Antonio Gramsci


Das Arbeitsinstrument

(14. Februar 1920)


Quelle: Christian Riechers, (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.53-57
Ursrünglich veröfentlicht in Ordine Nuovo, 14. Febraur 1920.
Kopiert mit Dank von der nicht mehr vorhandenen Webseite Marxistische Bibliothek.
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Die kommunistische Revolution setzt auf ökonomischem wie auf politischem Gebiet die Autonomie des Produzenten in die Tat um. Die politische Aktion der Arbeiterklasse (die darauf abzielt, die Diktatur des Arbeiterstaates zu errichten), hat nur dann einen wirklichen geschichtlichen Wert, wenn sie der Entwicklung neuer ökonomischer, an Möglichkeiten reicher Verhältnisse dient, die nach Ausdehnung und endgültiger Konsolidierung drängen. Die politische Aktion kann nur Erfolg haben, wenn sie mit einer ökonomischen Aktion einhergeht. Die kommunistische Revolution bedeutet die geschichtliche Anerkennung bestehender ökonomischer Tatsachen, die sie enthüllt, energisch gegen jede reaktionäre Manöver verteidigt, im Recht verankert und ihnen so eine organische Form gibt und sie reguliert. Darum also sind die kommunistischen politischen Räte nur als eine geschichtliche Konsequenz von gut ausgebauten Fabrikräten möglich. Der Fabrikrat und das System der Fabrikräte erproben als erste die neuen Positionen, die die Arbeiterklasse zur Produktion einnimmt, sie geben der Arbeiterklasse das Bewußtsein ihres gegenwärtigen Wertes, ihrer wirklichen Funktion, ihrer Verantwortlichkeit, ihrer Zukunft. Die Arbeiterklasse zieht die Konsequenzen aus der Summe der positiven Erfahrungen, die von den einzelnen persönlich gemacht wurden, sie erwirbt die Psychologie und den Charakter einer herrschenden Klasse und organisiert sich als solche, das heißt, sie schafft die politischen Räte und setzt ihre Diktatur ein.

Die Reformisten und die Opportunisten urteilen sehr verschwommen, wenn sie behaupten, die Revolution hänge vom Stand der Entwicklung der Arbeitsinstrumente ab. Aber dieser Ausdruck – Arbeitsinstrument – ist für die Reformisten so etwas wie der Teufel in der Flasche. Sie lieben das Schlagwort „maximalistischer Nullismus“, und Mund und Kopf ist ihnen voll davon, aber sie hüten sich vor jeder konkreten Definition, hüten sich sehr, eine Probe ihrer diesbezüglichen Kenntnisse zu liefern. Was verstehen sie unter „Arbeitsinstrument“? Verstehen sie darunter das materielle Objekt, die einzelne Maschine, das einzelne Werkzeug? Oder verstehen sie darunter auch die hierarchischen Organisationsverhältnisse der Arbeitergruppe, die in einer Abteilung einer Maschine oder Maschinengruppe arbeitet? Oder verstehen sie darunter die Abteilung mit ihrem größeren Maschinenpark, ihrer Unterteilung und ihrer Organisation? Oder die gesamte Fabrik? Oder das von einer einzigen Firma abhängige System von Fabriken? Oder das System der Verhältnisse zwischen den verschiedenen Firmen oder zwischen einer Industrie und der anderen oder zwischen Industrie und Landwirtschaft? Oder verstehen sie darunter die Stellung des Staates zur übrigen Welt und das Verhältnis von Einfuhr und Ausfuhr? Oder verstehen sie darunter den gesamten Komplex dieser vielfältigen Interdependenzverhältnisse, die die Arbeits- und Produktionsbedingungen darstellen? Die Reformisten und Opportunisten hüten sich vor jeder konkreten Definition. Sie, die vorgeben, das politische Wissen, den Teufel in der Flasche, aufzubewahren, haben nie die wirklichen Probleme der Arbeiterklasse und der sozialistischen Zukunft untersucht. Sie haben jeden persönlichen und ideellen Kontakt zu den proletarischen Massen und zur geschichtlichen Wirklichkeit verloren, sie sind leere Rhetoriker, unfähig zu jeder Art von Aktion, unfähig, irgendein konkretes Urteil zu fällen. Da sie jeden Kontakt mit der proletarischen Wirklichkeit verloren haben, versteht man durchaus, daß sie schließlich guten Glaubens und aufrichtig davon überzeugt waren, die Mission der Arbeiter sei erfüllt, wenn das allgemeine Wahlrecht zur Bildung von Ministerien mit einem Turati führt, der ein Gesetz vorlegt, das den Prostituierten den Zugang zu den Wahlurnen erlaubt, und Ministerien mit einem Enrico Ferri, der das disziplinäre Regime der Irrenhäuser und Strafanstalten reformiert.

Hat sich das „Arbeitsinstrument“ seit zwanzig Jahren, seit zehn Jahren, seit Kriegsausbruch bis zum Waffenstillstand, vom Waffenstillstand bis heute weiterentwickelt? Die reformistischen und opportunistischen Intellektuellen, die die Interpretation des Marxismus als ihr Privateigentum und Monopol betrachten, haben das Kartenspiel oder die parlamentarische Intrige stets für hygienischer gehalten als das systematische und eingehende Studium der italienischen Wirklichkeit: deshalb verfügt der maximalistische „Nullismus“ nicht einmal über ein Buch über die Entwicklung der italienischen Ökonomie, deshalb kann er die italienische Arbeiterklasse nicht über die Entwicklung der italienischen proletarischen Revolution informieren, und die Arbeiter sehen sich schutzlos dem zügellosen Einbruch des obengenannten gedankenlosen und kritiklosen „Nullismus“ gegenüber.

Aber auch ohne den Beitrag der kleinbürgerlichen Intellektuellen, die in ihrer Mission als Erzieher und Lehrer versagt haben, gelingt es der Arbeiterklasse, den Entwicklungsprozeß des Arbeitsinstruments, des Produktions- und Austauschapparates zu verstehen und zu beurteilen. Die Versammlungen und die Diskussionen zur Vorbereitung der Fabrikräte haben Erziehung der Arbeiterklasse mehr beigetragen als zehn Jahre Lektüre Broschüren und Artikeln, die von den Inhabern des Teufels in der Flasche geschrieben wurden. Die Arbeiterklasse hat die realen Erfahrungen der einzelnen Mitglieder untereinander ausgetauscht und sie zu einem kolektiven Besitz gemacht: die Arbeiterklasse hat sich kommunistisch erzogen mit Hilfe ihrer eigenen Mittel und ihrer eigenen Systeme.

Damit die Räte gebildet werden konnten, mußte sich jeder Arbeiter seiner ökonomischen Stellung bewußt werden. Er spürte, daß er zunächst einer elementaren Einheit, der Abteilungsgruppe, angehört, und er spürte, daß die technischen Neuerungen an den Maschinen sein Verhältnis zum Techniker änderten: der Arbeiter braucht den Techniker, den Meister der Kunst, weniger als früher, folglich erwarb er eine größere Autonomie und kann sich selbst erziehen.

Auch die Figur des Technikers hat sich verändert: sein Verhältnis zum Industriellen hat sich völlig gewandelt: er ist keine Vertrauensperson mehr, kein Agent der kapitalistischen Interessen; da der Arbeiter bei unzähligen Arbeitsgängen ohne den Techniker auskommen kann, wird der Techniker als Werkzeug der Disziplinierung überflüssig: auch der Techniker ist nur noch Produzent, der mit dem Kapitalisten durch das nackte, krude Verhältnis des Ausgebeuteten zum Ausbeuter verbunden ist. Seine Psychologie verliert den kleinbürgerlichen Anstrich, und er wird proletarisch, wird revolutionär. Die technischen Neuerungen in der Industrie und eine bessere berufliche Qualifikation verschaffen dem Arbeiter eine größere Autonomie, stufen ihn in eine höhere industrielle Position ein. Aber die Veränderung der hierarchischen Verhältnisse und das Faktum der Unentbehrlichkeit beschränken sich nicht auf die Arbeitsgruppe, auf die elementare, für die Fabrik lebenswichtige Einheit.

Jede Arbeitsgruppe manifestiert mit der Person des Kommissars das einheitliche Bewußtsein, das sie von dem eigenen Grad an Autonomie und Eigenverantwortung in der Arbeit erworben hat, und sie nimmt durch ihn innerhalb der Abteilung und der Fabrik eine konkrete Gestalt an. Jeder Fabrikrat (Versammlung der Kommissare) drückt in den Mitgliedern des Exekutivkomitees das einheitliche Bewußtsein aus, das die Arbeiter der gesamten Fabrik von ihrer Position innerhalb der Industrie erworben haben. Das Exekutivkomittee kann beobachten, daß sich für den Fabrikdirektor ein ähnlicher Wandel vollzogen hat, wie ihn jeder Arbeiter beim Techniker feststellt. Die Fabrik ist nicht unabhängig: in der Fabrik gibt es den Unternehmer- Eigentümer nicht mehr, der die (vom Interesse des Privateigentums angeregte) wirtschaftliche Fähigkeit hat, Rohstoffe gut einzukaufen und das fertige Produkt besser zu verkaufen. Diese Funktionen sind von der einzelnen Fabrik auf das System von Fabriken übergegangen, das einer Firma gehört. Und nicht nur das: Die Firmen sammeln sich um eine Bank oder ein System von Banken, die die Funktion der Rohstofflieferanten und der Marktspekulanten effektiv übernommen haben.

Aber hat während des Krieges nicht der Staat, der Notlage wegen, die Rohstoffe nach einem feststehenden Plan verteilt, und ist er nicht zum einzigen Käufer der Produktion geworden? Wo ist also die Gestalt des Unternehmer-Eigentümers, des Industriekapitäns, der für die Produktion unentbehrlich ist, der die Fabrik mit seiner Voraussicht, seinen Initiativen, mit dem Schwung des persönlichen Interesses aufblühen läßt? Es gibt diese Gestalt nicht mehr, sie ist in der Entwicklung des Arbeitsinstruments aufgegangen, der Entwicklung des Systems technisch-ökonomischer Verhältnisse, die die Produktion und die Arbeit bedingen.

Der Industriekapitän ist zum Industrieraubritter geworden, nistet sich ein in den Banken, den Korridoren der Ministerien und des Parlaments, in den Börsen. Der Besitzer des Kapitals ist ein dürrer Zweig im Bereich der Produktion geworden. Da er nicht mehr unentbehrlich ist, da seine geschichtlichen Funktionen überlebt sind, wird er ein bloßer Agent der Polizei, legt er seine „Rechte“ unmittelbar in die Hände des Staates, damit dieser sie erbarmungslos verteidige.

Der Staat wird so zum einzigen Besitzer des Arbeitsinstrumentes, er übernimmt alle traditionellen Funktionen des Unternehmers, wird zur unpersönlichen Maschine, die Rohstoffe kauft und verteilt, die einen Produktionsplan zwingend durchsetzt und die Produkte ankauft und sie verteilt: der bürgerliche Staat der inkompetenten und unabsetzbaren Beamten, der Politikaster, Abenteurer und Spitzbuben. Konsequenz: die bewaffneten Polizeikräfte werden erhöht, die inkompetente Bürokratie wuchert ins Uferlose, man versucht, alle Unzufriedenen innerhalb der geizigen und faulen Kleinbourgeoisie an sich zu binden und gründet zu diesem Zweck immer neue, parasitäre Organisationen.

Die Zahl der Nichtproduzierenden steigert sich krankhaft, übersteigt jede vom Potential des Produktionsapparats gesetzte Grenze. Man arbeitet, aber produziert nicht; man arbeitet keuchend, und die Produktion sinkt ständig. Denn es hat sich ein riesiger Abgrund aufgetan, der die Arbeit verschluckt, der die Produktivität vernichtet. Die unbezahlten Arbeitsstunden des Arbeiters dienen nicht mehr dazu, den Reichtum der Kapitalisten zu vergrößern: sie dienen lediglich dazu, die Gier der unendlichen Menge von Agenten, Beamten, Müßiggängern zu befriedigen, sie dienen nicht dazu, den Hunger derer zu stillen, die für diesen Schwarm nutzloser Parasiten arbeiten. Und niemand ist verantwortlich und niemand kann getroffen werden: überall und ständig ist der bürgerliche Staat da mit seinen bewaffneten Kräften, der bürgerliche Staat, der zum Verwalter des Arbeitsinstruments geworden ist, das zerfällt, in Stücke bricht, das mit Hypotheken belastet wird und auf dem internationalen Markt als Schrott zur Versteigerung feilgeboten wird ...

So hat sich das Arbeitsinstrument entwickelt, das System der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Arbeiterklasse hat in der Produktion einen sehr hohen Grad von Autonomie erreicht, weil die Entwicklung der industriellen und kommerziellen Technik die einmal nützlichen Funktionen des Privateigentums und der Person des Kapitalisten überflüssig gemacht hat.

Der Privateigentümer, der automatisch aus dem Gebiet der unmittelbaren Produktion verstoßen wird, hat sich des Staates, des Inhabers des Profitmonopols, bemächtigt. Die bewaffnete Macht hält die Arbeiterklasse in einer widergeschichtlich gewordenen politischen und ökonomischen Sklaverei. Die Arbeiterklasse sammelt sich um die Maschinen, schafft ihre repräsentativen Institute als Funktion der Arbeit, als Funktion der eroberten Autonomie und des eroberten Bewußtseins der Selbstregierung. Der Fabrikrat ist die Basis der positiven Erfahrungen der Arbeiterklasse, mit ihm nimmt sie das Arbeitsinstrument in Besitz. Der Fabrikrat ist das solide Fundament für den Prozeß, der in der Diktatur und der Eroberung der Staatsmacht gipfeln muß, so daß das Chaos zerstört wird, der Wundbrand, der die Gesellschaft der Menschen korrumpiert.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008