeininteresse zu finden? Bei den Agrariern, die nach Liebesgaben schreien? Den Handwerkern und Kleinhändlern, die jede rationelle Wirtschaft verboten sehen möchten? Den Großindustriellen, die durch Schutzzölle und Kartelle Monopolpreise zu erzielen suchen? Sie alle verlangen nach Privilegien auf Kosten der Allgemeinheit, suchen diese, d. h. hier den Staat und die Konsumenten, zu plündern. Ein anderes Interesse an der Allgemeinheit haben sie nicht. Die einzige Klasse, die Allgemeininteresse an den Tag legt – soweit in einer Gesellschaft der Klassengegensätze von einem solchen gesprochen werden kann –, ist das Proletariat, nicht deshalb, weil wir Wilden doch bessere Menschen sind, sondern deshalb, weil sein Interesse zusammenfällt mit dem der sozialen Entwicklung und weil es als unterste Klasse schließlich die Kosten jedes Privilegs der oberen Klassen zu bezahlen hat. Insofern, als das Proletariat an Kraft zunimmt, kann man also von einer Erstarkung des Allgemeininteresses reden. Aber das ist nicht das, was Bernstein meint, der da von einer Überwindung der Klassengegensätze durch höhere Einsicht und höhere Ethik spricht.

Er meint, „der heute erreichte Stand ökonomischer Entwicklung läßt den ideologischen und insbesondere den ethischen Faktoren einen größeren Spielraum selbständiger Betätigung, als dies vordem der Fall war“. Bernstein sagt dies, um seinen Satz, „daß die Wissenschaften, die Künste, eine größere Reihe sozialer Beziehungen heute viel weniger von der Ökonomie abhängig sind, als zu irgend einer früheren Zeit“, vor Mißdeutungen zu bewahren. Aber der Satz wird dadurch nicht weniger zweideutig. Welche Art Abhängigkeit ist hier gemeint? Will Bernstein sagen, daß das Bewußtsein der Menschen heute weniger abhängig ist von ihrem Sein, daß das Milieu das Seelenleben weniger beeinflußt, daß es heute Aufgaben gibt, die sich die Menschen selbst nach Willkür stellen, für deren Lösung sie die Mittel nach Willkür erfinden, deren Lösung selbst sie willkürlich bestimmen? Dann ist sein Satz nur eine beweislose Behauptung dessen, was er beweisen will. Oder will er sagen, daß Wissenschaften, Künste, Ethik heute weniger als je direkt von den augenblicklich herrschenden ökonomischen Mächten beeinflußt werden? Aber was heißt das anderes, als behaupten, daß die anderen Mächte, die sie beeinflussen, die Naturanlagen und die von früher überlieferten Ideen, die Traditionen, heute stärker wirken als je, heute, wo der Mensch die Natur mehr beherrscht als jemals vorher, wo die Rassenverschiedenheiten durch den Verkehr sich immer mehr abschleifen, wo eine Produktionsweise herrscht, die alle Verhältnisse beständig revolutioniert, die alle alten Traditionen zerstört und neue nicht aufkommen läßt!

Oder will Bernstein sagen, daß die Ideologen heute von den herrschenden Mächten ökonomisch weniger abhängig sind, daß sie sich selbständiger betätigen können, als ehedem? Aber seitdem die Klassenunterschiede bestehen bis zur kapitalistischen Zeit war die Intelligenz stets bei den herrschenden und besitzenden Klassen zu finden, sie war ein Ausfluß der Herrschaft und des Besitzes. Entweder bildeten die intelligenten Elemente die einzige herrschende Klasse, wie überall in den Anfängen der Klassenteilung und wie auch im klassischen Griechenland, oder sie bildeten neben der Kriegerkaste eine besondere Klasse, die Priesterkaste. Welche Macht diese Ideologen zu erringen wußten, ist allbekannt. Wem ist die Weltherrschaft der mittelalterlichen Kirche fremd geblieben! Erst die kapitalistische Produktionsweise hat die Ideologen aus Machthabern zu Lohnarbeitern der Herrschenden gemacht. Niemals war die Abhängigkeit der Ideologen von den ökonomischen Mächten so groß wie heutzutage.

Aber so sehr diese Tatsache im Gegensatz zu dem Bernsteinschen Satze steht, so glauben wir doch gerade in ihr das Moment gefunden zu haben, das erlaubt, ihm eine den Tatsachen entsprechende Deutung zu geben.

Die Ideologen haben aufgehört, eine herrschende Klasse zu sein. Sie haben aber überhaupt aufgehört, eine zusammenhängende Klasse mit besonderen Klasseninteressen darzustellen. Sie bilden einen Haufen von Individuen und Koterien mit den verschiedensten Interessen. Wie schon öfter bemerkt, berühren sich diese Interessen zum Teil mit denen der Bourgeoisie, zum Teil mit denen des Proletariats. Dabei befähigt sie ihre Bildung, am ehesten einen höheren Standpunkt in der Betrachtung der sozialen Entwicklung zu gewinnen. Nicht von ausgesprochenen Klasseninteressen getrieben, oft handelnd auf Grundlage einer durch Gedankenarbeit gewonnenen tieferen Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, fühlen sich die Vertreter der „Intelligenz“ als die Vertreter des Allgemeininteresses gegenüber den Klasseninteressen, als die Vertreter von Ideen, die unabhängig sind von ökonomischen Motiven.

Und die „Intelligenz“ ist in stetem Anwachsen begriffen, somit wächst anscheinend das Allgemeininteresse gegenüber den Klasseninteressen, wächst die Unabhängigkeit der Künste, Wissenschaften, der ethischen Anschauungen von den ökonomischen Mächten. Nur wenn wir die Bernsteinschen Sätze in diesem Sinne deuten, werden sie uns begreiflich und verlieren sie ihren mystischen Charakter, hören sie aber auch auf, irgend etwas gegen den historischen Materialismus zu beweisen. Wohl wird uns aber jetzt dessen Deutung durch Bernstein verständlich.

Die eben geschilderte Entwicklung läßt in den Schichten der Gebildeten um so mehr proletarische Sympathien aufkommen, je stärker die proletarische Bewegung anschwillt und die bestehende Gesellschaft bedroht, je näher die ökonomische Lage vieler Gebildeten der des Proletariats kommt, je größer ihre Abhängigkeit von einem brutalen Protzentum. Aber nur wenige kommen dazu, sich direkt dem kämpfenden Proletariat anzuschließen. Nicht nur ist ihre Zwitterstellung zwischen den beiden kämpfenden Klassen einer entschiedenen Stellungnahme hinderlich, ihre Lage selbst macht sie unfähig zu Kämpfern.

„Gleicht die Intelligenz dem alten Kleinbürgertum in seiner politischen Haltlosigkeit und Unzuverlässigkeit“, bemerkte ich kürzlich, „so unterscheidet sie sich von ihm durch ihre gänzliche Kampfunfähigkeit. Ohne Klassenbewußtsein, ohne Organisation, ohne inneren Zusammenhang, zerfallend in unzählige Koterien und Individuen, die einander aufs schärfste befehden, ökonomisch ohne Rückhalt, mit bürgerlicher Lebenshaltung, aber nicht einmal mit proletarischen Mitteln des Widerstands gegen eine Maßregelung, sind die Mitglieder dieser Mittelschicht nicht imstande, ohne Anlehnung an andere Klassen auch nur die geringste Kampffähigkeit zu entfalten.“

Kein Wunder, daß sie ein Grauen erfaßt vor den großen Entscheidungskämpfen zwischen der kapitalistischen und der proletarischen Welt, denen wir entgegen gehen. Gleich den geraubten Sabinerinnen werfen sie sich zwischen die Kämpfenden und beschwören sie, sich zu versöhnen oder wenigstens nur solche Mittel des Kampfes anzuwenden, die nicht sehr weh tun.

Woher aber die Kraft nehmen, die die schroffen Gegensätze überwinden oder wenigstens mildern soll? Man verzweifelt daran, sie in der Ökonomie zu finden und sucht sie in der Ethik. Die von den ökonomischen Mächten unabhängige, über ihnen stehende Ethik, das ist die Kraft, die die Widerspenstigen bändigen, die Gegensätze in Wohlgefallen auflösen, anstelle des Kampfes friedliche Entwicklung und Versöhnung setzen wird.

Aber für eine derartige Ethik ist kein Platz im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung; die letztere ist also der Feind, der vor allem überwunden werden muß, soll die Ethik zu ihrem Recht kommen. Es sind nicht die Geschichtsforscher, sondern die Ethiker – Philosophen und Ökonomen –, die den historischen Materialismus für abgetan erklären – für so abgetan, daß sie immer zahlreicher gegen ihn zu Felde ziehen.

Diesem Ansturm hat Bernstein offenbar nicht standhalten können. Aber der Begriff des historischen Materialismus erscheint ihm biegsam genug, daß er glaubt, die Berechtigung der ethischen Kritik anerkennen und doch an der marxistischen Geschichtsauffassung festhalten zu dürfen; er glaubt sogar an Marx und Engels dieselbe Entwicklung konstatieren zu können. Er sieht nicht, daß das eine Entwicklung ist von konsequentem zu inkonsequentem Denken, von der Vertiefung zur Verflachung, von der Bestimmtheit zur Verschwommenheit, ein wissenschaftlicher Rückschritt gerade in der grundlegenden Frage.

Es ist keine bloße Doktorfrage, um die sich’s hier handelt. Die Versöhnung geschichtlicher Notwendigkeit mit sittlicher Freiheit, in der Weise, wie sie Bernstein in seiner Geschichtsauffassung vollzieht, bedeutet für die Praxis der Sozialdemokratie den Kompromiß der Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung mit der Freiheit des Utopismus, des Klassenkampfes mit der Versöhnung der Klassen durch den Gemeinsinn.

Bernstein müßte ganz andere Tatsachen vorbringen, als er vorbringt, wollte er uns von der Richtigkeit dieses Standpunkts überzeugen.


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012