Antonio Gramsci


Der Fabrikrat

(5. Juni 1920)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.64-68.
Zuerst veröffentlicht in Ordine Nuovo, 5. Juni 1920.
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Die proletarische Revolution ist kein Willkürakt einer Organisation oder eines Systems von Organisationen, die sich als revolutionär ausgeben. Die proletarische Revolution ist ein langer geschichtlicher Prozeß, der sich durch die Entstehung und Weiterentwicklung bestimmter Produktivkräfte (die wir zusammenfassend mit dem Ausdruck „Proletariat“ bezeichnen) in einem bestimmten geschichtlichen Milieu manifestiert (das wir „individuelle Eigentumsweise, kapitalistische Produktionsweise, Organisationsweise der Gesellschaft im demokratisch-parlamentarischen Staat“ nennen). Von einer bestimmten Phase dieses Prozesses an können sich die neuen Produktivkräfte innerhalb der offiziellen Schemata des menschlichen Zusammenlebens nicht mehr autonom entwickeln; in dieser Phase kommt es zur revolutionären Tat, das heißt der Anstrengung, diese Schemata gewaltsam zu zerbrechen und den gesamten Apparat ökonomischer und politischer Macht zu zerstören, in dem die revolutionären Produktivkräfte latent vorhanden waren; es ist die Anstrengung, die bürgerliche Staatsmaschine zu zerstören und einen Staatstyp zu schaffen, in dessen Rahmen die befreiten Produktivkräfte eine ihnen gemäße Form für ihre weitere Entwicklung finden, und in dessen Organisation sie Schutz und die nötigen und ausreichenden Waffen finden, um ihre Gegner niederzuwerfen.

Der wirkliche Prozeß der proletarischen Revolution ist nicht identisch mit der Entwicklung und der Aktion revolutionärer Organisationen auf freiwilliger und vertragsmäßiger Basis wie es zum Beispiel die politische Partei und die Berufsgewerkschaften sind: Organisationen also, die innerhalb der bürgerlichen Demokratie und auf Grund politischer Freiheit entstanden sind, diese politische Freiheit beweisen und weiterentwickeln. Soweit diese Organisationen eine Lehre verkörpern, die den revolutionären Prozeß interpretiert und (innerhalb gewisser Grenzen geschichtlicher Wahrscheinlichkeit) dessen Entwicklung vorhersieht, soweit sie von den großen Massen als Reflex ihrer selbst und als ihr eigener embryonaler Regierungsrat anerkannt werden, sind diese Organisationen (und werden es in noch stärkerem Maße) die direkt wirkenden und verantwortlichen Antriebskräfte für alle Akte der Befreiung, die die gesamte Arbeiterklasse im Verlauf des revolutionären Prozesses unternehmen wird. Aber dennoch verkörpern sie nicht den Prozeß selbst, sie gehen nicht über den bürgerlichen Staat hinaus, umfassen nicht – und können nicht umfassen – all die viegestalten revolutionären Kräfte, die der Kapitalismus durch seinen unerbittlichen Ablauf als Maschine der Ausbeutung und Unterdrückung entfesselt.

Während der ökonomischen und politischen Vorherrschaft der bürgerlichen Klasse vollzieht sich die Entwicklung des revolutionären Prozesses unterirdisch, im Dunkel der Fabrik und im Dunkel des Bewußtseins der unendlichen Massen, die der Kapitalismus seinen Gesetzen unterwirft: der revolutionäre Prozeß ist nicht kontrollierbar und nachweisbar; er wird kontrollierbar sein, wenn seine konstitutiven Elemente (Gefühle, Bestrebungen, Gewohnheiten, Keime von Initiative und Usancen) sich zugleich mit der Entwicklung der Gesellschaft und der Entwicklung der Arbeiterklasse innerhalb der Produktion entwickeln und klarer werden. Die revolutionären Organisationen (die politische Partei und die Berufsgewerkschaft) sind durch die politische Freiheit bedingt, sind innerhalb der bürgerlichen Demokratie entstanden und bestätigen die Freiheit im allgemeinen innerhalb der Demokratie, wo sie die Beziehungen von Staatsbürger zu Staatsbürger fördern. Der revolutionäre Prozeß dagegen verwirklicht sich auf dem Produktionssektor, in der Fabrik, wo das Verhältnis zwischen Unterdrücker und Unterdrückten herrscht, zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten, wo es keine Freiheit für den Arbeiter, keine Demokratie gibt; der revolutionäre Prozeß verwirklicht sich dort, wo der Arbeiter nichts ist und alles werden will, wo die Macht des Eigentümers unbegrenzt ist, eine Macht über Leben und Tod des Arbeiters, seiner Frau und seiner Kinder.

Wenn wir behaupten, daß der geschichtliche Prozeß der Arbeiterrevolution dem kapitalistischen System immanent ist, seine Gesetze in sich selbst trägt und sich notwendig entwickelt (weil eine Vielfalt unkontrollierbarer Handlungen zusammenkommt, unkontrollierbar, da sie aus einer vom Arbeiter nicht gewollten und nicht vorhergesehenen Situation resultierten), wenn wir behaupten, daß der geschichtliche Prozeß der Arbeiterrevolution jetzt zutage trat, ist er damit kontrollierbar und dokumentierbar geworden?

Wir werden das behaupten, wenn die gesamte Arbeiterklasse revolutionär geworden ist, nicht nur, daß sie sich generell weigert, an den Regierungsinstitutionen der bürgerlichen Klasse mitzuarbeiten, nicht nur, daß sie eine Opposition innerhalb der demokratischen Ordnung repräsentiert; sondern wenn die gesamte Arbeiterklasse in einer Fabrik eine Aktion beginnt, die notwendig zur Gründung eines Arbeiterstaates führt und dazu, daß der menschlichen Gesellschaft eine absolut originale Gestalt gegeben wird, eine universelle Form, die die gesamte Arbeiterinternationale und folglich die gesamte Menschheit umfaßt. Und wir behaupten, daß die gegenwärtige Periode revolutionär ist, eben weil wir feststellen, daß die Arbeiterklasse in allen Nationen mit aller Energie – (wenn auch unter Fehlern und Zögern, den für eine unterdrückte Klasse charakteristischen Hemmnissen, einer Klasse ohne geschichtliche Erfahrung, die ganz von vorn beginnen muß) – danach strebt, aus sich heraus neuartige Institutionen der Arbeit zu schaffen, repräsentative Institutionen innerhalb eines industriellen Schemas. Wir behaupten, daß die gegenwärtige Periode revolutionär ist, weil die Arbeiterklasse mit all ihren Kräften, mit ihrem ganzen Willen danach strebt, ihren Staat zu gründen. Eben darum stellt die Begründung der Arbeiterfabrikräte ein grandioses geschichtliches Beispiel dar und bedeutet den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des Menschengeschlechtes: durch sie tritt der revolutionäre Prozeß zutage, tritt in die kontrollierbare, dokumentierbare Phase.

In der liberalen Geschichtsphase der bürgerlichen Klasse und der von der bürgerlichen Klasse beherrschten Gesellschaft war die elementare Zelle des Staates der Eigentümer, der in der Fabrik die Arbeiterklasse seinem Profit unterwarf. In der liberalen Phase war der Eigentümer auch Unternehmer, war auch Industrieller: die Quelle industrieller Macht war die Fabrik, und dem Arbeiter war es nicht möglich, sich von der Überzeugung zu befreien, daß der Eigentümer notwendig sei, war doch seine Person mit der Person des Industriellen identisch, mit der Person des verantwortlichen Produktionsleiters und folglich auch mit dem Lohn des Arbeiters, seinem Brot, seiner Bekleidung, seiner Wohnung.

In der imperialistischen Phase der bürgerlichen Klasse geht die industrielle Macht einer jeden Fabrik auf einen Trust über, ein Monopol, eine Bank, die Staatsbürokratie. Die industrielle Macht wird unverantwortlich und folglich autokratischer, erbarmungsloser, willkürlicher: aber der Arbeiter, von der Suggestion des „Chefs“ und vom knechtischen Geist der Hierarchie befreit, angetrieben auch von den neuen allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen einer neuen Geschichtsphase, hat unschätzbare Eroberungen an Autonomie und an Möglichkeit zur Initiative gemacht.

In der Fabrik wird die Arbeiterklasse zu einem bestimmten „Produktionsinstrument“ in einer bestimmten organischen Verfassung; jeder Arbeiter wird „zufällig“ Teil dieses konstituierten Ganzen: zufällig, soweit es seinen Willen betrifft, aber nicht zufällig, soweit es seine Aufgabe betrifft, eine bestimmte Notwendigkeit des Arbeits- und Produktionsprozesses dar, und nur deshalb wird er eingestellt, nur deshalb kann er sein Brot verdienen: er ist ein Rad der Maschine der Arbeitsteilung, das heißt, der sich in einem Produktionsinstrument determinierenden Arbeiterklasse. Wenn der Arbeiter ein klares Bewußtsein dieser seiner „determinierten Notwendigkeit“ erlangt und darauf einen repräsentativen Apparat nach Art eines Staates aufbaut (das heißt nicht freiwillig, vertraglich, durch Mitgliedskarte, sondern absolut, organisch, einer Wirklichkeit zugehörig, die anzuerkennen notwendig ist, wenn Brot, Bekleidung, Behausung, industrielle Produktion gesichert sein sollen): wenn die Arbeiter, die Arbeiterklasse, das tun, dann tun sie etwas Grandioses. Sie leiten eine neue Geschichte ein, die Ära der Arbeiterstaaten. Die Arbeiterstaaten zusammen bilden die kommunistische Gesellschaft, die Welt, die nach dem Typ eines großen metallverarbeitenden Betriebes organisiert ist, die kommunistische Internationale, in der jedes Volk, jeder Teil der Menschheit Gestalt annimmt, weil er eine bestimmte wichtige Produktion ausführt und nicht, weil er einer Staatsform unterworfen ist und ihm Grenzen gesetzt sind.

Indem sie diesen repräsentativen Apparat aufbaut, enteignet die Arbeiterklasse in Wirklichkeit die erste aller Maschinen, das wichtigste Produktionsinstrument: die Arbeiterklasse selbst nämlich, die zu sich selbst gefunden, das Bewußtsein ihrer organischen Einheit erlangt hat und sich geschlossen dem Kapitalismus widersetzt. Die Arbeiterklasse beweist damit, daß der Ausgangspunkt der industriellen Macht wieder die Fabrik sein muß, sie setzt, vom Standpunkt des Arbeiters aus erneut die Fabrik als die Form, in der sich die Arbeiterklasse als determinierter, organischer Körper konstituiert, sie macht die Fabrik zur Zelle eines neuen Staates, des Arbeiterstaates, zur Basis eines neuen, repräsentativen Systems, des Rätesystems. Der Arbeiterstaat, der eine produktive Struktur hat, schafft bereits die Bedingungen für seine weitere Entwicklung, für seine Auflösung als Staat, für seine organische Eingliederung in ein Weltsystem: in die kommunistische Internationale.

So, wie heute im Arbeiterrat eines großen metallverarbeitenden Betriebes jede Arbeitsgruppe, proletarisch betrachtet, mit den anderen Gruppen einer Abteilung verschmilzt, jedes Moment der industriellen Produktion mit den anderen Momenten, und der produktive Prozeß betont wird, so verschmilzt in der Welt die englische Kohle mit dem russischen Erdöl, das sibirische Getreide mit dem sizilianischen Schwefel, der Reis von Vercelli mit dem Holz der Steiermark... zu einem einzigen Organismus unter einer internationalen Verwaltung, die die Güter der Erde im Namen der gesamten Menschheit lenkt. So betrachtet ist der Arbeiterfabrikrat die erste Zelle eines historischen Prozesses, der in der kommunistischen Internationale gipfeln muß, und zwar nicht mehr als politische Organisation des revolutionären Proletariats, sondern als Reorganisation der Weltwirtschaft und als Reorganisation des gesamten Zusammenlebens der Menschen und Nationen in der Welt. Jede gegenwärtige revolutionäre Aktion ist sinnvoll ist historisch real, wenn sie als ein Akt der Befreiung von den bürgerlichen Überbauten begriffen wird, die den historischen Prozeß unterdrücken. Wie das Verhältnis zwischen politischer Partei und Fabrikrat, zwischen Gewerkschaft und Fabrikrat beschaffen sein muß, geht bereits implizit aus dieser Darlegung hervor: Partei und Gewerkschaft dürfen sich nicht als Vormund oder als bereits konstituierte Überbauten der neuen Räteinstitution verstehen. Sie müssen sich als bewußt wirkende Kräfte der Befreiung von der Unterdrückung verstehen, die der bürgerliche Staat bedeutet; sie müssen die allgemeinen äußeren (politischen) Bedingungen organisieren, unter denen der revolutionäre Prozeß am schnellsten verläuft und unter denen sich die befreiten Produktivkräfte am besten entfalten können.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008