Karl Kautsky

Arthur Schopenhauer

(1888)


In Die Neue Zeit, 1888, Heft I, S. 66–78 & Heft II, S. 97–109.
Abgedruckt in Haym/Kautsky/Mehring/Lukács, Arthur Schopenhauer, hrsgb. Wolfgang Harich, Aufbau-Verlag, Berlin (Ost), 1955, S. 156–201.
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Am 22. Februar dieses Jahres ist der hundertjährige Geburtstag Schopenhauers. Wer nur einen Blick auf die bergeshoch angewachsene Literatur über diesen Philosophen geworfen hat, eine Literatur [1], zu der Deutschland natürlich den größten Teil beigetragen, an der aber Frankreich und England in immer steigendem Maße Anteil nehmen, und wer sich der Verehrung, ja geradezu Vergötterung erinnert, die Richard Wagner, dem Jünger Schopenhauers, nicht nur seiner Kunst, sondern auch seiner Philosophie wegen zuteil geworden ist, der zweifelt wohl nicht daran, daß der kommende 22. Februar nicht sang- und klanglos vorübergehen, sondern sich zu einer Gelegenheit gestalten wird, den Philosophen des Pessimismus als einen Nationalheros, wo nicht als den größten Geistesriesen aller Völker und Zeiten zu feiern und zu preisen.

Und das deutsche Bürgertum hat ganz recht, wenn es Schopenhauer feiert. Es preist in ihm sich selbst: gehört er ihm doch voll und ganz an, ist er doch Fleisch von seinem Fleische. Schopenhauers Leben, sein Charakter, seine Lehren und deren rasche Verbreitung im letzten Menschenalter – alles das sind Erscheinungen, die für das deutsche Bürgertum in höchstem Grade charakteristisch sind.

Schopenhauer entstammte nicht einer Familie von Parvenüs. Sein Vater war einer der angesehensten Danziger Kaufleute, der an dem aristokratischen Bewußtsein des städtischen, fast kleinstädtischen Patriziats zäh festhielt. Seine Mutter Johanna, die später so beliebte Schriftstellerin, war die Tochter eines Danziger Senators. Danzig war zur Zeit der Geburt Arthur Schopenhauers noch eine Freie Stadt. Wenige Jahre nach der selben, 1793, wurde sie in ähnlicher Weise preußisch, wie mehr als ein Jahrhundert vorher Straßburg französisch geworden war. Die Danziger empfingen die Preußen nicht als „Befreier von polnischem Joch“, sondern als Eroberer, sie griffen zu den Waffen, um sich der Besetzung zu widersetzen, und als der Widerstand niedergeschlagen worden, wanderte ein Teil der erbitterten Einwohnerschaft aus, darunter auch Arthurs Vater, der nach Hamburg übersiedelte.

Mit neun Jahren wurde Arthur von seinem Vater nach Le Havre in Frankreich gebracht, wo er zwei Jahre bei einem Geschäftsfreunde verblieb. Fünfzehn Jahre alt, begleitete er seine reiselustigen Eltern nach Frankreich und England, wo sie einige Monate zubrachten. Bald nachher wurde ihm von seinem Vater die kaufmännische Laufbahn zugewiesen. Aber kaum war er in ein Hamburger Kontor eingetreten, da starb plötzlich sein Vater, wie man munkelte, infolge eines Selbstmords (1805). Der nicht allzu glänzende Zustand des Vermögens, das er hinterließ, machte diese Annahme nicht unwahrscheinlich. Indessen blieb seiner Familie genug, ihr eine bescheidene Existenz zu sichern. Arthur fiel eine Rente von etwa tausend Talern zu, im Anfang unseres Jahrhunderts keine unbedeutende Summe; fast noch ein Knabe, wurde Schopenhauer bereits ein Rentier; in dem Alter, in dem man zu genießen und zu arbeiten beginnt, wurde ihm als Hauptsorge die Verleihung seines Kapitals auf Zinsen zugewiesen. In dem Alter, in dem das Selbstvertrauen am größten, fühlte er seine Existenz völlig abhängig von der Arbeit anderer. So wurde bereits dem Jüngling Mißtrauen in die eigene Kraft und in die Ehrlichkeit anderer eingeimpft. Die Sache wurde nicht besser dadurch, daß er im Vertrauen auf seine Rente der kommerziellen Laufbahn adieu sagte und sich dem brotlosen Philosophieren zuwandte.

Seine Studienzeit weist keine besonderen Eigentümlichkeiten auf. Mit bedeutenden Männern, die auf ihn hätten Einfluß nehmen können, kam er fast gar nicht zusammen, wie denn die flache Mittelmäßigkeit sein Leben lang seine Lieblingsgesellschaft bildete. Trotz des engeren Verkehrs seiner Mutter, die nach Weimar gezogen war, mit Goethe und trotz dessen liebenswürdigem Entgegenkommen hörte der junge Schopenhauer bald auf, die Gesellschaft des greisen Dichters und Forschers zu suchen, der ihm wohl nicht die genügende Reverenz erwies.

1809 hatte Schopenhauer die Universität bezogen. 1813 machte er seinen Doktor in absentia in Jena. Die Zeit von 1809 bis 1813, in der die Grundlagen seiner philosophischen Anschauungen gelegt wurden, war die Zeit, in der das deutsche Philisterium anscheinend gegen die französische Fremdherrschaft zu rebellieren begann, in der in Wirklichkeit der Rückstoß des noch halbfeudalen Ostens, Rußlands, Österreichs, Preußens, gegen den bürgerlich entwickelten Westen, Frankreich und die deutschen Rheinlande, die Reaktion gegen die Französische Revolution sich vorbereitete. In den Philisterkreisen, in denen Schopenhauer verkehrte, namentlich in Berlin, wo er seit 1811 verweilte, empfing er seine politischen und sozialen Anschauungen – soweit er überhaupt welche hatte. Denn seit jeher stand für ihn sein Ich, sein Wohlbehagen und sein Ansehen, im Vordergrunde des Interesses, und Staat und Gesellschaft kümmerten ihn wenig.

Als 1813 der kriegerische Enthusiasmus in Preußen losbrach, da konnte sich ihm freilich auch der 25jährige Schopenhauer nicht entziehen. Er steuerte für die Freiwilligen bei, er kaufte sich Gewehr und Degen; als aber nach der Schlacht bei Lützen Berlin von den Franzosen bedroht schien und die gute Gesellschaft der Hauptstadt voll patriotischen Todesmuts Reißaus nahm, da lief auch Schopenhauer mit, oder, wie seine Verehrer es ausdrücken: er „zog sich vom Kriegsgetümmel in die Natur zurück“, nämlich nach Rudolstadt, und schrieb dort seine Doktordissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, indes in riesenhaftem Kampfe das Schicksal der Welt entschieden wurde. Seine Rente wurde ja durch diese Kämpfe nicht berührt.

Wohl aber erschien sie ihm von anderer Seite gefährdet. Den Winter 1813/14 brachte er bei seiner Mutter in Weimar zu und hatte Gelegenheit, ihre Lebensweise zu beobachten. Sie war ihm zu leichtsinnig, zu verschwenderisch. Schwer lastete auf dem jungen Philosophen die Sorge, er könne einmal in die Lage kommen, seine Rente mit seiner Mutter oder Schwester teilen zu müssen.

„Die nur zu sehr begründete Besorgnis des Sohnes“, sagt Gwinner, ein Verehrer Schopenhauers, wenn auch kein blinder, „daß das väterliche Vermögen in den Händen der Mutter noch ganz zusammenschwinden und ihm, der sich zum Erwerb nicht befähigt fühlte, die Sorge für seine nächsten Angehörigen zufallen könnte, steigerte sein Mißtrauen (zur Mutter) und führte zu Auftritten zwischen Mutter und Sohn, welche die für ihre Gemütsruhe besorgte Frau schon nach wenigen Monaten veranlaßten, dem Zusammenleben für immer ein Ziel zu stecken“ (Mai 1814) [2].

Trotz der Geldsorgen und Streitigkeiten war der Weimarer Aufenthalt nicht ohne Einfluß auf Schopenhauer gewesen. Im Umgang mit Goethe lernte er dessen Farbenlehre kennen, die er annahm und an der er im wesentlichen hartnäckig bis zum Tode festhielt, nachdem sie längst als unhaltbar erwiesen worden. Sie liegt seiner 1815 erschienenen Schrift Über das Sehen und die Farben zugrunde. Wichtiger wurde für ihn die Bekanntschaft mit dem Orientalisten Friedrich Majer, der ihn in die heiligen Schriften der Inder einweihte. In ihnen glaubte er den Schlüssel zu den Rätseln des Lebens zu finden, in ihnen fand er die Ruhe, nach der er sich so sehnte in dem allgemeinen Getümmel, das Versinken in das eigene Ich, die Resignation gegenüber der revolutionären Begehrlichkeit, die ihm aus den Schriften der Ideologen seiner Zeit entgegenleuchtete und die die Quelle aller Unruhe, aller Ungemütlichkeit war.

Rasch bildete sich jetzt sein „System“, wenn man es so nennen kann, jedoch keineswegs während eines „vierzigtägigen Fastens in der Wüste“, sondern in Dresden, wo Schopenhauer von 1814 bis 1818 als „Mann von Welt“ lebte. 1818 war sein Hauptwerk fertig, Die Welt als Wille und Vorstellung, und auch seine Entwicklung war damit im großen und ganzen abgeschlossen. Alles, was er in den 42 Jahren, die er seitdem noch gelebt, leistete, war, verschiedene Seiten dieses Systems detaillierter zu behandeln oder der Welt eindringlicher vorzuführen. Der Begriff der Entwicklung ist wie seinen Theorien, so auch seinem Charakter stets fremd geblieben. Was er einmal gesagt hatte, daran hielt er hartnäckig sein ganzes Leben lang fest. Am auffallendsten zeigt sich seine Verstocktheit darin, daß die Revolution in den Naturwissenschaften, die sich seit den Anfängen unseres Jahrhunderts vollzogen, spurlos an ihm vorüberging und er bis an sein Lebensende unerschütterlich an der „Lebenskraft“, dem „Chemismus“ [3], der Goetheschen Farbenlehre usw. festhielt. In der Tat, was sollten auch Selbstkritik und Weiterentwicklung einem Mann, der so groß von sich dachte, daß er überzeugt war, den „letzten Schritt“ in der Philosophie getan zu haben [4], und der es ganz trocken aussprach, die Enträtselung des Widerspruchs zwischen der moralischen Bedeutung und dem Lauf der Welt sei

„so schwierig, daß es mir aufbehalten bleiben konnte, das wahre, allein echte und reine, daher überall und allezeit wirksame Fundament der Moralität, nebst dem Ziel, welchem es zuführt, darzulegen; wobei ich zu sehr die Wirklichkeit des moralischen Hergangs auf meiner Seite habe, als daß ich zu besorgen hätte, diese Lehre könne jemals noch wieder durch eine andere ersetzt und verdrängt werden.“ [5]

Bereits in der Vorrede zur ersten Auflage seines Hauptwerks verglich er seine Philosophie mit dem Stein der Weisen, und einige Monate nach dessen Erscheinen prophezeite sich der unbekannte 30jährige Mann, daß die Nachwelt ihm ein Denkmal errichten werde. Er hatte nichts mehr zu tun, als seine Renten zu verzehren und zu warten, bis die Gläubigen kamen und ihm das Denkmal setzten.

Da weckte ihn aus seiner philosophischen Selbstgefälligkeit die Schreckensnachricht, daß – nicht sein Denkmal, wohl aber seine Rente gefährdet sei. Einen Teil seines Vermögens hatte er, gleich seiner Mutter und seiner Schwester, bei einem Danziger Handlungshaus angelegt, dieses stand 1819 vor dem Bankrott. Die Nachricht traf ihn in Italien, wohin er sich nach der Publikation seines Werkes begeben und wo er sich nicht allzu buddhistisch an dem und den Schönen ergötzte. Eilends flog er zurück über die Alpen. Das Handlungshaus bot ihm einen Ausgleich von 30 Prozent an, wie ihn die übrigen Gläubiger akzeptiert hatten; und als Schopenhauer darauf nicht einging, verstanden sich die Schuldner zu 50 Prozent. Aber umsonst, Schopenhauer wollte keinen Pfennig nachlassen, und als ihm seine Schwester zu dem Ausgleich riet, da erfaßte ihn ohne weiteres der Argwohn, seine Mutter und Schwester wollten ihn betrügen, und er dachte das nicht nur, sondern schrieb es ihnen auch ohne Umschweife. So, wie fünf Jahre vorher mit seiner Mutter, entzweite er sich jetzt durch ganz ungerechtfertigten Argwohn in Geldsachen mit seiner Schwester.

Es gelang Schopenhauer schließlich durch Grobheit und juristische Spitzfindigkeit wirklich, seinen vollen Anteil (8000 Taler) aus der Firma herauszupressen, die alles aufbot, um an der offenen Bankrotterklärung vorbeizukommen. Freilich gelang es ihm nur dadurch, daß alle anderen Beteiligten den Ausgleich annahmen.

Solange diese Angelegenheit nicht entschieden war, hatte er alle Ursache, eine Schmälerung seiner Rente zu fürchten, und da sein Buch unbeachtet blieb und gleich seinen früheren Schriften zu Makulatur wurde, sah er sich nach einer Dozentenstelle an einer Universität um. Er, der später nicht harte Worte genug fand, um die Professoren herunterzureißen, die um Brot lehrten, schrieb damals an den Professor Lichtenstein in Berlin:

„Durch einen Bankrott in Danzig werden meine Zinsen jetzt beträchtlich geringer werden, jedoch werden sie für das eigentlich Nötige noch ausreichen. Sollte der Ertrag meiner Vorlesungen mir den eingetretenen Abgang ersetzen, so ist das alles, was ich wünsche.“ [6]

Schopenhauer wurde 1820 Privatdozent in Berlin. Der Erfolg war jedoch diesem Versuch nicht günstiger als seinem Buch. Sein Größenwahn und sein Geiz waren nicht danach angetan, dem unbekannten Dozenten Hörer zuzuführen. Er weigerte sich hartnäckig, ein Kollegium umsonst zu lesen, und ebenso hartnäckig bestand er darauf, seine Vorlesungen in dieselben Stunden zu verlegen, in denen Hegel seine Hauptvorlesung hielt. Natürlich ging alles zu Hegel. Zwölf Jahre lang wurde in jedem Semester sein Kollegium im Lektionskatalog angezeigt, aber die Hörer blieben aus. Schopenhauer las nur während eines Semesters (Sommer 1820), und da nicht zu Ende.

Dieser Mißerfolg, an dem er selbstverständlich allem andern die Schuld beimaß, nur nicht sich selbst, machte ihm den Aufenthalt in Berlin nicht gerade angenehmer. Er liebte diese Stadt ohnehin nicht besonders. Eine fatale Erinnerung knüpfte sich an seinen ersten Aufenthalt daselbst: es waren damals dem jungen Studenten zu wiederholten Malen Geldsummen gestohlen worden, ihm, „der es an exorbitanten Vorsichtsmaßregeln nie hatte fehlen lassen – vielleicht gerade mit aus diesem Grunde“ (Gwinner).

In der Tat, wenige Menschen dürften so argwöhnisch und furchtsam, so besorgt um ihr Geld und ihre werte Person sein, wie es dieser Philosoph war. Gwinner zeichnet ihn in folgender charakteristischer Schilderung:

„Bei Schopenhauer hatte die Natur ein übriges getan, sein Herz zu isolieren, indem sie es mit Argwohn, Reizbarkeit, Heftigkeit und Stolz in einem mit der mens aequa (Gleichmut) des Philosophen fast unvereinbaren Maße bedachte. Vom Vater angeerbt war ihm jene von ihm selbst verwünschte und zeitlebens mit dem ganzen Aufwande seiner Willenskraft bekämpfte, an Manie grenzende Angst, die ihn zuweilen bei den geringfügigsten Anlässen mit solcher Gewalt überfiel, daß er bloß mögliches, ja kaum denkbares Unglück leibhaftig vor sich sah. Eine fruchtbare Phantasie steigerte diese Anlage ins Unglaubliche. Schon als sechsjähriges Kind fanden ihn die vom Spaziergang heimgekehrten Eltern eines Abends in der vollsten Verzweiflung, weil er sich plötzlich von ihnen für immer verlassen wähnte. Als Jüngling quälten ihn eingebildete Krankheiten und Streithändel. Während er in Berlin studierte, hielt er sich eine Zeitlang für auszehrend. Beim Ausbruch des Kriegs (1813) bildete er sich ein, zum Kriegsdienst gepreßt zu werden. Aus Neapel vertrieb ihn die Angst vor den Blattern, aus Berlin die Cholera. In Verona ergriff ihn die fixe Idee, vergifteten Schnupftabak genommen zu haben. Als er 1833 im Begriffe war, Mannheim zu verlassen, überkam ihn ohne alle äußere Veranlassung ein unsägliches Angstgefühl. Jahrelang verfolgte ihn die Spur vor einem Kriminalprozeß, vor dem Verlust seines Vermögens und der Anfechtung der Erbteilung seiner eigenen Mutter gegenüber. Entstand in der Nacht Lärm, so fuhr er vom Bette auf und griff nach Degen und Pistole, die er beständig geladen hatte. Auch wenn keine besondere Erregung eintrat, trug er eine fortwährende innere Sorglichkeit in sich, die ihn Gefahren sehen und suchen ließ, wo keine waren. Sie vergrößerte ihm die kleinste Widerwärtigkeit ins unendliche und erschwerte ihm vollends den Verkehr mit Menschen.

Wie sich selbst, so quälte er die, welche mit ihm umgingen, durch seinen Argwohn... Seine Wertsachen hielt er dergestalt versteckt, daß trotz der lateinischen Anweisung, die sein Testament dazu gab, einzelnes nur mit Mühe aufzufinden war. Seit seiner zweiten italienischen Reise führte er sein Rechnungsbuch englisch und bediente sich bei wichtigen Geschäftsnotizen des Lateinischen und Griechischen. Um sich vor Dieben zu schützen, wählte er täuschende Aufschriften, verwahrte seine Wertpapiere als arcana medica (Geheimmittel), die Zinsabschnitte besonders, in alten Briefen und Notenheften, und schwere Goldstücke als Notpfennige unter dem Tintenfasse im Schreibpult. Nie vertraute er sich dem Schermesser eines Barbiers an; auch führte er stets ein ledernes Becherchen mit sich, um beim Wassertrinken in öffentlichen Lokalen keiner Ansteckung preisgegeben zu sein. Die Spitzen und Köpfe seiner Tabakspfeifen nahm er nach jedesmaligem Gebrauch unter Verschluß. Aus Furcht vor dem Scheintode verordnete er, daß seine Leiche über die gewöhnliche Zeit hinaus offen beigesetzt werden solle. Nach den betrübenden Erfahrungen, die er sowohl in seiner Eltern wie in seinen eigenen Vermögensangelegenheiten gemacht hatte, kann es unter solchen Umständen noch weniger wundernehmen, daß er später in allen Vertragsverhältnissen stets fürchtete, betrogen zu werden ... Daß er damit häufig Anstoß erregte, das Ehrgefühl manches ehrlichen Mannes, mit dem er in Berührung kam, empfindlich verletzte und sich stets von neuem Gegenstöße unsanfter Art zuzog, vermochte ihn nicht zu bekehren.“ [7]

Zu den Qualen steten Argwohns und unbefriedigter Eitelkeit gesellte sich bald ein Vorfall, der Schopenhauer aufs tiefste verletzte und ihm seinen Aufenthalt in Berlin vollends verleidete: ein unglücklicher Prozeß.

Dessen Ursache war ebenso kleinlich als charakteristisch. Schopenhauer hatte bei einer Witwe Becker zwei Zimmer gemietet und sich ausgebeten, daß das zu diesen führende Vorzimmer, das er nicht mietete, frei bleibe. Eines Tages, als er heimkam, traf er dort drei Freundinnen seiner Wirtin an. Entrüstet forderte er sie auf, augenblicklich das Vorzimmer zu verlassen, und als eine der drei, die 47jährige Näherin Marquet, dies nicht tat, weil sie von ihrer Freundin die Erlaubnis habe, sich im Vorzimmer aufzuhalten, warf er sie gewaltsam hinaus, schimpfte sie „altes Luder“, wie er selbst zugab, und verletzte sie erheblich, wie sie behauptete, was jedoch Schopenhauer entschieden bestritt. Ihm zufolge waren ihre Verletzungen nur unbedeutend.

Die alte Näherin leitete nun eine Injurienklage gegen den Philosophen ein. Dieser, statt sich mit der Klägerin auszugleichen, was weder seine Rechthaberei noch sein Geiz zuließ, weigerte sich, ihr die geringste Genugtuung zu geben. Die Klägerin wurde in erster Instanz abgewiesen, die zweite Instanz dagegen verurteilte Schopenhauer wegen Realinjurien zu einer Geldbuße von 20 Talern. Nach diesem Erfolg verklagte die Näherin Schopenhauer auch noch auf Schadenersatz, da sie infolge der ihr zugefügten Verletzungen seitdem ihre Erwerbsfähigkeit verloren habe. Sie forderte eine monatliche Pension von 5 Talern bis zur Wiedererlangung ihrer Erwerbsfähigkeit. Über den wirklichen Tatbestand können wir nicht urteilen, da wir nur die Schopenhauersche Darstellung kennen. Es scheint uns indes nicht wahrscheinlich, daß ein preußisches Gericht zugunsten einer Proletarierfrau einem wohlhabenden Bourgeois Unrecht zugefügt haben würde, wenn das Recht so offen auf seiner Seite war, wie Schopenhauer behauptet. Das Kammergericht verurteilte diesen, die Entschädigung zu zahlen (1824). Schopenhauer appellierte, das Appellationsgericht entschied 1825, daß er nur Kurkosten, keine Alimente zu zahlen habe. Das alte Weib und der Philosoph waren einander würdig, sie gaben einander an Hartnäckigkeit nichts nach. Die Klägerin appellierte nun ihrerseits, und das Obertribunal entschied für sie. Damit wäre die Sache eigentlich abgetan gewesen, um so mehr, als es sich nur um eine Bagatelle handelte. Aber Schopenhauer tat, als wenn sein Leben oder das Wohl des Staates gefährdet sei, und wandte sich 1826 an das Justizministerium, um eine Revision des Prozesses zu erwirken. Er erlangte diese auch, jedoch ohne Intervention des Ministers, indes nur, um zu erfahren, daß der Oberappellationssenat am 4. Mai 1827 das Urteil des Kammergerichts bestätigte. Der Prozeß hatte sechs Jahre, von 1821 bis 1827, gedauert.

Nach alledem gefiel es ihm in Berlin nicht mehr, es hätte nur eines geringfügigen Anlasses bedurft, ihn zu vertreiben. Und da kam ein für den furchtsamen Mann gewaltiger Anlaß: Die Cholera. Ein Traum gebot ihm, Berlin zu verlassen, und er gehorchte. Das ist kein Scherz, keine böswillige Übertreibung. Schopenhauer sagt es uns selbst – wir lernen da eine neue Seite an ihm kennen, die zu den übrigen sehr gut paßt: seinen Aberglauben. Schopenhauer erzählt uns, er habe in der Neujahrsnacht 1830/31 einen Traum gehabt.

„Dieser Traum trug viel dazu bei, mich zu bewegen, beim Eintritt der Cholera 1831 Berlin zu verlassen: er mag von hypothetischer Wahrheit, also eine Warnung gewesen sein, das heißt, wenn ich geblieben, wäre ich an der Cholera gestorben. Gleich nach meiner Ankunft in Frankfurt hatte ich eine vollkommen deutliche Geisteserscheinung: es waren, wie ich glaube, meine Eltern und deutete an, daß ich jetzt die damals noch lebende Mutter überleben würde, der schon tote Vater trug ein Licht in der Hand.“ [8]

Eine Zeitlang hatte Schopenhauer die Absicht, sich in Mannheim niederzulassen. Unter den Vorzügen, die ihn dort anzogen, finden wir von ihm selbst erwähnt den, daß daselbst eine ausgezeichnete Küche zu finden, daß die Gefahr, bestohlen zu werden, gering, und endlich, daß die Versuchung, Bücher zu kaufen, nicht groß sei, so daß er eine Menge Geld erspare; schließlich entschied er sich jedoch für das seiner Ansicht nach cholerafeste Frankfurt am Main, wo er von 1833 bis zu seinem Tode wohnen blieb.

Er lebte daselbst in den ersten Jahren völlig isoliert, das heißt, ohne sich an jemanden enger anzuschließen. Er mied jedoch keineswegs die Gesellschaft: er suchte sie vielmehr täglich mehrere mal auf, mittags und abends an der Tafel eines der ersten Frankfurter Hotels, nachmittags, nach seinem Spaziergang, in einer Lesegesellschaft. Aber freilich, eine für einen Philosophen anregende Gesellschaft war es nicht, die er sich da suchte: Bankiers, Offiziere, Philister aller Art. Aber je platter seine Umgebung, desto erhabener erschien er sich selbst, und je mehr die wissenschaftliche Welt ihn ignorierte, desto größer sein Bedürfnis, wenigstens seiner persönlichen Umgebung das Bewußtsein seiner Größe mitzuteilen. Sein Biograph Gwinner teilt uns darüber mit:

„Unterhaltungen bei Tische liebte er (in der Regel) sehr und blieb, wenn das Gespräch nach seiner Art war, ohne eine Spur von Ermüdung bis tief in die Nacht hinein sitzen ... Aber die rücksichtslose Ungescheutheit, mit welcher er sich selbst und dem, mit welchem er sprach, die weite Kluft zwischen seiner ganzen Denk- und Sinnesart und der gemeinen bei jedem Anlaß bewußt werden ließ, isolierte ihn stets von neuem, und so nahm sein Verkehr mit den Leuten in der Regel einen kurzen Verlauf und ein gewaltsames Ende.“ [9]

Aber schließlich gelang es ihm doch, einige Leute zu finden, denen er so sehr imponierte, daß sie seinen Argwohn, seinen Eigendünkel und seine Flegelei ruhig über sich ergehen ließen. Sie waren unbedeutend, und Schopenhauer machte sich mitunter selbst über sie lustig, aber sie waren ihm ergeben, und so ernannte er sie zu seinen Aposteln und einen von ihnen, dessen Eifer ebenso groß als seine Unterwürfigkeit war und der überdies als Literat seines Meisters Lehre zu verbreiten suchte, zu seinem „Erzevangelisten“, den Dr. Julius Frauenstädt.

Indes blieben alle Bemühungen Schopenhauers selbst und seiner paar Apostel, auf das Publikum zu wirken, erfolglos. Seine Abhandlung Über den Willen in der Natur von 1836, die von der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Drontheim gekrönte Preisschrift Über die Freiheit des menschlichen Willens von 1839, wie die der Wissenschaftlichen Akademie zu Kopenhagen als Preisschrift eingesandte, aber nicht gekrönte Abhandlung Über das Fundament der Moral (1840) und der zweite Band seiner Welt als Wille und Vorstellung (1844), Ergänzungen enthaltend, sie alle blieben fast völlig unbeachtet. Der Sohn der Geistesrichtung, der die Heilige Allianz entsprossen war, konnte bei der revolutionären Bourgeoisie vor 1848 keinen Anklang finden; der kleine Rentier, dem jede Arbeit, also auch der Staatsdienst, verhaßt war, fand keine Beachtung in den offiziellen Kreisen. Das deutsche Bürgertum mußte erst seine revolutionären Illusionen verlieren, ehe es reif wurde für den Schopenhauerianismus.

Dies geschah in der Revolution von 1848. Schopenhauer ahnte freilich nicht, daß diese die Wendung zu seinen Gunsten herbeiführen werde. Er verstand sie nicht, wie überhaupt nicht die historische Entwicklung. Er lebte für sich und nicht für das Gemeinwesen. Schenkte er doch, wie uns Gwinner (Seite 532) erzählt, „deutschen Zeitungen erst, seitdem sie sich mit ihm beschäftigten, größere Aufmerksamkeit“. Auch die Revolution von 1848 beurteilte er, nach den vorliegenden Zeugnissen zu urteilen, nur nach den persönlichen Unbequemlichkeiten, die sie ihm auferlegte.

Am 11. Juni 1848 schrieb er an Frauenstädt, er habe in der „Märzangst“ seine Ausgaben eingeschränkt. Jetzt aber komme wieder die Sonne hervor:

„diese läßt sich, eben in diesem Augenblick, herrlich sehen, als Erzherzog Johann (welche Sonne! K.K.), dessen Einfahrt sogleich die Kanonen verkündigen werden. Der Horizont hellt sich überall auf,

Vernunft fängt wieder an zu sprechen
Und Hoffnung wieder an zu blühn.

Und die Hundsfötter allerorten machen lange Gesichter ... Geistig habe ich diese vier Monate schrecklich leiden müssen: alles Eigentum, ja der ganze gesetzliche Zustand bedroht! In meinem Alter wird man von dergleichen schwer affiziert – den Stab, an dem man das ganze Leben zurückgelegt (Die Rente? K.K.) und dessen man sich wert bewiesen, wanken zu sehen!“ Und am 2. März 1849 schilderte er Frauenstädt eine Szene aus den Frankfurter Barrikadenkämpfen vom September des vergangenen Jahres mit einer Lebendigkeit, in der noch die ganze ausgestandene Angst nachzittert: „Ist mit mir alles beim alten. Der Atma (Schopenhauers Pudel, K.K.) grüßt schönstens. Aber was haben wir alles erlebt! (Vom Pudel zur Revolution ist bloß ein Schritt. K.K.) Denken Sie sich, am 18. September eine Barrikade auf der Brücke und die Schurken bis dicht vor meinem Hause stehend, zielend und schießend auf das Militär in der Fahrgasse, dessen Gegenschüsse das Haus erschüttern: plötzlich Stimmen und Gepolter an meiner verschlossenen Stubentür! ich, denkend, es sei die souveräne Kanaille, verrammle die Tür mit der Stange! jetzt geschehen gefährliche Stöße gegen dieselbe: endlich die feine Stimme meiner Magd (die also hatte unser Held ausgeschlossen und der von ihm so gefürchteten ‚souveränen Kanaille’ preisgegeben): ‚es sind nur einige Österreicher.’ Sogleich öffne ich diesen werten Freunden! zwanzig blauhosige Stockböhmen stürzen herein, um aus meinem Fenster auf die Souveränen zu schießen, besinnen sich aber bald, es ginge vom nächsten Hause besser. Aus dem ersten Stock rekognoszierte der Offizier das Pack hinter der Barrikade: sogleich schicke ich ihm den großen doppelten Operngucker, mit dem Sie einst den Ballon sahen; und das ist der Philosophen Studierzimmer!“ [10]

Es war ganz in der Ordnung, daß der Philosoph diensteifrigst seinen „werten Freunden“, den „blauhosigen Stockböhmen“, mit seinem großen Operngucker bei der Niederschießung seiner Mitbürger behilflich war: ebneten doch jene seiner Philosophie den Weg. Der Katzenjammer nach 1848 war die richtige Zeit für den Pessimismus Schopenhauers. In dieser richtigen Zeit erschien auch (1851) das richtige Buch, die Parerga und Paralipomena, eine Reihe meist populärer Abhandlungen und Aphorismen über alles mögliche; weniger Metaphysik als „Lebensweisheit“. Dies Buch brach Schopenhauer Bahn. Was er so lange vergeblich ersehnt und erharrt, es sollte ihm endlich kommen, die Bewunderung dessen, was er die Welt nannte. Freilich hatte er diese der Urteilslosigkeit angeklagt, solange sie sich nicht um ihn kümmerte, ja, er erklärte geradezu, er schäme sich, immer noch mitunter mit den Menschen zu verkehren, als wären sie seinesgleichen. Schon 1816, 28 Jahre alt, schrieb er in Dresden: „Ich rede bisweilen mit Menschen, wie ein Kind mit seiner Puppe redet: es weiß zwar, daß die Puppe es nicht versteht, schafft sich aber durch wissentliche Selbsttäuschung die Freude der Mitteilung.“ Und 1819 schrieb er in Italien: „Wenn ich doch nur die Illusion loswerden könnte, das Kröten- und Otterngezücht für meinesgleichen zu halten: da wäre mir viel geholfen.“ Immer größer wurde der Philosophendünkel, er wuchs zum Größenwahn: „Ich habe den Schleier der Wahrheit tiefer gelüftet, als einer der Sterblichen vor mir“, rief er, „aber den will ich sehen, der sich rühmen kann, eine elendere Zeitgenossenschaft gehabt zu haben als ich.“

Jetzt also kam diese „elende Zeitgenossenschaft“ zu ihm, und er verachtete sie nicht. Im Gegenteil, ihr Beifall berauschte ihn, er legte nicht die mindeste Kritik an ihn; ihm galt es gleich, daß die Mehrzahl derjenigen, die ihn priesen, ihn nicht verstand, daß die wissenschaftliche Welt sich ablehnend verhielt und daß nur das gebildete und halbgebildete Philisterium sich um ihn scharte. „Ist doch seltsam, daß meine Philosophie gerade bei den Offizieren so viel Anklang findet“, schrieb er an Frauenstädt am 8. Februar 1855, „aber alles bloß in Preußen.“ Und am 13. Mai 1856:

„Einliegend ein Gedicht und drei Briefe (remittenda) aus dem Orient, Okzident und Mittelreich. Der Brief des Frauenzimmers, die sich nicht unterschrieben hat, ist von vieler Bedeutung, als Symptom. Bedenke ich nämlich, welche tiefe Wirkung und Enthusiasmus meine Philosophie in Ungelehrten, Geschäftsleuten und gar noch Weibern hervorgebracht hat und wie vieles der Art wir nicht erfahren, so kommen mir über die Rolle, die solche 1900 spielen wird, Gedanken, die ich schriftlich nicht einmal Ihnen mitteilen mag: Sie können sie auf eigene Hand haben.“

Daß man sich des Erfolges freut und ihm nicht allzu skeptisch gegenübersteht, und um so weniger, je mehr man an ihm verzweifelte, ist begreiflich und kaum anders zu erwarten. Aber die Art und Weise, wie der Erfolg auf Schopenhauer wirkte, ist geradezu lächerlich. Man lese seine ganze Korrespondenz mit Frauenstädt: sie dreht sich nur um seine Person; ihn interessiert nur, was man über ihn sagt und schreibt; und alles das, und sei es noch so geringfügig, wird, natürlich nur, wenn es günstig ist, sogleich den Verehrern mitgeteilt, um ihre Verehrung zu vermehren. Jedes Geburtstagsgeschenk, jedes einlaufende Gedicht, jeder Wunsch, seine Photographie zu besitzen, wird den Verehrern ausposaunt. Briefe wie den oben zitierten, in denen an Frauenstädt Lobeshymnen und dergleichen geschickt werden, gibt es unzählige in der Schopenhauerschen Korrespondenz der letzten Jahre.

An Lindner schrieb er z. B. am 23. Februar 1859: „Gestern war mein 71. Geburtstag: Acht Gratulationsbriefe, ein Sonett, ein ganz frisches Bukett aus Berlin, steht vor mir im Wasser, kam per Expreß, mit drei Perlenstickereien, ferner zwei Bücher, davon eines von Asher mir dediziert: zehn Tage nach der ersten Anzeige sind über vierhundert Bestellungen darauf eingelaufen! Ist bloß, weil mein Name darauf steht.“ Und an Frauenstädt am 1. März 1856: „Habe Ihnen unterm Kreuzkuvert das Konversationsblatt mit dem Gedicht auf meinen Geburtstag geschickt, damit Sie sehen, wie man mich verherrlicht.“ An denselben: „Das Unerhörteste aber ist, daß Wiesecke mir und dem Maler sehr ernsthaft gesagt hat, er wolle für dieses Bild (Schopenhauers Porträt) ein eigenes Haus bauen, darin es hängen soll. Das wäre ja dann die erste mir errichtete Kapelle.“ Das ist nicht mehr überschwengliches Selbstgefühl, das ist geckenhafte Selbstgefälligkeit.

Nachdem Schopenhauer fast ein Jahrzehnt lang sich in seiner zunehmenden Berühmtheit gesonnt hatte, starb er, 72 Jahre alt, am 21. September 1860. Seine Verehrer sagen, er sei gestorben, wie er gelebt habe, noch nach seinem Tode ein Wohltäter der Menschheit, voll Mitleid für die leidende Kreatur. Sein Vermögen, das er durch weise Sparsamkeit verdoppelt hatte, vermachte er einer „wohltätigen Stiftung“, nämlich

„den in Berlin errichteten Fonds zur Unterstützung der in den Aufruhr- und Empörungskämpfen der Jahre 1848 und 1849 für Aufrechthaltung und Herstellung der gesetzlichen Ordnung in Deutschland invalide Gewordenen, wie auch den Hinterbliebenen solcher, die in jenen Kämpfen gefallen“.

Wenn wir nicht irren, bedachte er auch seinen Pudel mit einem Legat.




Der Eindruck, den Schopenhauers Persönlichkeit bei näherer Betrachtung erregt, ist kein besonders anziehender. Fern sei es von uns, wie mancher Gegner Schopenhauers pflegt, darüber in sittliche Entrüstung auszubrechen und den Philosophen und mit ihm auch seine Lehre moralisch zu verurteilen. Die Schopenhauerianer selbst haben freilich am allerwenigsten Ursache, sich über ein solches Vorgehen zu beklagen: damit wird ihrem Meister nicht mehr angetan, als dieser selbst an seinen Gegnern, Hegel und andern, verübte. Stellte er sich doch nicht bloß intellektuell, sondern auch moralisch über diese, forderte also zur Untersuchung seines persönlichen Charakters förmlich heraus. [11]

Wir haben nicht das Bedürfnis, den Sittenrichter zu spielen, und halten dieses Amt für ziemlich unfruchtbar. Aber damit ist nicht gesagt, daß es uns nicht von der größten Bedeutung erscheint, Klarheit über den Charakter, die Lebensstellung und persönliche Entwicklung eines Philosophen zu erlangen, mit dessen Lehren man sich beschäftigt. Man wird zum vollen Verständnis der letzteren erst gelangen, wenn man die ersteren Faktoren genau kennt.

Dieselben Einwirkungen, welche die Lebenslage und Lebenslaufbahn eines Philosophen bestimmten – oder überhaupt eines Denkers, der Gebiete behandelt, die ganz oder zum Teil auf die Gesellschaft und den Menschen als gesellschaftliches Wesen Bezug haben –, beeinflußten auch seine theoretischen Anschauungen. Sie sind aber in seinen persönlichen Verhältnissen leichter zu erkennen als in seinen Theorien, sie bieten uns einen Schlüssel zu diesen.

Schopenhauer wurde, wie wir gesehen, fast noch Kind, bereits ein kleiner Rentier; bereits als er selbständig denken lernte, gehörte er also jenem Bestandteil des Kleinbürgertums an, in dem Argwohn, Feigheit und Angst vor jeder Veränderung in Staat und Gesellschaft am schärfsten ausgeprägt sind, und vielleicht nirgends mehr als in Deutschland, dessen Bürgertum überhaupt unter höchst ungünstigen Umständen sich entwickelte. Infolge einer Reihe ökonomischer Umwälzungen, namentlich der Veränderung der Handelswege im 15. und 16. Jahrhundert, wurde die soziale und politische Entwicklung Deutschlands gehemmt, gerade zu der Zeit, in der die kapitalistische Produktionsweise im aufsteigenden Ast ihrer Entwicklung war. Während die Bourgeoisie in Frankreich und England großartig sich entfaltete und einen Sieg nach dem andern errang, verkam Deutschland in Kleinstaaterei und Kleinkrämerei. Während die Bürger von Paris und London sich auf gleiche Stufe stellten mit ihren mächtigen Souveränen, erstarben die Bürger der verschiedenen deutschen Residenzen und Residenzchen in untertänigster Demut, und wenn hie und da eine lebhafte Bewegung sich zeigte, so war sie sicher veranlaßt durch irgendeine magistratliche Verordnung, Straßenpflasterung oder Hundehaltung und dergleichen betreffend, oder durch eine neue Schauspielerin oder ein neues Theaterstück.

Erst als Schopenhauers Entwicklung beendet war, und das war sehr frühzeitig der Fall, begannen in Deutschland selbständige politische Bewegungen von größeren Volkskreisen getragen zu werden. Aber das deutsche Bürgertum hat die Charaktermerkmale der Zeit seiner kläglichen Jugend auch später nicht ganz abstreifen können. Um so greller sticht davon ab das deutsche Proletariat, dessen Anfänge in die Zeit des ökonomischen und politischen Wiederauflebens Deutschlands fallen und das in jeder Beziehung die Wiedergeburt der deutschen Nation repräsentiert. Alle anderen Klassen Deutschlands sind durch dessen kleinliche Verhältnisse im 17. und 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Charaktereigenschaften des Kleinbürgertums mehr oder weniger behaftet worden.

Während dieses unter günstigen Umständen in England und Frankreich, namentlich in Paris, gehoben durch seine großartige Umgebung, zu hervorragender historischer Bedeutung gelangen konnte, zog es in Deutschland die anderen Klassen, den Adel, das Großbürgertum, so viel davon vorhanden war, und die bürgerlichen Ideologen, zu sich hinab in den Sumpf des Philisteriums.

Wir kennen keinen Deutschen, der in den zwei letzten Jahrhunderten vor dem Aufkommen der proletarischen Bewegung in seinem Vaterlande geblieben wäre, ohne Spuren dieses Einflusses aufzuweisen. Selbst der große Goethe konnte den Philister nie völlig verleugnen. Streifte er doch in seiner Haltung der großen Französischen Revolution gegenüber hart an Kotzebue.

Aber wenn der deutsche Ideologe auch in seinem Fühlen und Wollen mehr oder weniger Philister blieb und bleiben mußte, so konnte er sich doch intellektuell hoch darüber erheben durch die Literatur und Kunst der Vergangenheit und des Auslands, durch Produkte von Verhältnissen, die gerade das Gegenteil von Philisterhaftigkeit erweckten. Die Griechen und Römer neben den Engländern und Franzosen waren die Stufen, auf denen unsere großen Denker von Lessing bis Goethe sich über die Beschränktheit der Verhältnisse erhoben, in denen sie lebten. Die Revolution der Dinge, die im westlichen Europa vor sich ging, spiegelte sich in ihren Köpfen wider und wurde zur Revolution der Ideen. Die theoretische Revolution Englands und Frankreichs war das Ergebnis des stets wachsenden Bedürfnisses des Bürgertums nach einer ökonomischen und politischen Revolution; die neueren Theorien waren wesentlich materialistisch, sie wurden von den bürgerlichen Massen mit Enthusiasmus begrüßt. Die theoretische Revolution Deutschlands war das Produkt importierter Ideen, die vorläufig noch wenig Stütze in den tatsächlichen Verhältnissen fanden; nicht Politik, Religion, Ökonomie, sondern fast ausschließlich Kunst und Philosophie waren die Gebiete, auf denen sie umwälzend wirkte, der philosophische Idealismus ihr naturgemäßer Standpunkt. Die Massen des Bürgertums sahen dieser Umwälzung stumpfsinnig zu; der Philister begriff sie nicht und hatte kein Interesse für sie.

Kein Wunder, daß fast jeder unserer hervorragenden Denker und Dichter im vorigen Jahrhundert zeitweise von Pessimismus befallen ward und über die Dummheit oder Undankbarkeit der Menge klagte, über die Einsamkeit des Genies in dieser schnöden Welt usw. Dergleichen Anwandlungen von Weltschmerz waren jedoch in der Regel von keiner allzu langen Dauer. Der Enthusiasmus und die Hoffnungsfreudigkeit des revolutionären Bürgertums jenseits des Rheins mußte auf die deutschen Ideologen zurückwirken, in deren Köpfen dessen Bewegungen sich reflektierten; die Teilnahmslosigkeit des Philisters bewirkte bloß, daß die Ideologen sich enger zusammenschlossen zu einer Art Gelehrtenrepublik und die Fühlung mit der Masse aufgaben.

Anders war dies bei Schopenhauer. Als kleinen Rentner fesselten ihn seine persönlichen Interessen enger an das Philistertum, als bei einem deutschen Ideologen gewöhnlich der Fall. Überdies fiel aber die kurze Zeit seiner philosophischen Entwicklung in das zweite Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, in die Zeit der Reaktion gegen die Französische Revolution. Die revolutionäre Begeisterung und Zuversicht war in Frankreich erloschen oder zurückgedrängt, und damit wurde auch ihr Spiegelbild in Deutschland vorübergehend verwischt. Bald freilich sollte die bürgerliche Bewegung in Deutschland von neuem aufleben, und diesmal bereits mit etwas realerem Boden unter den Füßen, sie sollte nicht mehr bloß in der Philosophie sich äußern, sondern auch auf einem Gebiet des öffentlichen Lebens, das freilich der Philosophie, die Brücke zwischen ihr und der Politik bildend, noch sehr nahe verwandt war, auf dem Gebiet der Religion, bis sie schließlich auch politisch wurde. Aber das war zu einer Zeit, wo Schopenhauers Entwicklung bereits abgeschlossen war.

Intellektuell über dem Philister stehend, den er verachtete, fühlte er sich doch an ihn gefesselt, um so weniger fähig, ihm zu entfliehen, als er nie gelernt hatte, auf eigenen Füßen zu stehen, durch eigne Arbeit sein Brot zu verdienen. Sein Experiment mit der Berliner Privatdozentur wirkte nicht gerade ermunternd. So fehlten ihm das Selbstvertrauen und die Energie, sich von dem Kreise loszumachen, in den ihn das Schicksal geworfen hatte. Wohin auch? Sein grenzenloser Hochmut duldete nicht den Anschluß an ihm intellektuell Gleichgestellte: der Gedanke, sich an einem Höheren zu messen, wäre ihm wie ein Frevel an sich selbst erschienen. Nur der Verkehr mit geistig Niedrigerstehenden gewährte seiner Eitelkeit Befriedigung; die Gesellschaft des Philisters war ihm um so mehr Bedürfnis, je mehr ihn die wissenschaftliche Welt ignorierte. So wurde er immer mehr und mehr in die Gesellschaft gedrängt, auf die er verächtlich herabsah; und daß sein Charakter dem ihren so sehr entsprach, daß er selbst alle Eigentümlichkeiten des Philisters so sehr entwickelt hatte, das vermehrte nur seine Fähigkeit, seine Umgebung in ihrer Kleinlichkeit und Beschränktheit, ihrer Gemeinheit und Feigheit, ihrer Schelsucht und ihrem Neid völlig zu durchschauen, ohne daß sie dadurch, auch nicht in seinen Augen, gewann.

Schopenhauers persönlicher Charakter, seine eigentümliche Stellung, der Widerspruch zwischen der Fesselung an das Philistertum und dem geistigen Bedürfnis, es zu überragen, zusammengenommen mit der historischen Situation, dem Katzenjammer, der die Heilige Allianz gebar, erscheinen uns als die Wurzeln seiner Weltanschauung, seines Weltschmerzes, seiner Resignation, seiner Verdammung alles Strebens, seiner philisterhaften Schrullen, die wir noch berühren werden.

Daß er aber seine Menschenverachtung nicht für sich behielt, sondern ihr offen Ausdruck gab, das verdankte er einer Eigenschaft, die ihn vom Philister trennte. Ein Heuchler ist, soweit wir sehen, Schopenhauer nie gewesen. Im Gegenteil, sein Hochmut wie sein Argwohn erzeugten in ihm ein wahres Bedürfnis nach Rücksichtslosigkeit und Flegelhaftigkeit, ein Bedürfnis, einen jeden ohne weiteres, wenn es ihm paßte, einen Lumpen oder Esel zu nennen. Er hat mit wahrer Wollust nach jeder niedrigen Seite des Philistercharakters gespürt, um sie bloßzulegen: und er fand sich in diesem Charakter mit bewunderungswürdiger Sicherheit und Leichtigkeit zurecht.

Schopenhauer war nicht allein in seiner eigentümlichen Situation, die ihn in das Philisterium einkeilte und doch dazu trieb, sich über dasselbe geistig zu erheben. Eine große Zahl von Deutschen befand und befindet sich in ähnlicher Position; für deren Mehrzahl, namentlich der jüngeren Generation, ist Schopenhauers Lehre das Evangelium geworden, für alle jene verkannten Genies, für jene Überproduktion an Intelligenz, die die moderne Produktionsweise erzeugt, alle jene Unglücklichen, die verurteilt sind, in einem Kreis philisterhafter Verwandter, Freunde, Arbeitsgenossen oder „Brotgeber“ leben und von diesen abhängig sein zu müssen, indes sie fühlen, zu etwas Besserem geboren zu sein, ohne die Kraft oder die Möglichkeit zu haben, den Kreis des Philisteriums zu durchbrechen, und ohne jene Zuversicht und jene Teilnahme an den proletarischen Klassenkämpfen, die ihnen den Weltschmerz, das heißt, den Schmerz um ihr alleiniges Ich, gründlich austreiben würde. In ähnlicher oder vielleicht noch schlimmerer Lage als diese geistigen Proletarier und vielfach zu ihnen gehörig sind diejenigen Frauen des Bürgertums, die die moderne Entwicklung immer mehr in eine Richtung zwingt und treibt, die vom Althergebrachten abweicht und die daher dem Philisterium ein Greuel ist.

Verkannte Genies und unverstandene Frauen, Elemente, die sich in der heutigen Gesellschaft unbehaglich fühlen, die aber entweder zu schwach oder zu beschränkt oder zu feige sind, auf eine Änderung dieses gesellschaftlichen Zustandes hinzuarbeiten, die das Bestehende als unabänderlich hinnehmen und die ganz und gar nur von ungeheurem Mitleid für ihr so kostbares Ich erfüllt sind, sie alle finden Trost und Beruhigung in Schopenhauers Lehren, die ihnen erlauben, ihre Umgebung zu verachten und sich doch mit ihr abzufinden. Sie sind es, aus denen die Wärmsten seiner Verehrer sich rekrutieren, sie finden in ihm ihren Erlöser. Ja, mit seiner Resignation hat er sie wahrlich erlöst, erlöst von der Pflicht, ihren Mann zu stehen in dem Kampfe, der auch sie angeht, erlöst von der Pflicht, für die Unterdrückten einzutreten. Das Leiden dieser Welt ist ja ewig, und das Genie und der Heilige können nichts tun als darüber weinen und ruhig ihre Rente verzehren – wenn sie eine haben.

Schopenhauer beginnt die Darstellung seiner Lehre in seinem Hauptwerke mit den Worten: „Die Welt ist meine Vorstellung“, und fügt weiter unten hinzu: „Die Welt ist mein Wille“. Die Welt ist meine Vorstellung, d. h., was mir als die Außenwelt erscheint, das sind in Wirklichkeit nur Vorstellungen in meinem Kopfe. Raum, Zeit und Kausalität – die Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung – sind nur Formen meines Erkennens der Welt, sie kommen nicht den Dingen an sich zu. Diese selbst können auf dem Wege der objektiven Erkenntnis, der Vorstellung, nicht erkannt werden. Das hatte schon Kant gelehrt und daraus geschlossen, daß das Ding an sich unerkennbar sei.

Schopenhauer würde dem zustimmen, wenn es keinen andern Weg der Erkenntnis als den der Anschauung der Außenwelt gäbe. Aber der Mensch gehört ja auch zu dieser Welt, er ist selbst das Ding an sich; ich kann demnach zur Erkenntnis des Dings an sich gelangen, wenn ich zum Bewußtsein meiner selbst komme. Damit löse ich das Rätsel nicht nur meiner selbst, sondern das der ganzen Welt. „Wir müssen die Natur verstehen lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur. Das uns unmittelbar Bekannte muß uns die Auslegung zu dem nur mittelbar Bekannten geben, nicht umgekehrt“ (Welt als Wille II, Seite 219). Was ist aber dies uns unmittelbar Bekannte? Es ist unser Wille.

„In der Tat ist unser Wollen die einzige Gelegenheit, die wir haben, irgendeinen sich äußerlich darstellenden Vorgang zugleich aus seinem Innern zu verstehen, mithin das einzige uns unmittelbar Bekannte und nicht, wie alles übrige, bloß in der Vorstellung Gegebene. Hier also liegt das Datum, welches allein tauglich ist, der Schlüssel zu allem andern zu werden, oder, wie ich gesagt habe, die einzige enge Pforte zur Wahrheit“ (a. a. O.).

„Wem nun ... auch in abstracto, mithin deutlich und sicher, die Erkenntnis geworden ist, welche in concreto jeder unmittelbar, das heißt, als Gefühl besitzt, daß nämlich das Wesen an sich seiner eigenen Erscheinung ... sein Wille ist..., dem wird sie, ganz von selbst, der Schlüssel werden zur Erkenntnis des innersten Wesens der gesamten Natur, indem er sie nun auch auf alle jene Erscheinungen überträgt, die ihm nicht, wie seine eigene, in unmittelbarer Erkenntnis neben der mittelbaren, sondern bloß in letzterer, also bloß einseitig, als Vorstellung allein, gegeben sind.“

Der Wille

„ist das Innerste, der Kern jedes einzelnen und ebenso des Ganzen: er erscheint in jeder blindwirkenden Naturkraft: er erscheint auch im überlegten Handeln des Menschen; welcher beiden große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens, nicht das Wesen des Erscheinenden trifft“. Man sollte meinen, was Schopenhauer Wille nennt, sei dasselbe, was man Kraft nenne, ein Wort durch ein anderes ersetzt. Schopenhauer dagegen sagt uns, daß seine Neuerung von höchster Bedeutung sei. Denn der Begriff Kraft wurde aus der Welt der Erscheinungen geschöpft. „Hingegen der Begriff Wille ist der einzige, unter allen möglichen, welcher seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer anschaulicher Vorstellung hat, sondern aus dem Innern kommt ... Führen wir daher den Begriff der Kraft auf den des Willens zurück, so haben wir in der Tat ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja, auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntnis um ein sehr Großes erweitert. Subsumieren wir hingegen, wie bisher geschah, den Begriff Wille unter den der Kraft, so begeben wir uns der einzigen unmittelbaren Erkenntnis, die wir vom inneren Wesen der Welt haben, indem wir sie untergehen lassen in einem aus der Erscheinung abstrahierten Begriff, mit welchem wir daher nie über die Erscheinung hinauskommen“ (W. a. W. I, Seiten 130 bis 133).

Wir müssen gestehen, daß uns der Begriff Wille im Schopenhauerschen Sinne keineswegs so unendlich viel bekannter erscheint als der Begriff Kraft. Wir sind wenigstens noch nicht jener inneren Erleuchtung zuteil geworden, die uns den „Willen“ als etwas „ganz und gar Bekanntes“ gezeigt hätte. Unseres Erachtens ist der Begriff „Wille“, wie die anderen Begriffe, ebenfalls aus „der Welt der Erscheinungen“ geschöpft, eine Abstraktion aus den verschiedenen Willensakten, die in das Gebiet der „Welt als Vorstellung“ fallen. Weder unser Gefühl noch eine innere Stimme hat uns je etwas von einem Willen gesagt, der keine Beziehung auf ein Objekt hat. Ich kann nicht wollen, ohne etwas zu wollen. Der „Wille an sich“ ohne ein wollendes Subjekt und ein gewolltes Objekt ist ein Wort, sonst nichts, und wenn ich dasselbe an die Stelle des Wortes Kraft setze, wird mein Verständnis der Welt dadurch um kein Jota erweitert. Wohl aber führt dieses Wort, wegen seiner ungewissen, unwillkürlich immer wieder mit den Begriffen einer wollenden Persönlichkeit und eines gewollten Ziels verknüpften Bedeutung, namentlich in der Verbindung mit der Kantschen Lehre, daß Raum, Zeit und Kausalität bloße Denkformen seien, dahin, daß Schopenhauer den lieben Herrgott als göttlichen, allmächtigen Willen mit seinem Gefolge von Teleologie und Mystizismus durch ein Hintertürchen ganz sachte wieder in sein System hineinschmuggelt, nachdem er ihn mit großem Geräusch aus dessen vorderem Tor hinausgeworfen.

Doch hören wir Schopenhauer weiter. Was tut der Wille? Er objektiviert sich, d. h. er wird sichtbar, und zwar in verschiedenen Graden. Diese Objektivationen treten aber noch nicht unmittelbar in die Vorstellung ein. Sie bilden bloß die ewigen Urformen der Dinge, die keinem Wechsel unterworfen sind, „immer seiend, nie geworden“, die Ideen im Sinne Platos. Die niedrigsten dieser Ideen sind die allgemeinsten nach Naturgesetzen sich offenbarenden Kräfte, höher stehen die Arten der Pflanzen, dann die der Tiere, am höchsten die Idee des Menschen. Diese Ideen unterliegen ebensowenig wie der Wille den Bestimmungen von Raum, Zeit und Kausalität. Aber sie wollen in Erscheinung treten, und das geschieht dadurch, daß sie sich in bestimmten Individuen ausdrücken. In der Welt als Vorstellung können dieses aber nicht alle zugleich und nebeneinander den Raum und die Zeit einnehmen. Die verschiedenen Ideen oder Objektivationen des Willens fangen daher an, sich um die Materie, um Raum und Zeit zu raufen, da jede in so viel Individuen als nur möglich in Erscheinung treten will. Daher ein ewiger Kampf unter den verschiedenen Stufen der Objektivation des Willens.

Damit gelangen wir endlich aus dem Reich der Ideen in das Reich dieser Welt, und hier betreten wir das Gebiet, auf dem die Philosophie Schopenhauers populär geworden ist. Seine Metaphysik wird von der großen Mehrzahl seiner Anhänger nicht begriffen, kaum gekannt. Von den wenigen unter ihnen, die näher an sie herangetreten sind, hat fast keiner sie vollständig angenommen. Seine Plato entlehnte Lehre von den Ideen haben die meisten über Bord geworfen. Prüfen kann man diese Lehre nicht. Sie bewegt sich nicht auf dem Gebiet des Wissens, sondern dem des Glaubens. Die Platonischen Ideen im Sinne Schopenhauers sind ja selbst von seinem eigenen Standpunkt aus undenkbar und grundlos, sie liegen außerhalb der Bestimmungen von Raum, Zeit und Kausalität, also außerhalb unserer Erkenntnis. Angesichts der Sicherheit, mit der Schopenhauer sich außerhalb der Welt „als Vorstellung“ zurechtgefunden, dürfen wir wohl darauf gespannt sein, was er uns alles in dieser selbst zeigen wird.

Wir haben gesehen, wie er in der Welt einen ewigen Kampf ihrer Elemente konstatiert hat. „Ewiges Werden, endloser Fluß, gehört zur Offenbarung des Wesens des Willens“, sagt er einmal. Dieser Satz klingt etwas hegelianisch. Und doch ist Schopenhauer der gerade Antipode Hegels. Der Kampf der Gegensätze in der Welt bedingt nach Hegel die Entwicklung der Welt, die Überwindung eines Gegensatzes; die „Negation der Negation“ bedeutet nicht einfach Wiederherstellung des früheren Zustandes, worauf das alte Spiel von vorn beginnt, sondern Wiederkehr zum Ausgangspunkt auf höherer Grundlage. Das Endresultat des Kampfes ist eine Vervollkommnung.

Ganz anders Schopenhauer. Der ewige Kampf, den er sieht, ist resultatlos. Keine Entwicklung ist seine Folge, denn die Ideen, die Urbilder, sind unvergänglich und keinem Wechsel unterworfen, da sie ja den Bestimmungen der Zeit nicht unterliegen. Der Begriff eines Prozesses, einer Entwicklung, war der Theorie wie dem Charakter Schopenhauers gleich fremd.

„Wir sind der Meinung“, sagt er, „daß jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntnis der Welt entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es noch so fein bemäntelt, historisch fassen zu können: welches aber der Fall ist, sobald in seiner Ansicht des Wesens an sich der Welt irgendein Werden oder Gewordensein oder Werdenwerden sich vorfindet, irgendein Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat.“

Das „ganze Gefasel“ dieses

„historischen Philosophierens“ fertige man „am kürzesten durch die Bemerkung ab, daß die ganze Ewigkeit, d. h. eine unendliche Zeit, bis zum jetzigen Augenblick bereits abgelaufen ist, weshalb alles, was da werden kann und soll, schon geworden sein muß.“ (W. a. W. I, Seite 322)

Da Schopenhauer auch nie zu einem Verständnis des Menschen als gesellschaftlichen Wesens, nie zu einem Verständnis der Gesellschaft gelangte, so natürlich noch weniger zu einem Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung, also der Geschichte.

„Während die Geschichte uns lehrt“, sagt er, „daß zu jeder Zeit etwas anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz dasselbe war, ist und sein wird ... Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grund nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich wesentliche Inhalt ist überall wesentlich derselbe.“ (W. a. W. II, Seite 504, 505)

Wir sehen, sobald unser Philosoph aus den Wolken auf die Erde herabsteigt, da guckt auch schon der Philister aus ihm heraus, der an allen Orten und zu allen Zeiten sich selbst wiederzufinden glaubt. Dieser historische Standpunkt empfiehlt sich dem Philister nicht bloß seiner Plattheit, sondern auch seiner Bequemlichkeit wegen. Der Ruf: „es ist immer so gewesen und wird immer so sein, wie es heute war“, zum Beispiel: „es hat immer Arme gegeben und wird immer Arme geben usw.“, ist das Lieblingsmotto des Philisters, seine beste Entschuldigung für seine Trägheit und Feigheit, so oft ihm nahegelegt wird, sich an irgendeinem Kampfe für ein gemeinsames Ziel zu beteiligen.

Hegel war der Philosoph der Entwicklung, der Revolution, so konservativ er sich auch mitunter gebärdete. Schopenhauer, der Leugner der Entwicklung, ist ein Theoretiker des Konservatismus, des verknöcherten Chinesentums, so laut er auch mitunter gegen bestehende Institutionen poltert, namentlich solche, die ihn nicht genügend anerkannt hatten, wie wissenschaftliche Akademien, Universitäten usw. Dieser Eindruck wird nicht verwischt, sondern verstärkt sich, je tiefer wir in die Konsequenzen eindringen, die Schopenhauer aus seiner Leugnung jeder Entwicklung gezogen.

Das Streben in der belebten und unbelebten Natur ist endlos, sagt Schopenhauer; alles Streben aber

„entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens.“ „Fehlt es ihm (dem Menschen) hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt, so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile ... Die Langeweile ist aber nichts weniger als ein gering zu achtendes Übel: sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht. Sie macht, daß Wesen, welche einander so wenig lieben wie die Menschen, doch so sehr einander suchen, und wird dadurch die Quelle der Geselligkeit.“ (W. a. W. I, Seiten 364 bis 369)

Die Geselligkeit nicht ein Erzeugnis der Produktionsweise, die zu gesellschaftlicher Arbeit zwingt, sondern des Nichtstuns, der Langenweile! Diese Entdeckung konnte nur ein Rentier machen! Und daß Muße und Sorglosigkeit naturnotwendig Langeweile gebären müssen, zu dieser Anschauung konnte nur ein Philosoph gelangen, dem der deutsche Philister der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts der Normalmensch, mehr sogar, dem er der Typus der ganzen Welt war.

Und ebenso steht es mit der Behauptung, jedes Streben, jeder Kampf sei ein Leiden, das heißt, das Aktivum sei ein Passivum. Wenn Schopenhauer sich räumlich und zeitlich ein wenig außerhalb der Kreise der Dresdner, Berliner, Frankfurter und anderer Spießbürger umgesehen hätte, er wäre bereits in bezug auf die Menschheit, ganz abgesehen von der gesamten organischen und anorganischen (!) Natur, zu einem anderen Resultat gekommen. Den alten Deutschen zum Beispiel war der Kampf, das Streben keine Qual, sondern eine Lust; jubelnd zogen sie aus zur Jagd, jubelnd in die Schlacht. Und Ruhe und Sorglosigkeit waren ihnen nicht Erzeugerinnen Langerweile, sondern Förderinnen der Künste, zum mindesten des Heldenlieds.

Und Schopenhauer brauchte nicht so weit zurückzugehen. Betrachteten die Bürger Frankreichs und Englands seit dem 16. Jahrhundert die Zurückdrängung und schließliche Zertrümmerung der ihnen auferlegten Schranken als eine Qual? Mitnichten! Der kühne Drang, der ihnen die Welt erweiterte, der ihnen neue Reiche, neue Weltteile eröffnete, der Adel und Kirche zuerst als selbständige Mächte niederwarf, um sie schließlich auch als Diener des Königtums mit diesem zur Unbedeutendheit herabzudrücken, dieser Sturm und Drang äußerte sich nicht in Wehklagen und Seufzern, sondern in übermütiger und beißender Satire, von Rabelais (ja wenn man will, von Boccaccio) bis zu Voltaire und den Enzyklopädisten, in kampfesfrohen Ausfällen, in freudigem Enthusiasmus.

Aber freilich, das elende Philistertum, das damals die Verhältnisse in Deutschland erstehen ließen, schrak vor jeder Opposition, jedem Kampf zurück. Ruhe war die erste Bürgerpflicht, Teilnahme am Gemeinwesen ein Verbrechen; man zog sich auf sich selbst zurück, plagte sich in der Woche sechs Tage lang in der Werkstatt oder dem Kontor, um am siebenten, von tödlicher Langeweile getrieben, aus der Familiensimpelei in die Kneipe zu entfliehen und dort in der „Geselligkeit“ die Zeit totzuschlagen. Schopenhauer hat das trefflich gezeichnet, aber er soll uns doch nicht einreden, daß das die Welt sei!

Doch verfolgen wir seinen Gedankengang weiter. Die Welt ist eine Hölle, die Menschen sind Teufel, das Leben eine fortgesetzte Qual. Und kein Ausweg aus diesem Jammertal, keine Aussicht auf ein Ende der Leiden! Doch nein, so schlimm ist’s nicht. Ein Ausweg ist uns noch geblieben.

Von einer gewissen Stufe der „Objektität des Willens“ an bedürfen die Individuen, die sie darstellen, zu ihrer Erhaltung eines Hilfsmittels, das den tiefer stehenden Individuen entbehrlich ist, der Erkenntnis. Daher erzeugt der Wille in ihnen das Erkenntnisvermögen, den Intellekt, den Verstand in den Tieren, im Menschen die Vernunft. Der Wille ist nicht ein Produkt des Gehirns. Umgekehrt. Das Gehirn ist ein Produkt des Willens. (W. a. W. II, Seite 224)

„Der Wille, der bis hieher im Dunkeln höchst sicher und unfehlbar seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet, als ein Mittel, welches notwendig wurde zur Aufhebung des Nachteils, der aus dem Gedränge und der komplizierten Beschaffenheit seiner Erscheinungen eben den Vollendetsten erwachsen würde“ (W. a. W. I, Seite 179).

Der Wille hat, indem er in seiner Blindheit seinem Trieb, d. h. seinem Willen folgte und sich ein Licht anzündete, dadurch ahnungslos eine große Gefahr für sich heraufbeschworen. Allerdings, bei den Tieren und bei der Mehrzahl der Menschen ist dieses Licht so schwach, daß es ihnen gerade nur dazu dient, ihren Weg zu erkennen. Aber auf der höchsten Stufe der Objektivation des Willens leuchtet es so stark, daß es den Willen selbst beleuchtet und in seiner ganzen Häßlichkeit erkennen läßt.

Der Wille hat den Tieren und Menschen bloß ein Licht aufgesteckt, damit sie ihn bejahen; sie sollen ihren Verstand dazu brauchen, sich ihr Leben so angenehm wie möglich einzurichten. Aber in besonders begnadeten Menschen wird das Licht so hell, daß sie das Trügerische der Bejahung des Willens zum Leben erkennen. Das Licht, das der Wille anzündete, daß es ihm diene, wird jetzt rebellisch und unterjocht sich den Willen. Die begnadeten Menschen verneinen den Willen zum Leben, verneinen so die Welt und erlösen sie dadurch.

Was unser Leben unglücklich macht, sind unsere Begierden. Es ist ein Wahn zu glauben, durch deren Befriedigung glücklich zu werden. Glücklich ist nur der, der diesen Wahn erkannt hat und demgemäß jedes Verlangen nach den Freuden und Gütern dieser Welt in sich ertötet.

„Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustand der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit... Freiwillige, vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben... Die Natur, immer wahr und naiv, sagt aus, daß, wenn diese Maxime allgemein würde, das Menschengeschlecht ausstürbe“,

was allerdings ebenso wahr als naiv ist.

„Mit der höchsten Willenserscheinung“, dem Menschen, dürfte aber auch, infolge eines mystischen Zusammenhanges, „der schwächere Widerschein derselben, die Tierheit wegfallen, wie mit dem vollen Lichte auch die Halbschatten verschwinden. Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntnis schwände dann auch von selbst die übrige Welt in nichts“, da ja die Welt als Vorstellung ohne ein vorstellendes Objekt nicht existieren kann. So hat die „übrige Natur ihre Erlösung vom Menschen zu erwarten, welcher Priester und Opfer zugleich ist.“ (W. a. W. I, Seiten 448 bis 450)

Wir fürchten nur, daß die ganze Erlösungsarbeit nichts nützen wird, da ja das „Ding an sich“, der Wille, übrigbleibt und imstande ist, sich in seinem blinden Triebe noch einmal ein Licht anzustecken, um die ganze Geschichte wieder von vorn anzufangen.

Schälen wir den wesentlichen Kern aus dieser neuen Heilslehre heraus, dann finden wir, daß diese nichts anderes ist als eine Wiederaufwärmung des asketischen Christentums oder, da dieses seiner jüdischen Elemente wegen dem Antisemiten Schopenhauer nicht in allen Teilen behagte, des Buddhismus, der Religion des Chinesentums.

Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch zwischen der neuen und den alten Entsagungsreligionen, und in diesem Unterschied tritt meines Erachtens der philiströse Ursprung der Schopenhauerschen Lehre, die man in dem jetzt behandelten Teil wohl Religion [12] nennen kann, am deutlichsten zutage. In den Völkern und Klassen, denen das Christentum und der Buddhismus entsprangen, lebte noch ein Nachhall des urwüchsigen Heroismus fort. Sein ursprüngliches Objekt freilich, das kommunistische Gemeinwesen, war verlorengegangen. Der Heroismus äußerte sich nur noch im Kampf gegen sich selbst, in der Askese, in der Todessehnsucht. Im modernen Spießbürger dagegen findet sich nicht mehr die leiseste Spur von Heroismus. Er schreckt vor jedem Wagnis, jedem Kampf zurück, sowohl dem zur Befriedigung wie dem zur Unterjochung seiner Begierden. Er verdammt diese, um nichts ihretwegen riskieren zu müssen, aber er verzichtet nicht auf ihre Befriedigung, wo sie ohne Gefahr und Kampf möglich ist. Auch auf dem Gebiete der Moral, wie auf andern, ist der Philister der lebendige Widerspruch. Ein Tugendheld in Worten, ein gemeiner Knopf in der Tat.

Schopenhauer, dessen Philosophie so subjektiv war, der, wie man deutlich verfolgen kann, fast bei jedem Wort, das er schrieb, sich und seine persönlichen Verhältnisse vor Augen hatte, hat diesen Widerspruch in seine Theorie mit hinübergenommen.

Schopenhauer macht nämlich den feinen Unterschied zwischen demjenigen, der die Notwendigkeit der Entsagung erkennt und lehrt, und demjenigen, der sie übt. Der erstere ist der Philosoph oder das Genie, der zweite der Heilige.

„Es ist so wenig nötig, daß der Heilige ein Philosoph, als daß der Philosoph ein Heiliger sei: so wie es nicht nötig ist, daß ein vollkommen schöner Mensch ein großer Bildhauer oder daß ein großer Bildhauer auch selbst ein schöner Mensch sei.“ (W. a. W. I, Seite 453)

Und später (II, Seite 496) meint er, die Askese sei wohl überflüssig, wenn man nur die rechte tugendhafte Gesinnung habe. Die bloße Betrachtung des erbaulichen Lebenswandels der Heiligen genüge für das Genie vollkommen. (W. a. W. I, Seite 486) Es ist denn auch eine eigentümliche Entsagung, welche die Verehrer Schopenhauers an ihrem Meister entdecken. So schreibt Lindner von ihm:

„Die Askese in ihrer Einseitigkeit blieb ihm fremd, nicht aber die Entsagung und Selbstüberwindung, die dazu gehörten, die Werke zu schreiben, die er geschrieben hat.“ [13]

Bücher zu schreiben und zu verkaufen ist jedenfalls die neueste Art von Bußübungen, die Entsagung und Selbstüberwindung in Gedanken die einzige, der die Schopenhauerianer sich hingegeben haben: dieser aber auch mit vollem Eifer. Daneben besteht für das Genie, und die Anhänger Schopenhauers fühlen sich natürlich sämtlich als Genies, die Entsagung bloß im Jammern über die Schlechtigkeit der Welt und in der Erklärung, alle Genüsse seien eitel; aber keineswegs in der Abwendung von den Genüssen, sondern nur in der Abwendung von jeglichem Streben: nicht nur von jedem Streben für das Gemeinwesen, sondern auch von jedem Streben für sich selbst, da es Unannehmlichkeiten und Wagnisse mit sich bringt.

Nehmen wir z. B. Schopenhauers Stellung der Ehe gegenüber. Mitunter forderte er Ehelosigkeit, mitunter aber auch eine Stellung der Frau, die alle aus der Geschlechtsliebe hervorgehenden Kämpfe ein für allemal beseitigte. Bei uns zwingt die Selbständigkeit der Frau, so gering sie auch ist, den Mann, um sie zu werben und ihr auch nach Eingehung der Ehe gewisse Rücksichten zu schenken. Alle diese dem Genie so lästigen Beunruhigungen hören auf, wenn die Frau zu einer Ware wird wie in den Harems der Türken. Schopenhauer verlangte in der Tat nicht bloß die völlige Versklavung der Frau, sondern auch Polygamie – jedenfalls eine sonderbare Ergänzung der steten Keuschheit, die er vom Heiligen forderte.

Neben der Keuschheit verlangte er von diesem auch Armut, Verzicht auf die Güter dieser Welt. Aber Armut zwingt zur Arbeit, hält vom Denken ab. Dem Genie gebührt daher nicht Armut, sondern eine Rente, damit es Muße habe, die Armut gebührend anzupreisen; und da eine Rente ohne Ausbeutung von Proletariern unmöglich ist, ist die erste Vorbedingung der Philosophie der Entsagung die Ausbeutung anderer.

„Ich glaube keineswegs etwas meiner Feder Unwürdiges zu tun“, sagt er einmal, „indem ich hier die Sorge für Erhaltung des erworbenen und des ererbten Vermögens anempfehle ... Seinen höchsten Wert erlangt das angeborene Vermögen, wenn es dem zugefallen ist, der, mit geistigen Kräften höherer Art ausgestattet, Bestrebungen verfolgt, die sich mit dem Erwerb nicht wohl vertragen ... Der Menschheit wird er seine Schuld dadurch hundertfach abtragen, daß er leistet, was kein anderer konnte (!), und etwas hervorbringt, das ihrer Gesamtheit zugute kommt, wohl auch gar ihr zur Ehre gereicht.“ [14]

Man sieht, die zum „allgemeinen Frondienst, dem naturgemäßen Los des Erdensohnes“ verurteilte Masse muß sich noch geschmeichelt fühlen, wenn einmal ein Philosoph sie ausbeutet. Jedenfalls war es sehr edel von Schopenhauer, daß er das Recht auf Ausbeutung nicht bloß für die Philosophen, sondern für alle Führer der „großen Herde des Menschengeschlechts“ in Anspruch nahm, „Richter, Regierer, Heerführer“ usw. „Sogar die Großhändler“, meint er, „sind jener exirnierten Führerklasse beizuzählen, sofern sie die Bedürfnisse des Volkes lange vorhersehen und denselben entgegenkommen.“ [15]

Sehr entgegenkommend von einer Philosophie der Entsagung. Diesem Standpunkt entspricht es auch, daß unser Pessimist, der überall nur unablässige Qual und Elend sah, doch „eine stete Quelle des Genusses“ entdeckte, und zwar „im Dasein des besinnungslos dahinlebenden Proletariers“:

„Weil aller Genuß, seiner Natur nach, negativ ist, d. h. in Befreiung von einer Not oder Pein besteht; so ist die unablässige und schnelle Abwechslung gegenwärtiger Beschwerde mit ihrer Erledigung, welche die Arbeit des Proletariers beständig begleitet und dann verstärkt eintritt beim endlichen Umtausch der Arbeit gegen die Ruhe und die Befriedigung seiner Bedürfnisse, eine stete Quelle des Genusses, von deren Ergiebigkeit die so sehr viel häufigere Heiterkeit auf den Gesichtern der Armen als der Reichen sicheres Zeugnis ablegt.“ [16]

Originell ist diese Weisheit gerade nicht, aber auch nicht seichter als manches andere in der Philosophie, die „die Offenbarung des Geheimnisses bildet, das durch Ewigkeiten verschwiegen gewesen ist“, wie Schopenhauer sich in seiner bekannten bescheidenen Manier einmal ausdrückt.

Nur noch ein Beispiel dafür, wie er es verstand, den Buddhismus den Bedürfnissen des Philisters anzupassen. Die Buddhistische Lehre fordert möglichste Einschränkung der Nahrung, Fasten und Kasteiungen und Enthaltung vom Schlachten der Tiere. Schopenhauer stimmt dem vollkommen bei. In der Tat, der Gipfel der Askese, der Verneinung des Willens zum Leben, ist ihm der freiwillige Hungertod. Und man soll den Schmerz in der Welt nicht vermehren und kein Tier unnötig quälen oder töten. Aber wo bleibt da die Feinschmeckerei?

Die Kasteiung gilt natürlich nur für den Heiligen, nicht für das Genie, und was das Schlachten der Tiere anbelangt, so hat Schopenhauer entdeckt, daß „der Schmerz, den das Tier durch den Tod ... leidet, noch nicht so groß ist wie der, welchen der Mensch durch die bloße Entbehrung des Fleisches ... leiden würde.“ (W. a. W. I, Seite 440)

Indem es Schopenhauer durch dergleichen logische Seiltänzerkunststückchen gelungen, die stete Keuschheit mit der Polygamie, die freiwillige Armut mit der Ausbeutung anderer, Fasten und Kasteien mit der Gourmandise zu vereinigen, hat er den Buddhismus glücklich auf das Niveau des modernen Philisters herabgedrückt und seinen Inhalt auf die vollste Gleichgültigkeit für alle Bestrebungen, welcher Art immer, reduziert auf den Grundsatz: kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen, genieße, was du hast, und verlange nicht, was du nicht hast: eine Lebensregel, bloß für Rentiers anwendbar.

Man wird mir wahrscheinlich einwenden, Schopenhauer habe keineswegs Gleichgültigkeit für die Leiden der Mitgeschöpfe gepredigt. Im Gegenteil. In der Tat lehrt Schopenhauer, daß der Edle sein eigenes Wesen, den Willen, in den andern Geschöpfen wiedererkennt, daß er daher keinen Unterschied zwischen sich und den andern macht. Aus seinem eigenen Leiden erkennt er das ihre, und ungeheures Mitleid erfaßt ihn. Aber dies Mitleid ist im Grunde nur Mitleid mit sich selbst. [17]

Dies Mitleid zwingt nicht zu tätiger Teilnahme an den Bestrebungen unserer Mitmenschen, zur Hebung ihres Loses, es ist ja durch die Überzeugung eingegeben, daß diese Bestrebungen vergeblich sind. Dies Mitleid ist nur eine bequeme Form, den gedachten Bestrebungen die höchste Gleichgültigkeit entgegenzubringen und sich dabei doch noch kolossal selbstlos und edel vorzukommen. Der Philister hat es von jeher geliebt, sich von seinen Verpflichtungen gegen das Gemeinwesen mit einigen Almosenpfennigen loszukaufen.

Und bei Schopenhauer gilt dies unendliche Mitleid weniger der Menschheit als der Tierheit, für die er eine Affenliebe hegt, die einen sehr altjüngferlichen Beigeschmack hat. „Die Menschen sind die Teufel der Erde und die Tiere die geplagten Seelen.“ An diese darf man kaum rühren. Schopenhauer stimmt nicht nur in das Geschrei der Reaktionäre beiderlei Geschlechts gegen die im Interesse der Wissenschaft geübte Vivisektion ein – das Herunterschlucken lebender Austern in einen Philosophenmagen ist ganz etwas anderes –, er sieht nicht nur „die größte Wohltat der Eisenbahnen darin, daß sie Millionen Pferden ihr jammervolles Dasein ersparen“ (was sie, beiläufig gesagt, gar nicht einmal tun), er möchte die Tiere am liebsten kaum angetastet sehen. Ganz anders will er mit den Menschen verfahren. Er empfiehlt die Prügelstrafe – namentlich zur Verhinderung der Tierquälerei und des Peitschenknallens (!) (Parerga, Seite 399, 680) – und die Todesstrafe.

„Zur Sicherung des Lebens der Bürger ist die Todesstrafe schlechterdings notwendig... auch sollte sie den entschiedenen Mordversuch ebenso wie den Mord selbst treffen.“ Auf das Fallenlassen eines Blumentopfes vom Fenster sollte Zuchthausstrafe gesetzt sein! (W. a. W. II, Seiten 686, 697.)

Ich denke, wir haben genug der Beispiele, wie bei Schopenhauer nach echter Philisterart sich weinerliches Mitleid mit der ganzen Natur und Brutalität gegen den einzelnen vereinigten. In der Anwendung wird das Mitleid ebenso zur Brutalität wie die Askese zu Polygamie, Ausbeuterei und Gourmandise, und der Pessimismus entpuppt sich als träge und feige Gleichgültigkeit, die nur einen Wunsch kennt, dem jener Münchener Philister in seiner Weise Ausdruck gab in dem Ausruf: „I will mei Ruh hab’n!“




Tritt der philiströse Ursprung der Schopenhauerschen Lebensweisheit bereits in ihren Grundzügen hervor, so noch mehr bei ihren gelegentlichen Streifzügen auf konkrete Gebiete. Es gibt kaum ein Vorurteil, kaum ein Steckenpferd des deutschen Philisters vor 1848, das in Schopenhauer nicht seinen Verteidiger gefunden hätte.

Daß er politisch reaktionär war, haben wir schon oben gesehen. Der Absolutismus in der schroffsten Form war sein politisches Ideal:

„Weil nämlich die große Mehrzahl der Menschen höchst egoistisch, ungerecht, rücksichtslos, lügenhaft, mitunter sogar boshaft und dabei mit dürftiger Intelligenz ausgestattet ist, so erwächst hieraus die Notwendigkeit einer in einem Menschen (siehe oben die nette Beschreibung der Menschen, K.K.) konzentrierten, selbst über dem Gesetz und dem Recht stehenden, völlig unverantwortlichen Gewalt, vor der sich alles beugt und die betrachtet wird als ein Wesen höherer Art, ein Herrscher von Gottes Gnaden“.

Und an anderer Stelle sagt er vom absoluten Fürsten, er sei „allemal die nützlichste Person im Staat, deren Verdienste durch keine Zivilliste zu teuer vergolten werden, und wäre sie noch so stark“. Zur Begründung des Absolutismus war unserem großen Philosophen keine Behauptung zu gewagt. Er fand „auf der ganzen Erde und zu allen Zeiten die Völker, sie mögen zivilisiert oder wild sein oder auf den Zwischenstufen stehen, allemal monarchisch regiert“. Republiken seien „widernatürlich, künstlich gemacht und aus der Reflexion entsprungen“, unhaltbare Ausnahmen. Die Monarchie ist „der menschlichen Natur gemäß“ das Ergebnis eines „monarchischen Instinkts im Menschen.“ [18]

Wer dergestalt die Geschichte und Naturwissenschaft bereichert, für den ist es natürlich ein Kinderspiel, in jeder Polizeiverordnung einen tiefen metaphysischen Grund zu entdecken. Selbst für das gegen die demokratischen Vollbärte gerichtete Bartverbot trat er ein! [19] In der Tat, der „lange Bart“ ist ein „Geschlechtsabzeichen mitten im Gesicht“, ist ein Beweis, daß man die „tierische Männlichkeit“ der „Humanität“ vorzieht, daß man eher ein Mann als ein Mensch in abstracto sein will. Ein wahres Glück, daß die „Humanität“ unseres Philosophen nicht die Abstraktion von allen „tierischen Geschlechtsunterschieden“ fordert.

Daß er für die strengste Bestrafung des Tabakrauchens im Walde während des Sommers eintrat, für das Verbot des Peitschenknallens in den Städten eine ganze Abhandlung schrieb (Über Lärm und Geräusch) usw. usw., wird nach Gesagtem ebensowenig jemanden wundern wie daß er erklärte: „Wie die Stelle der Tapferkeit unter den Tugenden, so läßt auch die des Geizes unter den Lastern sich in Zweifel ziehen.“ (Parerga II, Seite 221) Dieser Satz und die darauf folgende feurige Apologie des Geizes, der nur matte Argumente entgegengehalten werden, waren dem Spießer aus der Seele gesprochen. Desgleichen sein fanatischer Antisemitismus.

Am wärmsten aber wurde Schopenhauer, wenn von spiritistischen Erscheinungen, Hellsehen, Tischrücken, Geisterklopfen usw. die Rede war. Er nahm nicht nur dergleichen furchtbar ernst, studierte Traumbücher und Berichte von Geistererscheinungen usw., ließ sich von Magnetiseuren und anderen Schwindlern an der Nase herumführen, selbst nachdem sie für unbefangene Menschen schon entlarvt worden waren; er verwertete sogar diese Erscheinungen für sein System. In der Tat, wenn Somnambule abwesende und kommende Ereignisse sehen, was beweist das anderes, als „daß das Ding an sich, also das allein wahrhaft Reale in allen Erscheinungen ... den Unterschied von Nähe und Ferne, von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht kennt.“ (Parerga I, Seite 280) Freilich, wenn Raum, Zeit und Kausalität bloße „Gehirnfunktionen“ sind, dann ist nicht abzusehen, warum man diese Bestimmungen bei einem abnormen Zustand des Gehirns nicht loswerden soll. Nur sonderbar, daß die von den Bestimmungen von Raum und Zeit befreite Welt der Somnambulen der „Welt als Vorstellung“ der ordinären Menschen auf ein Haar gleicht – höchstens sieht sie etwas alberner aus als diese.

Schopenhauer horchte gläubig jedem Blödsinn, der den Spiritisten von den Somnambulen aufgebunden wurde, untersuchte z. B. auf Grund ihrer Aussagen ernsthaft die Frage, ob „die Seh- und Hörkraft ihnen in der Herzgrube sitze“, und dergleichen mehr; jeden Zweifel daran schimpfte er mit seiner uns bereits bekannten Philosophenarroganz nieder:

„Ich habe keinen Beruf, den Skeptizismus der Ignoranz (gegenüber magnetischen Krankengeschichten, Traumgeschichten, Geistererscheinungen usw.) zu bekämpfen, dessen superkluge Gebärden täglich mehr außer Kredit kommen und bald nur noch in England Kurs haben werden. Wer heutzutage die Tatsachen des animalischen Magnetismus und seines Hellsehens bezweifelt, ist nicht ungläubig, sondern unwissend zu nennen.“ (Parerga I, S. 243)

Immer und immer wieder wies er seine Anhänger auf die spiritistischen Erscheinungen als besonders wichtig für seine Lehre hin. Ein Zeichen, wie sie ihm am Herzen lagen. So schrieb er an Lindner am 17. April 1853:

„Wenn es Ihnen ernst damit ist, in Ihren Artikeln auf meine Philosophie zurückzukommen, wie Sie ja vermelden, nun, so ist jetzt eben dazu eine Gelegenheit ohnegleichen; nämlich das Tischerücken, an welchem meine Philosophie einen wahren Triumph erleben wird.“

Nicht die Elektrizität, sondern der Wille zeigt sich hier in seiner magischen Erscheinung tätig. „Im Tischerücken zeigt sich der Wille in seiner ursprünglichen Allmacht.“

Als Frauenstädts Briefe über die Schopenhauersche Philosophie erschienen (1854), erhielt jener von Schopenhauer einen anerkennenden Brief, in welchem Frauenstädt für seine Leistung mit dem Titel eines „Erzevangelisten“ belegt wurde. Eines jedoch vermißte Schopenhauer schmerzlich in dem Buche; es war darin gar nicht vom Tischerücken die Rede:

„Immer hoffte ich, Sie würden noch ein bissei Tischrücken, ist aber nicht. Und dieses Experiment hat doch, in Beziehung auf meine Sache (eine von den Lumpen abgehetzte Redensart zu gebrauchen), eine unberechenbare Tragweite. Ich singe:

Der Wille, der die Welt
Gemacht und sie erhält
Er kann sie auch regieren;
Die Tische geh’n auf Vieren.“ [20]

„Man erinnere sich, daß China und die Tische zu tanzen anfingen, als alle übrige Welt stille zu stehen schien“, sagt Marx einmal. Für Schopenhauer stand in der Tat die Welt stille; er glaubte nur an eine Art des Fortschritts: an das Fortschreiten der Tische.

Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die er besaß, dienten ihm nicht dazu, an den spiritistischen Albernheiten und überhaupt am Mystizismus Kritik zu üben, sondern dazu, diesem ein plausibles, anscheinend modernes Mäntelchen um zuhängen, das freilich mitunter so dürftig ausfiel, daß man der einfachsten naturwissenschaftlichen Kenntnisse bar sei mußte, um die Blöße nicht zu merken. So zum Beispiel beim Nachweis der Möglichkeit der unbefleckten Empfängnis Mariä:

„Selbst physisch läßt sich davon eine wiewohl entfernte Möglichkeit aufzeigen. Gewisse Tiere nämlich (ich glaube, einige Insekten) haben das Eigene, daß die Befruchtung der Mutter auch auf das Junge und selbst auf dessen Junges nachwirkt, so daß dieses Eier legt, ohne selbst befruchtet zu sein. Daß dieses ein einziges Mal beim Menschen eingetreten sei, ist nicht so unwahrscheinlich.“ [21]

Wieviel historische Leichtgläubigkeit und naturwissenschaftliche Konfusion gehört dazu, um über eine solche Frage überhaupt nachzudenken!

Nichtsdestoweniger werden von Schopenhauers Jüngern seine naturwissenschaftlichen Leistungen als besonders bemerkenswert hervorgehoben. So sucht der Erzevangelist Frauenstädt in seiner Einleitung zu Schopenhauers sämtlichen Werken den Grund der raschen Verbreitung der Schopenhauerschen Philosophie in ihrer Zeitgemäßheit, namentlich wegen ihrer Berührungspunkte mit der Naturwissenschaft unserer Zeit (Seite XX). Herrn Frauenstädt ist Schopenhauer ein Vorläufer Darwins, und zwar ein diesem überlegener:

„Schopenhauer dehnt den Kampf ums Dasein weiter aus als Darwin und verfährt überhaupt gründlicher als dieser, indem er den Widerstreit der Erscheinungen des Naturwillens auf allen Stufen nachweist.“

Auch die Bedeutung der geschlechtlichen Zuchtwahl und die Abstammung des Menschen vom Affen habe Schopenhauer vor Darwin erkannt und gelehrt.

Es ist schwer, was man in diesen vom deutschen Publikum gläubig hingenommenen Auseinandersetzungen mehr bewundern soll, die Dreistigkeit oder die Ignoranz. Daß es einen Kampf in der Natur gibt, das herauszufinden bedurfte man keines Schopenhauers, das wußte man schon vor diesem. Dadurch aber, daß er leugnete, daß dieser Kampf eine Entwicklung zur Folge habe, stand er in direktem Gegensatz zu Darwin. Seine Lehre von den Platonischen Ideen läuft auf die Behauptung von der Unveränderlichkeit der Arten hinaus, gerade diejenige, die Darwin am entschiedensten bekämpfte. Ebensowenig wie die Rolle des „Kampfes ums Dasein“ hat Schopenhauer die der geschlechtlichen Auswahl jemals begriffen. Diese selbst war aber längst bekannt, zum Teil auch ihre Gesetze, und das, was Schopenhauer diesbezüglich hinzufügte, reduzierte sich im wesentlichen auf die Behauptung, sie sei nur dem Menschengeschlecht eigen, was weder darwinistisch noch richtig ist.

Daß niedere Organismen auf der Erde früher auftraten als höhere, war auch keine Entdeckung Schopenhauers. Alle Welt suchte zu seiner Zeit nach einer Erklärung dieser Erscheinung, entweder durch Annahme aufeinanderfolgender Schöpfungsakte oder durch die einer Entwicklung; der hervorragendste Forscher auf Seiten der letzteren war Lamarck, der Vorgänger Darwins. Schopenhauer kannte die Lamarckschen Theorien, wollte aber nichts von ihnen wissen. Er hatte seine eigene scharfsinnige Hypothese – nein, nicht doch; Schopenhauer lehrte nicht Hypothesen, sondern Wahrheiten. So teilt er uns auch mit großer Bestimmtheit mit, wie die höheren Organismen aus niederen hervorgegangen:

„Aus dem Ei irgendeines besonders begünstigten Paares ging einmal, zur glücklichen Stunde, beim rechten Stande der Planeten (!) und dem Zusammentreffen aller günstigen atmosphärischen, tellurischen und astralischen Einflüsse, ausnahmsweise nicht mehr seinesgleichen, sondern die ihm zunächst verwandte, jedoch eine Stufe höher stehende Gestalt hervor.“ Aus dem Ei eines Fisches entstand „eine Cetacee, etwa ein Delphin, später wieder hat eine Cetacee eine Phoka (Seehund) geboren und endlich einmal eine Phoka das Walroß; und vielleicht ist aus dem Ei der Ente das Schnabeltier und aus dem eines Straußen irgendein größeres Säugetier entstanden“. Dieser Vorgang muß „in sogleich bestimmten, deutlichen Stufen, deren jede eine feste bleibende Spezies gab, nicht aber in allmählichen verwischten Übergängen“ stattgefunden haben. „Wir wollen es uns nicht verhehlen, daß wir danach den ersten Menschen uns zu denken hätten als in Asien vom Pongo und in Afrika vom Schimpansen geboren, wiewohl nicht als Affen, sondern sogleich als Menschen.“ (Parerga, II, Seiten 163, 164)

Das also soll ein Vorläufer Darwins sein, nur „viel gründlicher“ als Darwin!

Daß die philosophische ideale Ignoranz mit Verachtung auf das „bloß empirische“ Wissen der Naturforscher herabblickt, ist klar. Die „glückliche Stunde“ und der „richtige Planet“ geben uns ganz andere Einblicke in das Walten der Natur als die mühsamen jahrzehntelangen Untersuchungen und Experimente des Naturforschers, denen die „Beschränktheit des Stoffes“ anklebt. Kein Wunder, daß Schopenhauer am 1. März 1860 an Herrn v. Doß in München schrieb:

„Aus Darwins Buch habe ich einen ausführlichen Auszug in der Times gelesen: Danach ist es keineswegs meiner Theorie verwandt, sondern platter Empirismus, der in dieser Sache nicht ausreicht.“ [22]

Allerdings, von einem Straußenei, aus dem „irgend“ ein größeres Säugetier herauskroch, das sich dann für sich allein fortpflanzte, stand nichts in dem „platten“ Buche.

Weit entfernt, seiner Zeit in naturwissenschaftlicher Erkenntnis voran zu sein, stand Schopenhauer vielmehr allen großen Entdeckungen und Hypothesen, die in der Naturwissenschaft zu seiner Zeit gemacht wurden und die heute ihre Grundlage bilden, feindlich gegenüber. Wir haben schon oben darauf hingewiesen. Er stand, wie in jeder andern so auch in naturwissenschaftlicher Beziehung, auf seiten der Alten, nicht der Neuen. Seine Anschauungen von der Natur sind heute veraltet, und es gehört die ganze Ignoranz der modernen philosophierenden Belletristen dazu, in ihnen für unsere Zeit bedeutsame Entdeckungen und die Ursache der Zeitgemäßheit der Schopenhauerschen Philosophie zu sehen.

Und doch ist sie zeitgemäß, wenn auch aus andern Gründen. Sie entspricht genau den Bedürfnissen eines von Tag zu Tag größer werdenden Teils der Bourgeoisie.

Die Mehrzahl derjenigen deutschen Philister, die gewähnt hatten, revolutionäre Energie zu besitzen und deren Entfaltung anstreben zu,müssen, ist seit dem Jahr 1848 und vollends in neuerer Zeit seit dem Anwachsen der Proletarierbewegung zur Erkenntnis der eigenen Jämmerlichkeit gekommen. Der Philister kommt jetzt zu derselben Ansicht, zu welcher Schopenhauer, der seine Pappenheimer kannte, schon vordem gekommen, daß das einzige Glück auf Erden darin bestehe, Ruhe zu haben. Wohl mag er sich mitunter seiner selbst, seiner eigenen Charakterlosigkeit und Feigheit schämen: da tritt Schopenhauer als rettender Genius auf, der ihm philosophisch nachweist, daß seine Schlaffheit und Knechtseligkeit nicht etwas Verächtliches, sondern etwas Großartiges sei, das geduldige Ducken etwas Geniales und Heiliges. Die Schopenhauersche Lehre erweist sich als das beste Mittel, die letzten Anwandlungen von Mannesmut im deutschen Philister zu ersticken, sie ist eines der wirksamsten Förderungsmittel der Reaktion in Deutschland.

Aber nicht bloß in Deutschland allein. Die Bourgeoisie ist allenthalben bei dem absteigenden Ast ihrer Entwicklung angelangt und entfaltet immer mehr und mehr jene Eigenschaften, die vor 1848 noch das deutsche Bürgertum in seiner Mehrheit von der des englischen und französischen unterschieden. Überall in Europa ist die moderne Produktionsweise an dem Punkt angelangt – oder hat ihn schon überschritten, von dem an jede weitere politische und ökonomische Entwicklung nicht mehr die Bourgeoisie fördert, sondern einen Nagel zu ihrem Sarge bedeutet. Sie hat von der Zukunft nichts mehr zu erwarten, sie fürchtet sie, sie will nichts als die Gegenwart genießen und diese soweit als möglich ausdehnen. Sie selbst hat kein Streben mehr, keinen Wunsch, als in ihrer Ruhe nicht gestört zu werden durch das Streben anderer, das heißt der Proletarier. Diese gilt es einzuschläfern, zum Verzicht auf ihre Forderungen zu bewegen, ihnen einzureden, daß die Welt nur erlöst werden könne durch Entsagung.

Ein Teil der Bourgeoisie wendet sich deshalb der Kirche zu und sucht die Wiederweckung des christlichen Sinnes in den Massen zu fördern. Aber ein anderer Teil der Bourgeoisie ist zu „aufgeklärt“ dazu. Die christlichen Lehren stehen denn doch zu sehr im Widerspruch zu den Ergebnissen der Wissenschaft. Da empfiehlt sich denn besser eine Religion nach Art der Schopenhauerschen, die Mystizismus, Entsagung und Knechtseligkeit mit einem modernen Anstrich versieht. Und diese Religion hat vor dem Christentum noch den großen Vorzug voraus, den Unterschied zwischen dem Genie und dem Heiligen aufzustellen. Das Christentum predigt die Entsagung allen; wenn der christliche Prediger sie nicht übt, steht er im Widerspruch zur eigenen Lehre. Nach Schopenhauer ist es kaum möglich, auf dem Wege der Entsagung ein Genie zu werden: man kann seiner Ansicht nach nicht philosophieren ohne Rente. Das Predigen der Entsagung und deren Übung fallen also bei ihm nicht bloß in der Praxis, sondern auch in der Theorie auseinander. Naturgemäß fällt dem Bourgeois die Rolle des Genies zu, mit dessen Privilegien – Vielweiberei, Ausbeutung und Feinschmeckerei – und dessen Pflicht, das Glück der Entsagung auseinanderzusetzen und an deren Betrachtung sich zu erbauen. Der Proletarier hat in der Schopenhauerschen Religion als Heiliger zu fungieren, das heißt, er hat Ehelosigkeit, Armut und Kasteiungen nicht bloß auf sich zu nehmen, sondern sogar freiwillig, mit Stolz zu tragen.

Kein Wunder, daß eine so bequeme Lehre sich rasch verbreitet und neue Anhänger gewinnt, nicht bloß in Deutschland, sondern auch in andern kapitalistischen Ländern. Aber die Ausbreitung ist eine einseitige. Sie ist beschränkt auf die Kreise der herrschenden Klassen. Das Proletariat hat noch keine Konvertiten der neuen Religion geliefert, und es wird auch keine liefern. Wohl arbeitet es eifrig an seiner Erlösung, und es glaubt, daß diese bis zu einem gewissen Grade die Erlösung der Menschheit bedeuten werde, wenigstens soweit sie dem Einfluß des Kapitalismus unterliegt; aber in der Heiligkeit sucht es diese Erlösung nicht, und alle Wiederaufwärmungen des Buddhismus werden ebensowenig wie die Neubelebungen des Christentums daran etwas ändern;



Anmerkungen des Verfassers

1. Schon im Jahre 1880 erschien ein ganzes Buch über die Schopenhauer-Literatur von F. Laban.

2. W. Gwinner, Schopenhauers Leben, Leipzig 1878, S. 129.

3. Welt als Wille und Vorstellung, 5. Auflage, I, S. 161.

4. Parerga und Paralipomena, 2. Auflage, I. S. 20.

5. A. a. O. II, S. 216.

6. Gwinner, S. 229.

7. Gwinner, a. a. O., S. 399 ff.

8. Arthur Schopenhauer. Von ihm. Über ihn. Ein Wort der Verteidigung von E.O. Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlaßstücke von J. Frauenstädt, Berlin, 1863, S. 452.

9. Gwinner, a. a. O., S. 533, 537.

10. Lindner-Frauenstädt: Schopenhauer, S. 484, 491.

11. Vergleiche namentlich seine Vorrede zur 2. Auflage der Welt als Wille usw. und die Abhandlung Über Universitätsphilosophie in den Parerga usw., 2. Auflage, S. 150—215.

12. In der Tat wird Schopenhauer von seinen Verehrern als Stifter einer neuen Religion betrachtet und als solcher angebetet. Schon vor einiger Zeit machte ein Deutscher, der seinen Namen hartnäckig verschweigt, den Vorschlag, Schopenhauer zu seinem 100jährigen Geburtstag ein Denkmal zu errichten, „eine Kolossalbüste, selbstverständlich in unverfälscht indischem Geiste gedacht“. Wir wissen nicht, was der große Unbekannte unter „unverfälscht indischem Geiste“ einer Büste versteht – etwa den schläfrigen Ausdruck der Buddhastatuen? –; sicher ist, daß die Idee nicht realisiert wurde. Der Unbekannte modifizierte nun seinen Vorschlag dahin, daß er die Prägung einer Denkmünze vorschlug (vgl. Denkmünze zum Centennarium Schopenhauers, Leipzig 1886. Das obige Zitat ist aus dieser Broschüre), einer Weltdenkmünze, „welche für Jahrtausende, wohlgemerkt, für Jahrtausende, geprägt werden soll“. Auf der Aversseite soll sein: Rechts der Heiland mit der Dornenkrone, links Buddha, beide auf derselben Wolke thronend, beider Rechte ... an dieselbe Stelle eines großen Kranzes von Lorbeeren greifend ... Im Kranze die Inschrift in Elzevirtypen, ein einziges Wort: Schopenhauer.“ Also eine neue Heilige Dreieinigkeit, in der Schopenhauer wohl die Rolle des Heiligen Geistes zufällt. Von da bis zur wirklichen Anbetung ist nur noch ein Schritt.

13. Lindner-Frauenstädt, Schopenhauer, S. 127.

14. Parerga usw., I, S. 369, 370.

15. Parerga, II, S. 264

16. Parerga, II, S. 631.

17. Und zwar ein recht weinerliches Mitleid. Wer Mitleid mit sich selbst empfindet, der weint. „Wann wir nicht durch eigene, sondern durch fremde Leiden zum Weinen bewegt werden, so geschieht es dadurch, daß wir uns in der Phantasie lebhaft an die Stelle des Leidenden versetzen, oder auch in seinem Schicksal das Los der ganzen Menschheit und folglich vor allem unser eigenes erblicken und also doch durch einen weiten Umweg immer wieder über uns selbst weinen, Mitleid mit uns selbst empfinden.“ (W. a. W. I, S. 446)

18. Parerga, II, S. 264—281.

19. Parerga, I, S. 190.

20. Lindner-Frauenstädt, Schopenhauer, S. 102, 600.

21. Lindner-Frauenstädt, Schopenhauer, S. 460.

22. Frauenstädts Einleitung zu Schopenhauers sämtlichen Werken, I, S. 20.


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012