Antonio Gramsci


Ein Jahr

(15. Januar 1922)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.102-105.
Zuerst veröffentlicht in Ordine Nuovo, 15. Januar 1922.
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Die gesamte Geschichte Italiens seit 1900 (das heißt seit der Ermordung Umbertos I. und der Aufgabe der vergeblichen doktrinären Versuche, mit einem strengen Korpus geschriebener Gesetze einen konstitutionellen Staat zu schaffen) und vielleicht sogar die moderne Geschichte unseres Landes seit der nationalen Einigung von 1866 bliebe ein Rätsel, würde man nicht die unaufhörlichen Anstrengungen bestimmter Regierungsschichten, der führenden Klassen die hervorragendsten Persönlichkeiten der Arbeiterorganisationen einzuverleiben, als einen zentralen Gesichtspunkt betrachten. Die italienische Demokratie, wie sie sich seit 1870 entwickelte, ermangelt einer soliden Klassenstruktur, da keine der beiden besitzenden Klassen – die Kapitalisten oder die Agrarier – die Vorherrschaft antrat. Der Kampf zwischen diesen beiden Klassen hat in der Geschichte anderer Länder den Boden für die Organisation des modernen liberalen und parlamentarischen Staates bereitet. In Italien gab es diesen Kampf so gut wie nie, oder besser gesagt, er vollzog sich in einer zweideutigen Form, in Form der bürokratischen und plutokratischen Unterwerfung der mittleren und südlichen Regionen des Landes mit ihren agrarischen Klassen unter die nördlichen Regionen, wo sich das Industrie- und Finanzkapital konzentrierte.

Gezwungen, ein demokratisches Regime aufrechtzuerhalten, das eine Herrschaft bürgerlicher Minderheiten war und zugleich eine Vorherrschaft eines begrenzten Gebietes der Nation über den größten Teil des Territoriums darstellte, drängten die Repräsentanten des nördlichen Industrialismus und der nördlichen Plutokratie unentwegt darauf, die eigenen Reihen der herrschenden Klasse zu erweitern, sich die Arbeitermassen zu integrieren und den Klassenkampf in ihrem Gebiet zu beenden. Bis 1900 versuchten die Kapitalisten im Bund mit den Latifundienbesitzern des Südens, sowohl den Klassenkampf des Industrieproletariats als auch die Gewaltausbrüche der armen Klassen der südlichen Bauernschaft zu ersticken. Aber offensichtlich hätte dieses Bündnis auf lange Sicht die Situation verkehrt, die Latifundienbesitzer hätten die Staatsmacht erlangt, während der Norden die Privilegien verloren hätte, die er mit der nationalen Einigung erworben hatte. Der Versuch König Umbertos, dem Staat eine strenge konstitutionelle Struktur zu geben, indem er dem Parlament die faktischen Prärogativen nahm, die es hatte erobern können, war der entscheidende Punkt in diesen Kämpfen. Mit der Ermordung Umbertos gewann der Kapitalismus definitiv die Übermacht und versuchte, das bestehende nationale Bündnis der besitzenden Klassen durch ein Bündnissystem mit dem städtischen Proletariat zu ersetzen, auf dessen Basis sich, wie in den anderen kapitalistischen Staaten, eine wahre parlamentarische Demokratie hätte entwickeln können. Giolitti war der typische Vertreter dieser Tendenz, und die ganze Geschichte der sozialistischen Bewegung von 1900 bis heute ist nichts anderes als das Resultat der vom Giolittismus erdachten Kombinationen, um sich die Unterstützung der arbeitenden Klassen zu sichern. In keinem Land ist die Entstehung und die Entwicklung gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Organisationen so begünstigt worden wie in Italien. Wenn sich diese Interessen konsolidiert hätten, so hätte sich vermutlich innerhalb der Arbeiterklasse eine Schicht kleinbürgerlicher Funktionäre gebildet, die den lockenden Parolen der bürgerlichen Staatsmänner eifrig Gehör geschenkt hätten. Dieser zwanzig Jahre lang gehegte Plan des intelligentesten Teils der italienischen Bourgeoisie ist heute herangereift. In hohem Alter sieht sich Giolitti an dem Punkt, wo er endlich die Früchte seiner äußerst geduldigen Arbeit ernten kann. Und zu dieser Schlußfolgerung kommt man eben in diesen Tagen, in denen sich der Kongreß von Livorno zum erstenmal jährt.

Vor einem Jahr war den Kommunisten klar, welches die wirkliche Richtung der italienischen Politik sein müsse. Trotz der großen Schwierigkeiten in jenem Augenblick, und obwohl ihr Handeln einem Großteil der Arbeiterklasse hätte unüberlegt und verfrüht erscheinen können, haben die Kommunisten nicht gezögert, eine klare Position zu beziehen: sie trennten sich von der unvermeidlichen Politik der kleinbürgerlichen Schicht, die sich im Laufe einer zwanzigjährigen Geschichte innerhalb der Arbeiterklasse entwickelt und gut organisiert hatte; sie, und somit letztlich das gesamte italienische Proletariat, übernahmen eine eigene Verantwortung. In der Unkenntnis der sozialen Geschichte ihres Landes, die sie immer ausgezeichnet hat, glaubten dagegen die sogenannten unitarischen Maximalisten, daß es genüge, die kollaborationistischen Tendenzen in einer verbal revolutionären Parteiformation gefangen zu halten, um zu verhindern, daß das geschichtliche Ereignis sich vollziehe. Die Maximalisten behaupteten, daß eine vorgefaßte, täglich gepredigte Kollaboration der Ausdruck von Voluntarismus sei; störrisch wie Esel weigerten sie sich stets zuzugeben, daß die ganze italienische Geschichte aufgrund ihrer besonderen Voraussetzungen und der Art, wie der Einheitsstaat entstanden war, notwendig auf eine Kollaboration zutrieb.

Aber Giolitti kannte die Geschichte der italienischen sozialistischen Bewegung besser als die Maximalisten: Er wußte, da in erster Linie er ihr Schöpfer gewesen war, daß die Genossenschaften und all die anderen Organisationen des Widerstands, der Fürsorge und der Produktion der italienischen Arbeiterklasse nicht durch eine autonome Anstrengung der Arbeiterklasse selbst, durch einen Impuls originaler und revolutionärer Schöpfung entstanden waren, sondern von vielen Kompromissen abhingen, bei denen die Macht der Regierung dominierte. Was die Regierung geschaffen hatte, konnte die Regierung zerstören. Was die Regierung geschaffen hatte, ohne offiziell die staatliche Autorität zu kompromittieren, konnte von der Regierung auf gleiche Weise zerstört werden. Der Faschismus wurde so zum Werkzeug der Erpressung der Sozialistischen Partei und determinierte die Spaltung zwischen der Kleinbourgeoisie, die in ihren konstituierten Interessen mit der Arbeiterklasse verfilzt war, und dem Rest der Sozialistischen Partei, der sich darauf beschränkte, sich an ideologischen Formeln zu weiden, unfähig, die revolutionären Anstrengungen des Proletariats zu Ende zu führen. Noch einmal hat die Ökonomie über die Ideologen gesiegt. Heute haben die Repräsentanten der konstituierten Interessen, das heißt die Vertreter der Genossenschaften, der Arbeitsvermittlungsbüros, der Kollektivpachtungen, der Gemeinden und der Versorgungskassen, obwohl in der Partei in der Minderheit, die Übermacht über die Redner, die Journalisten, die Studienprofessoren und die Advokaten, die unerreichbare und leere ideologische Pläne verfolgen.

Die Bourgeoisie steigerte die Politik der Kompromisse, die traditionelle Politik der führenden Klassen Italiens, bis zur Absurdität und so gelang es ihr, zu erhalten, was sie seit zwanzig Jahren geduldig vorbereitet hatte. Die große Sozialistische Partei, die 1919 alle revolutionären Tendenzen bis hinunter zu den unteren Schichten der italienischen Bevölkerung zu vereinigen schien, ist völlig zerfallen. Zwei politische Kräfte sind aus ihr erwachsen, keine der beiden ist in der Lage, die Situation zu beherrschen: auf der einen Seite ist es die reformistische Tendenz, die sehr bald in die Bourgeoisie integriert sein wird, auf der anderen die Kommunistische Partei. Aber diese objektiven Ergebnisse des Kongresses von Livorno sind nicht dazu angetan, um die Kommunisten zu entmutigen. Die Kommunisten sind gerade deswegen stark, weil sie sich nicht scheuen, der Situation ins Auge zu blicken und sie in ihren realen Kräfteverhältnissen zu bewerten. Damit das Proletariat zu einer unabhängigen Klasse werden konnte, mußte das Gebäude scheinbarer ökonomischer Macht zerfallen, das in zwanzig Jahren der Kompromisse errichtet wurde. Ein derartiger Zusammenbruch konnte nur äußerst schwerwiegende Konsequenzen für das Proletariat selbst haben und es schwächen. Die Kommunisten hatten den Mut, sich der Situation zu stellen und sie ihren Lauf nehmen zu lassen. Auch wenn sie den Mut nicht dazu gehabt hätten, wäre es zu diesem Zusammenbruch gekommen, und dann hätte nicht einmal die gegenwärtige Kraft, die sich das Proletariat noch bewahrt hat, es vor der Auflösung retten können. Auch in Italien ist die vollkommene Auflösung der parlamentarischen Demokratie eine notwendige Prämisse für die Revolution. Nur dann wird das Proletariat zur herrschenden Klasse und stellt sich an die Spitze aller revolutionären Kräfte des Landes, wenn experimentell, als Probe auf die geschichtliche Wirklichkeit, die kollaborationistischen Kräfte bewiesen haben, daß sie unfähig sind, die ökonomische und politische Krise zu lösen. Die Maximalisten haben sich in Livorno nicht von dieser Wahrheit überzeugen lassen wollen, die aus der marxistischen Lehre resultiert: mit dem ideologischen Zwang einer leeren Parteidisziplin glaubten sie verhindern zu können, daß der geschichtliche Prozeß sich in all seinen Momenten intregal entfalte und daß ein Glied der Kette übersprungen werden könne. Sie sind in ihrem wundergläubigen Stolz bestraft worden. Politisch unfähig und bar jeglichen Verständnisses für die wirkliche Geschichte des italienischen Volkes, haben sie als miserablen Erfolg nur zu verzeichnen, daß ein Experiment künstlich verlängert wurde, das normalerweise heute bereits durch seine eigenen Ergebnisse liquidiert worden wäre. Sie haben folglich der Arbeiterklasse, der die kapitalistische Unterdrückung Leiden und Schmerzen bereitete, neue Leiden und Schmerzen hinzugefügt, die ihr hätten erspart bleiben können.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008