Antonio Gramsci


Die Revolution gegen das Kapital [1]

(November 1917)


Quelle: Antonio Gramsci – vergessener Humanist?, Zusammengestellt und eingeleitet von H. Neubert, Dietz Verlag Berlin, 1991, S.36ff.
Ursprünglich veröffentlicht in Avanti! (Mailand), 24. November 1917
Nachgedruckt in Grido del Popolo (Turin), 5. Januar 1918.
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Die Revolution der Bolschewiki ist fest in der allgemeinen Revolution des russischen Volkes verwurzelt. Es waren die Maximalisten [2], die bis vor zwei Monaten das notwendige Ferment bildeten, damit die Ereignisse nicht stagnieren und der Weg in die Zukunft nicht dadurch unterbrochen wird, daß sich eine Ordnung in endgültiger Form – und dies wäre eine bürgerliche Ordnung – etabliert –, diese Maximalisten haben die Macht errungen, sie haben ihre Diktatur errichtet und beginnen, sozialistische Formen zu entwickeln, in denen die Revolution letztlich die Möglichkeit finden muß, ihre Entwicklung harmonisch fortzusetzen, und zwar ohne daß von den großen inzwischen realisierten Errungenschaften allzu große Erschütterungen ausgehen.

Die Revolution der Bolschewiki ist mehr von der Ideologie als von den Tatsachen hervorgebracht worden. (Deshalb ist es im Grunde unwichtig, mehr zu wissen, als wir wissen.) Sie war die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx. Das Kapital von Karl Marx war in Rußland mehr ein Buch der Bürgerlichen als der Proletarier. Es war der kritische Beweis für die fatale Notwendigkeit, daß sich in Rußland eine Bourgeoisie bildet, daß eine kapitalistische Ära beginnt, daß sich eine Zivilisation westlichen Typs durchsetzt, bevor das Proletariat überhaupt erst an seinen Aufstand, an seine Forderungen als Klasse, an seine Revolution denken kann.

Die Tatsachen haben die Ideologie überholt. Die Tatsachen haben die kritischen Schemata ad absurdum geführt, denen zufolge die Geschichte Rußlands sich nach den Grundprinzipien des historischen Materialismus hätte entwickeln müssen. Die Bolschewiki ignorieren Karl Marx; sie bestätigen mit der vollendeten Aktion, mit den realisierten Errungenschaften als Beweis, daß die Grundprinzipien des historischen Materialismus nicht so eisern sind, wie man hätte annehmen können und wie man annahm.

Dennoch besitzen auch diese Vorgänge einen fatalen Charakter; und wenngleich die Bolschewiki einige Feststellungen des Kapitals ignorieren, so ignorieren sie nicht das ihm innewohnende, lebensspendende Gedankengut. Sie sind keine „Marxisten“, das ist alles; sie haben nicht auf der Grundlage der Werke des Meisters eine aufgesetzte Lehre aus dogmatischen und unbestreitbaren Behauptungen fabriziert. Sie leben gemäß dem marxistischen Denken, das niemals stirbt, das eine Fortsetzung des italienischen und deutschen idealistischen Denkens darstellt und das bei Marx durch positivistische und naturalistische Zusätze entweiht wurde. Und dieses Denken stellt stets als den wichtigsten Faktor nicht die ökonomischen Tatsachen, nicht die Elementargewalten an die erste Stelle, sondern den Menschen, die menschliche Gesellschaft, die Menschen, die sich zusammenfinden, sich untereinander verständigen, die vermittels dieser Kontakte (Zivilisation) ein kollektives soziales Wollen hervorbringen, die die ökonomischen Tatbestände begreifen, bewerten und diese mit ihrem Wollen in Übereinstimmung bringen, bis dieses (Wollen) zur Triebkraft der Ökonomie, zum Modell der objektiven Realität wird, die lebt, sich entwickelt und den Charakter einer brodelnden irdischen Materie annimmt, die dorthin gelenkt werden kann, wo es dem Wollen und wie es dem Wollen entspricht.

Marx hat das Vorhersehbare vorhergesehen. Er konnte den europäischen Krieg [3] nicht voraussehen, oder besser, er konnte nicht voraussehen, daß dieser Krieg tatsächlich diese Zeitdauer und diese Ergebnisse hatte. Er konnte nicht voraussehen, daß dieser Krieg während dreier Jahre unsagbarer Leiden, unsagbaren Elends in Rußland ein solches kollektives Wollen des Volkes hervorbringt, wie er es hervorbrachte. Ein Wollen dieser Art hat normalerweise zur notwendigen Folge, sich in einem langen Prozeß feiner Verästelungen, in einer breiten Aufeinanderfolge von Klassenerfahrungen zu formieren. Die Menschen sind träge, sie haben das Bedürfnis, sich zu organisieren, zunächst äußerlich in Form von Vereinen, Verbänden, später innerlich, nach Überzeugungen, nach Zielvorstellungen ... [4] mit einer unaufhörlichen Kontinuität und Vielfalt äußerer Impulse. Deshalb also ermöglichen die Grundprinzipien der historischen Kritik des Marxismus normalerweise, die Realität richtig zu erfassen, sie einzufangen, sie sichtbar zu machen und zu charakterisieren. Normalerweise bringen – vermittels des immer intensiveren Klassenkampfes – die beiden Klassen der kapitalistischen Welt die Geschichte voran. Das Proletariat leidet unter seinem unmittelbaren Elend, es ist fortwährend von Entbehrungen betroffen und übt Druck auf die Bourgeoisie aus, um die eigenen Bedingungen zu verbessern. Der Kampf zwingt die Bourgeoisie, die Produktionstechnik zu verbessern, um die Produktion effizienter zu machen, damit die Befriedigung ihrer unmittelbarsten Bedürfnisse möglich wird. Es vollzieht sich ein bedrückender Wettlauf zum Besseren hin, der den Produktionsrhythmus beschleunigt, der ein kontinuierliches Anwachsen des Umfangs der Güter gewährleistet, die der Gemeinschaft dienen sollen. Und in diesem Wettlauf gehen viele unter, die Sehnsüchte der Zurückgebliebenen werden immer dringlicher, und die Massen befinden sich stets im Zustand des Aufbegehrens. Und aus dem Chaos-Volk geht immer mehr Klarheit im Denken hervor, es wird sich immer mehr der eigenen Kraft, der eigenen Fähigkeit bewußt, die soziale Verantwortung wahrzunehmen, um Sachwalter des eigenen Schicksals zu werden.

Dies ist normal, sofern sich die Vorgänge in einem bestimmten Rhythmus wiederholen, sofern sich die Geschichte nach (zwar) immer komplexeren, nach Bedeutung und Gewicht immer reicheren, doch immerhin gleichen Momenten entwickelt. In Rußland aber hat der Krieg Willensäußerungen freigesetzt. Diese haben infolge der in drei Jahren angestauten Leiden sehr rasch einen Gleichklang gefunden. Die Entbehrungen waren ungeheuer, der Hunger und der Hungertod vermochten alle zusammenzuschließen, veranlaßte mit einem Schlag Dutzende Millionen Menschen zum Aufbegehren. Die Willensäußerungen wurden in Gleichklang versetzt, zunächst mechanisch, nach der ersten Revolution [5] aktiv, bewußtseinsmäßig.

Die sozialistische Propaganda hat das russische Volk in Kontakt mit den Erfahrungen des Proletariats der anderen Länder gebracht. Die sozialistische Propaganda belebte augenblicklich auf dramatische Weise die Geschichte des Proletariats, dessen Kämpfe gegen den Kapitalismus, die lange Folge von Anstrengungen, die unternommen werden müssen, um sich aus den Zwängen des Sklaventums zu befreien, die das Proletariat erniedrigen, damit ein neues Bewußtsein, ein unmittelbares Zeugnis einer künftigen Welt entsteht. Die sozialistische Propaganda hat das soziale Wollen des russischen Volkes hervorgebracht. Warum sollte es warten, daß sich in Rußland die Entwicklung Englands wiederholt, daß sich in Rußland eine Bourgeoisie formiert, daß der Klassenkampf entfacht wird, damit ein Klassenbewußtsein entsteht und schließlich der Untergang der kapitalistischen Welt sich ereignet? Das russische Volk hat diese Erfahrungen im Prozeß des Denkens, und sei es auch des Denkens einer Minderheit, durchgemacht. Es ist über diese Erfahrungen hinausgegangen. Dies diente ihm, sich zu behaupten, wie ihm die westlichen kapitalistischen Erfahrungen dienen werden, sich in kurzer Zeit auf die Höhe der Produktion der westlichen Welt zu erheben. Nordamerika ist in kapitalistischer Hinsicht weiter fortgeschritten als England, weil in Nordamerika die Angelsachsen mit einem Schlag bei einem Stand angefangen haben, zu dem England nach einer langen Entwicklung gelangt war. Das sozialistisch erzogene russische Proletariat beginnt seine Geschichte beim höchsten Stand der Produktion, den England heute erreicht hat, denn aus der Notwendigkeit anzufangen, wird es vom bereits Erreichten ausgehen, und von diesem Erreichten wird es den Impuls erhalten, um zu jener ökonomischen Reife zu gelangen, die nach Marx die notwendige Bedingung des Kollektivismus ist. Die Revolutionäre werden selbst die notwendigen Bedingungen für die umfassende und volle Verwirklichung ihr Ideale schaffen. Sie werden in geringerer Zeit geschaffen, als dies der Kapitalismus tat. Die von den Sozialisten geübte Kritik am bürgerlichen System, mit der die Unzulänglichkeiten, die Vergeudung des Reichtums offengelegt wurden, veranlaßt die Revolutionäre, es besser zu machen und jene Vergeudung zu vermeiden, um nicht in Mangelerscheinungen zu verfallen. Es wird im Prinzip ein Kollektivismus des Elends und des Leidens sein. Doch sind diese Bedingungen des Elends und des Leidens von einem bürgerlichen Regime ererbt. Der Kapitalismus könnte unmittelbar in Rußland nicht mehr tun, als der Kollektivismus vermag. Er könnte heute weniger ausrichten, weil er sofort ein unzufriedenes, aufgebrachtes Proletariat gegen sich hätte, das nunmehr nicht bereit wäre, weitere Jahre die Qualen und Widerwärtigkeiten zu erleiden, die die ökonomische Unzulänglichkeit mit sich bringt. Auch von einem absoluten, humanen Gesichtspunkt aus hat in Rußland der sofortige Sozialismus seine Rechtfertigung. Die Leiden, die dem Frieden folgen werden, können nur in dem Maße ertragen werden, wie die Proletarier begreifen werden, daß es von ihrem Wollen, von ihrem Arbeitseifer abhängt, in der kürzestmöglichen Zeit die Leiden zu überwinden.

Man hat den Eindruck, daß die Maximalisten in diesem Moment eine biologisch notwendige, spontane Erscheinungsform darstellen, damit die russische Gesellschaft nicht einem noch schrecklicheren Zusammenbruch verfällt, damit die russische Gesellschaft, indem sie sich einer gigantischen eigenständigen Arbeit, einer Arbeit der eigenen Wiedergeburt widmet, weniger die Gelüste des ausgehungerten Wolfes verspüren muß und damit Rußland nicht zu einer großen Fleischkammer für Raubtiere wird, die sich gegenseitig zerfleischen.



Anmerkungen

1. Der Artikel erschien erstmals in der Mailänder Ausgabe der sozialistischen Tageszeitung Avanti! (Vorwärts!) vom 24. November 1917 und wurde in der Wochenzeitung der Turiner Sektion der Sozialistischen Partei Grido del Popolo (Ruf des Volkes) vom 5. Januar 1918 nachgedruckt. Er ist enthalten in : Antonio Gramsci: Scritti politici, Hrsg. von Paolo Spriano, Bd.l, Rom 1973, S. 30-133.

2. Das Wort „Maximalisten“ steht hier für Bolschewiki und hat in diesem Falle aus der Sicht Gramscis eine positive Bedeutung.

3. Gemeint ist der erste Weltkrieg 1914-1918. Gramsci spricht von den drei Jahren seit Beginn bis zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution in Rußland.

4. Auslassung im Text.

5. Gemeint ist die russische Februarrevolution von 1917.


Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008