Antonio Gramsci


Das Problem Mailand

(21. Februar 1924)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.105-107.
Ursprünglich veröffentlicht in Unità , 21.2.1924.
Kopiert mit Dank von der nicht mehr vorhandenen Webseite Marxistische Bibliothek.
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Man muß den Arbeitern Mailands mit großer Genauigkeit und großer Offenheit das Problem ... von Mailand darlegen. Warum ist in Mailand, einer großen Industriestadt mit dem größten Proletariat unter den Industriezentren – allein ein Zehntel der Fabrikarbeiter ganz Italiens –, warum ist in Mailand keine große revolutionäre Organisation entstanden, während die Bewegung immer revolutionär war? Warum hat es in Mailand nie mehr als dreitausend organisierte Mitglieder der Sozialistischen Partei gegeben? Warum herrschten in Mailand, als die Bewegung ihren Gipfel erreichte, in Wirklichkeit die Reformisten? Warum waren in Mailand alle Arbeitervereinigungen, die Gewerkschaft, die Genossenschaften, die Selbsthilfe, in den Händen der Reformisten oder auch der Halbreformisten, als die Massen, vom enthusiastischsten Elan getrieben, auf die Straßen gingen?

Man muß den Massen das Problem deutlich vor Augen führen und sie aufrufen, es mit ihren eigenen Mitteln, mit ihrem eigenen Willen, ihren eigenen Opfern zu lösen. Das Problem ist lebenswichtig, es ist das wichtigste Problem der italienischen Revolution. Ist es möglich, an eine italienische Revolution zu denken, wenn die überwiegende Mehrzahl des Mailänder Proletariats nicht vorher eine klare Vorstellung davon hat, was die proletarische Diktatur ist, welche Opfer und unerhörten Anstrengungen sie den arbeitenden Massen abverlangt? In Mailand sind die wichtigsten Lebenszentren des italienischen Kapitalismus: der italienische Kapitalismus kann nur in Mailand enthauptet werden.

Für die italienische Revolution besteht bereits eine Gleichung mit vielen Unbekannten: das Problem Roms, der politischen und administrativen Hauptstadt, wo es kein großes Industrieproletariat gibt, das dem zahlreichen Bürgertum überlegen sein könnte. Die Faschisten haben eine der Lösungen gezeigt, die für das Problem Rom möglich sein kann. Aber sie wäre utopisch für die proletarische Revolution ohne einen klaren Sieg in Mailand, ohne daß man in Mailand den Zehntausenden und Aberzehntausenden von ergebenen und enthusiastischen Arbeitern klare Ideen und sehr genaue Zielvorstellungen gibt. Das Problem Mailand ist daher keine lokale Frage: es ist ein nationales und in gewissem Sinne auch ein internationales Problem. Die Arbeiter Mailands müssen sich davon überzeugen; und aus der Erkenntnis der großen Pflichten, die auf sie zukommen, müssen sie die notwendige Energie und den Enthusiasmus aufbringen, um die Aufgabe zu Ende zu führen.

Es dürfte nicht schwer sein, die entfernten und naheliegenden Ursachen festzustellen, die zur gegenwärtigen Lage geführt haben, in der – unnütz, sich das zu verbergen – die Reformisten die effektive Kontrolle über die Massen ausüben. Wenige große Fabriken, eine unendliche Zahl kleiner Werkstätten, viele im Handel beschäftigte Kleinbürger, eine sehr starke demokratische Tradition bei den alten Arbeitern etc. Aber es genügt nicht, an den Elan zu erinnern, den die Arbeitermassen immer gezeigt haben, um zu folgenden Schlüssen zu kommen:

  1. Die gegenwärtige Situation wurde durch die Fehler der Sozialistischen Partei in den Jahren nach dem Kriege hervorgerufen.
  2. Es ist möglich, mit beharrlicher, geduldiger, täglicher, stündlicher Arbeit, mit der hingebungsvollsten Selbstverleugnung der besten Arbeiter, diese Lage zu verändern.

Die Sozialistische Partei hat sich nie um die enorme Bedeutung gekümmert, die Mailand in der Revolution hätte spielen können, hat nie versucht, eine große politische Organisation aufzubauen. In den Jahren 1919-1920 hätte Mailand, um seiner Aufgabe als organisatorisches Zentrum der nationalen Wirtschaft gewachsen zu sein, eine sozialistische Sektion von 30.000 bis 40.000 Mitgliedern haben müssen: mehr als möglich in einer Stadt mit etwa 300.000 Arbeitern, sobald die große Mehrheit der Partei der Revolution folgt. Aber in Mailand schien es, als würden die Arbeiter geradezu von der Parteiorganisation ferngehalten. Die Bezirkssektionen hatten nur eine sehr geringe Bedeutung; sie nahmen nur eingeschriebene Parteimitglieder auf. In der Sektion hatten die Arbeiterelemente nicht die Möglichkeit, zu Wort zu kommen. Die Tribüne war immer von den Stars der reformistischen und maximalistischen Demagogie besetzt, die stundenlang über die großen Probleme der internationalen und ... kommunalen Politik sprachen, aber keine ernsthafte Diskussion über die eigentlichen Arbeiterprobleme führte wie Fabrikräte, Betriebszellen, Arbeiterkontrolle – Fragen, bei denen auch der einfachste Arbeiter kompetent gewesen wäre und Gesichtspunkte hätte vorbringen können. Wer arbeitete, waren die Reformisten, die gesamte Struktur der Arbeiterorganisationen wurde von Reformisten bestimmt. An den wichtigsten strategischen Punkten angesetzt, wußten sie methodisch und schweigsam zu arbeiten: wußten sich zu beugen und zu verschwinden, wenn der revolutionäre Sturm zu heftig wurde; die Reformisten schmiedeten auf diese Weise äußerst kräftige Ketten, an denen sich heute die Mailänder Arbeiterklasse bewegt, ohne es überhaupt zu merken. In Mailand war für das Fehlen einer revolutionären Organisation typisch, daß, als die öffentlichen Versammlungen auf den Plätzen ihren Höhepunkt erreichten, als überall in der Stadt bis hin zu ihren erbärmlichsten und apolitischsten Elementen die Masse nur so wimmelte, die Anarchisten die Führung übernahmen; als die Bewegung mittelmäßig war und große Worte genügten, waren die Maximalisten an der Spitze; wenn die Bewegung aber stagnierte und nur die aktivsten organisatorischen Kräfte lebendig waren, hatten die Reformisten die Führung. Das faschistische Regime hat die Klassenbewegung auf ihren geringsten Ausdruck reduziert, und die Reformisten triumphieren auf der ganzen Linie.

Was bedeutet das alles? Daß wir, daß die revolutionären Arbeiter, sehr schlecht arbeiten. Nur wegen unserer Unfähigkeit, nur wegen unserer Stumpfheit sind die Reformisten stark und vertreten anscheinend die Massen. Man muß also lernen zu arbeiten, man muß in jeder Fabrik, in jedem Haus, in jedem Stadtviertel sich vor Augen halten, wie gearbeitet wird, um sich die Sympathien des ärmsten Teils der Arbeiterklasse zu erobern, der auch der zahlreichste ist und den geschlossensten Teil und die treuesten Soldaten der Revolution stellt. Und man muß diskutieren und diskutieren lassen. Die Spalten unseres Blatts haben auch und besonders diese Aufgabe.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008