Karl Kautsky

Friedrich Engels

(1895)


In: Die Neue Zeit, 13. Jahrg., 2. Bd., 1894/1895, S. 609/610.
Abgedruckt in Mohr und General, Erinnerungen an Marx und Engels, 2. Auflage, Berlin: Dietz Verlag, 1965, S. 595–7.
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Seit dem 14. März 1883 hat das kämpfende Proletariat keinen so schweren Verlust erlitten wie am letzten 5. August. Wir haben nun auch den zweiten der beiden Begründer des modernen Sozialismus verloren, den zweiten der beiden Denkriesen, die der Arbeiterklasse den sicheren Weg zum Sieg und zur Befreiung der gesamten Menschheit gewiesen.

Aber für denjenigen, der so glücklich war, in persönliche Verbindung mit Engels treten zu können, verblaßt fast der Verlust, den unsere Sache erleidet, vor dem persönlichen Verluste, denn in Friedrich Engels ist nicht bloß einer der universalsten Gelehrten, einer der tiefsten Denker, einer der kühnsten Kämpfer dahingegangen, sondern auch eine Persönlichkeit von überwältigendem Zauber, ein geradezu herrlicher Mensch, ein im besten Sinne des Wortes ritterlicher Charakter. Ein Mensch voll überschäumender Kraft und doch von zartestem Empfinden, hingebend und opferfreudig ohne Sentimentalität, selbstbewußt und mannhaft ohne Prahlerei, enthusiastisch ohne Überschwenglichkeit und Pathos, kein finsterer Fanatiker, sondern heiter und genußfreudig, der lachen konnte wie kein zweiter und der auch das Lachen anderer liebte, vor allem das helle Kinderlachen.

Welch unersetzlichen Verlust die Wissenschaft und die internationale Bewegung des Proletariats durch Engels’ Tod erleiden, brauchen wir nicht den Lesern dieser Zeitschrift auseinanderzusetzen, deren Aufgabe es ist, der Wissenschaft, die er mitbegründet, und der Bewegung, deren kräftigster Förderer er gewesen, zu dienen. Unentbehrlich ist freilich niemand, das hat uns Engels selbst gelehrt. Unsere Bewegung wurzelt in den Verhältnissen, nicht in einzelnen Personen. Aber es gibt Persönlichkeiten, die so hoch über ihre Umgebung hervorragen, daß sie bei ihrem Verschwinden eine klaffende Lücke hinterlassen, die niemand auch nur annähernd imstande ist auszufüllen. Und in diesem Sinne ist Engels für uns unersetzlich wie keiner.

Ja, man kann sagen, daß wir seinen Hingang noch weit schmerzlicher empfinden werden als den von Karl Marx, denn erst mit Engels ist uns Marx völlig gestorben. Solange Engels noch lebte, dessen Geistesleben mit dem von Marx so innig verwachsen war, lebte auch noch dieser unter uns, standen wir unter dem lebendigen Einflusse beider. Nun sind beide dahin. Aber wir würden nicht im Geiste von Friedrich Engels handeln, wollten wir an seinem Grabe nur trauern um das, was wir an ihm verloren, und uns nicht erheben durch den Gedanken an das, was wir durch ihn gewonnen, was wir ihm verdanken. Es ist ein unendlich reiches Erbe an Wissen und Können, das er uns hinterläßt, ein Erbe, das eine bleibende Bereicherung der Menschheit bedeutet, ein Erbe, das sich nicht vergraben läßt, sondern das selbst dazu drängt, es zu vermehren und zu erweitern.

Engels ist tot, aber der vom wissenschaftlichen Sozialismus befruchtete Klassenkampf des Proletariats lebt, kraftvoller als je. Und keinen besseren Scheidegruß wissen wir dem toten Freunde und Lehrer ins Grab nachzusenden, als den Ruf: Auf zum Kampf!


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012