Maxim Gorkij

Sechsundzwanzig und eine

(Juni 1900)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1900, Nr.6, Juni 1900, S.348-359.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wir waren unser sechsundzwanzig Mann – sechsundzwanzig lebende Maschinen in einem feuchten Kellergewölbe, wo wir vom Morgen bis zum Abend Teig kneteten und aus demselben Kringel machten. Vor den Fenstern unseres Erdgeschosses befand sich eine Grube, deren mit Ziegeln belegte Wände grün waren vor Feuchtigkeit; die Fensterrahmen waren von aussen mit einem dichten Eisengitter versehen, und das Licht der Sonne konnte durch die mit Mehlstaub bedeckten Scheiben nicht zu uns dringen. Unser Principal hatte die Fenster vergittern lassen, damit wir den Bettlern und unseren arbeitslosen, hungernden Genossen von seinem Brot nicht spenden könnten, unser Principal nannte uns Spitzbuben und gab uns zu Mittag anstatt Fleisch übelriechende Eingeweide.

Schwül und eng war es uns in dem steinernen Kasten, unter der niedrigen, schweren, russgeschwärzten, spinnwebbezogenen Decke. Schwer und unerträglich war unser Leben zwischen diesen dicken, schmutzigen, verschimmelten Mauern ... Wir pflegten um fünf Uhr morgens aufzustehen, ohne ausgeschlafen zu haben, und setzten uns um sechs, stumpf und apathisch, an den Tisch, um Kringel aus dem Teig zu rollen, den unsere Genossen bereitet, als wir noch ruhten. Und den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zehn Uhr abends, sassen die einen von uns am Tisch, den elastischen Teig mit den Händen bearbeitend und sich dabei wiegend, um nicht zu erstarren, während die anderen die Teigmasse kneteten. Und den ganzen Tag summte traurig und melancholisch das siedende Wasser im Kessel, wo die Kringel gekocht wurden, und die Schaufel des Bäckers scharrte heftig und ungestüm über den Boden des Ofens, die glitschigen Teigstücke aus dem Kessel auf die heissen Backsteine werfend. Vom Morgen bis zum Abend brannte auf einer Seite des Ofens Holz, und der rote Widerschein des Feuers zitterte auf der Wand der Werkstube, als mache er sich lautlos über uns lustig. Der riesige Ofen glich dem hässlichen Kopf eines Märchenungeheuers, das ihn gleichsam aus dem Erdgeschoss emporgestreckt hat und uns mit seinem weiten, flammengefüllten Rachen anzufauchen, unsere endlose Arbeit mit seinen zwei schwarzen Stirnhöhlen zu betrachten schien. Diese zwei tiefen Luftlöcher waren wie Augen, wie die kalten, erbarmungslosen Augen des Ungetüms: sie schauten uns immer mit demselben finstern Blick an, als wären sie müde, ewig Sklaven vor sich zu sehen, von denen sie nicht; Menschliches erwarteten, und die sie darum mit der Leidenschaftslosigkeit eines Weisen verachteten.

In Mehlstaub, in Kot, den wir an unsern Sohlen vom Hof brachten, in der heissen, erstickenden Luft rollten wir tagaus, tagein den Te g, aus demselben Kringel machend, die wir mit unserm Schweisse netzten. Und wir hassten unsere Arbeit mit einem glühenden Hass, wir assen niemals, was unter unseren Händen entstand und zogen den Kringeln Schwarzbrot vor. An einem langen Tische einander gegenüber sitzend – neun gegen neun – bewegten wir im Laufe langer Stunden unsere Hände und Finger ganz mechanisch und hatten uns so sehr an unsere Arbeit gewöhnt, dass wir auf unsere Bewegungen niemals Acht gaben. Wir haben einander bereits so gründlich studiert, dass jeder von uns alle Runzeln auf den Gesichtern seiner Genossen kannte. Es fehlte uns an Stoff zu Gesprächen, und das war immer so bei uns gewesen; darum schwiegen wir die ganze Zeit, wenn wir uns nicht gerade zankten, denn stets kann man an einem Menschen etwas auszusetzen finden, zumal wenn man sein Genosse ist. Aber auch schelten thaten wir nicht oft – was konnte sich denn ursereiner zu schulden kommen lassen, da wir alle halbtot und wie versteinert waren, da die schwere Arbeitslast unsere Gefühle erdrückte? Aber das Schweigen ist nur für diejenigen schrecklich und qualvoll, die nichts mehr einander zu sagen haben, für Menschen dagegen, die zu reden noch nicht begonnen, ist es leicht und einfach ... Zuweilen jedoch sangen wir, und unser Gesang hob folgendermassen an: jemand von uns seufzte während der Arbeit tief auf, wie ein müdes Lastpferd, und begann dann eines jener Lieder zu summen, deren sanft klagende Melodie dem Singenden immer Erleichterung schafft. Erst sang nur einer, und wir ändern lauschten anfangs schweigend seinem einsamen Lied, das unter der schweren Decke des Gewölbes allmählich erlosch gleich einem kleiner Steppenfeuer in einer regennassen Herbstnacht, wenn der graue Himmel wie ein Bleimasse über der Erde hängt. Dann schloss sich dem Sänger ein zweiter an, und nun tönten zwei leise, traurige Stimmen durch unser enges dumpfes Kellerloch. Plötzlich fallen noch einige mit ein, und das Lied schäumt auf wie eine Woge, wird lauter, schwillt an, und es ist uns, als weiteten sich die feuchten, schweren Wände unseres steinernen Kerkers ...

Nun singen, alle sechsundzwanzig Mann; ihr lauter unisono-Gesang erfüllt den Raum; das Lied strebt hinaus: es schlägt gegen die Mauern, es stöhnt und schluchzt, es belebt das Herz mit einem leisen, prickelnden Schmerz, reisst alte Wunden auf und weckt die Sehnsucht ... Die Sänger seufzen tief und schwer; plötzlich verstummt einer und hört lange zu, wie die übrigen singen, dann stimmt er wieder ein. Ein anderer ruft beklommen „ach“, schliesst die Augen, und die tiefen, weiten Tonwellen kommen ihm vielleicht wie ein Weg vor, wie ein sonnenbeleuchteter, breiter Weg in die Ferne, den er in Gedanken selbst wandert ...

Noch flackert die Flamme im Ofen, fortwährend scharrt der Bäcker mit der Schaufel, es summt im Kessel das Wasser, und der Abglanz des Feuers auf der Wand zittert wie früher in lautlosem Spott ... Und wir singen mit fremden Worten unser dumpfes Lied aus, den Harm der Sklaven, den schweren Kummer lebender Menschen, die des Sonnenlichts beraubt sind. So lebten wir sechsundzwanzig im Kellergewölbe eines grossen, steinernen Hauses, und wir hatten’s so schwer, als wäre das ganze dreistöckige Haus auf unsern Schultern erbaut ...

* * *

Aber ausser den Liedern hatten wir noch etwas Schönes, etwas Liebes, das uns vielleicht den Sonnenschein ersetzte. Im zweiten Stock unseres Hauses befand sich ein Goldstickergeschäft, und dort lebte ausser vielen Stickerinnen auch das sechzehnjährige Stubenmädchen Tanja. Jeden Morgen erschien an unserem Thürfensterchen ein kleines, rosiges Gesichtchen mit lustigen blauen Aeuglein, und eine helle freundliche Stimme rief uns zu:

„Arrestantchen! Kringelchen her!“

Beim Klang des wohlbekannten Silberstimmchens pflegten wir uns alle umzuwenden und das reine Mädchengesicht, das uns so hold zulächelte; freudig und liebevoll zu betrachten. Zur angenehmen Gewohnheit ward uns der Anblick des an der Scheibe plattgedrückten Näschens und der kleinen weissen Zähnchen, die zwischen den halb geöffneten rosigen Lippen hervorleuchteten. Einander stossend, sprangen wir jedesmal auf, um ihr die Thür zu öffnen, und sie trat ein, heiter und anmutig, mit vorgehaltener Schürze, und blieb so vor uns stehen mit seitwärts geneigtem Köpfchen und lächelndem Munde. Der lange, dicke kastanienbraune Zopf lag, über die Schulter geworfen, auf ihrer Brust. Wir aber, hässlich, schmutzig und unglücklich, wie wir waren, schauten sie von unten herauf an – die Thürschwelle befand sich vier Stufen über dem Fussboden – schauten zu ihr empor mit zurückgebogenem Kopf und. wünschten ihr guten Morgen, sagten ihr ganz besondere Worte, die wir nur für sie allein bereit hatten. Im Gespräch mit ihr wurden unsere Stimmen weicher, unsere Scherze weniger derb. Alles, was wir ihr boten, war von besonderer Art. Der Bäcker holte aus dem Ofen, die schönsten, braunsten Kringel heraus und warf sie geschickt in Tanjas Schürze.

„Pass nur auf, dass der Meister dich nicht erwischt!“ – warnten wir sie immer. Sie lachte schelmisch, rief uns lustig zu: „Adieu, Arrestantchen!“ und verschwand so flink wie ein Mäuschen.

Das war alles: ... Aber nachdem sie weggegangen, pflegten wir noch lange mit Wohlgefallen über sie zu sprechen – dasselbe, was wir gestern und vorgestern gesprochen hatten, weil alles um uns,auch sie und wir, dieselben, blieben, wie gestern und sonst ... Es ist überaus schwer, und qualvoll, wenn der Mensch so hinvegetiert, während rings um ihn nichts sich verändert, und wenn ein solches Dasein seine Seele nicht endgiltig ertötet, so wird ihm diese Eintönigkeit mit der Zeit immer qualvoller ... Gewöhnlich Sprachen wir von den Weibern so, dass wir uns bisweilen selber schämten, diese rohen, scham – . losen Reden anzuhören, aber die Weiber, welche wir kannten, verdienten es vielleicht nicht besser. Ueber Tanja jedoch liessen wir niemals ein schlechtes Wort fallen; keiner von uns hat sich je erlaubt; sie mit der Hand zu berühren, und selbst lose Scherze entschlüpften uns nie in ihrer Gegenwart., Vielleicht kam es daher, weil sie nicht lange bei uns blieb: sie pflegte meteorartig aufzutauchen und ebenso zu verschwinden; aber vielleicht kam das auch davon, dass sie klein und schön war, und alles Schöne zwingt selbst rohen Menschen Achtung ab. Und der letzte Grund war, dass wir dennoch Menschen blieben, obgleich unsere Höllenarbeit uns stumpf wie das Vieh machte – und wie alle Menschen konnten wir ohne Verehrung für irgend etwas nicht leben. Wir hatten in unserer Nähe keinen, der besser wäre, als sie, und obwohl im Hause so viele Menschen wohnten, achtete doch niemand ausser ihr auf uns, die wir im Erdgeschoss hausten. Und dann – das war wohl das hauptsächlichste – dünkte es uns, als sei sie unser eigen, als sei sie etwas, das gleichsam nur dank unseren Kringeln existiert; wir hielten es für unsere Pflicht, ihr heisse Kringeln zu geben, und das wurde gewissermassen ein tägliches Opfer unserm Abgott; das wurde ein heiliger Brauch und fesselte uns mit jedem Tage immer stärker an sie. Ausser den Kringeln erhielt Tanja von uns viele Ratschläge; nämlich, dass sie sich wärmer kleiden, nicht so schnell über die Treppe rennen, keine schweren Holzbündel tragen sollte. Sie lächelte, wenn wir sie solcher Art ermahnten und folgte uns niemals, was wir ihr übrigens gar nicht übelnahmen, denn wir hatten nur das Bedürfnis, zu zeigen, wie sehr wir um sie besorgt sind.

Oft kam sie mit einer Bitte zu uns, so z.B. mussten wir ihr die schwere Eiskellerthür aufmachen oder Holz spalten, und wir thaten alles, was sie wollte, mit Freuden und selbst mit einem gewissen Stolz.

Aber als einer von uns sie bat, ihm sein einziges Hemd zu flicken, sagte sie verächtlich lachend:

„Das fehlt mir noch! Da könnt ihr lange drauf warten!“ ...

Wir lachten sehr über das komische Ding und richteten nie wieder irgend eine Bitte an sie. Wir liebten sie eben, – damit ist alles gesagt. Der Mensch muss immer jemand haben, dem er seine ganze Zuneigung schenken kann, obwohl er häufig die geliebte Person damit belästigt, sie manchmal auch in den Schmutz hinabzieht, obgleich er mit dieser seiner Liebe dem Gegenstand derselben das Leben verleiden kann. Wir mussten Tanja lieben, da wir sonst niemand mehr hatten ...

Zuweilen fing jemand von uns plötzlich folgendermassen zu raisonnieren an:

„Weshalb verwöhnen wir eigentlich das Mädel so? Was steckt denn so besonderes in ihr? Was denn? .Wir geben uns ’n bisschen zu viel mit ihr ab.“

Denjenigen aber, der solche Aeusserungen wagte, brachten wir bald unwirsch zum Schweigen – wir mussten eben etwas lieben, wir hatten dieses Etwas gefunden und liebten es, und das, was wir, alle sechsundzwanzig, liebten, musste für jeden von uns unantastbar sein wie ein Heiligtum, und jeder anders Denkende war unser aller Feind. Wir verehrten vielleicht nicht das wirklich Gute, aber wir waren doch unser sechsundzwanzig, und darum verlangten wir, dass unser Teuerstes auch den anderen heilig sei.

Unsere Liebe ist nicht minder schwer, als unser Hass ... und darum vielleicht behaupten gewisse Leute, dass unser Hass schmeichelhafter ist, als unsere Liebe ... Aber weshalb fliehen sie uns denn nicht, wenn dem so ist?

* * *

Ausser der Kringelbäckerei besass unser Meister auch einen Bäckerladen; er befand sich in demselben Hause, von unserer Grube nur durch eine Wand getrennt; aber die Semmelbäcker – deren waren vier – mieden uns, da sie ihre Arbeit höher schätzten, als die unserige, sich selbst für nobler hielten, als uns, und darum unsere Backstube nicht betraten und verächtlich lachten, wenn sie uns auf dem Hof trafen; wir besuchten sie auch nicht: das hatte uns der Dienstherr untersagt aus Furcht, wir könnten Buttergebäck stehlen. Wir waren diesen Bäckern abgeneigt, weil wir sie beneideten: ihre Arbeit war leichter, als unsere, ihr Lohn höher, ihr Rost besser, sie hatten eine helle geräumige Werkstube und waren alle so sauber, gesund – darum konnten wir sie nicht leiden. Wir dagegen sahen gelb und grau aus, drei von uns hatten Syphilis, einige Ausschlag, und ein anderer war von Rheumatismus ganz krumm. Jene trugen, an Feiertagen und ausser der Arbeitszeit kurze Röcke und knarrende Stiefel, zwei von ihnen besassen Harmonikas, und sie alle gingen in den Stadtgarten spazieren – wir aber hatten schmutzige Lumpen, Pantoffeln oder Bastschuhe an, die Polizeimänner liessen uns in den Stadtgarten nicht ein – konnten wir also den Semmelbäckern gewogen sein?

Eines Tages hörten wir, dass unser Dienstherr einen derselben wegen Trunksucht entlassen und bereits einen anderen gedungen hatte, und dass der neue Geselle ein Soldat war, der eine Atlasweste und eine Uhr an goldener Kette trug. Wir waren neugierig darauf, einen solchen Stutzer zu sehen, und liefen fortan alle Augenblicke auf den Hof hinaus.

Er kam aber selbst zu uns. Mit dem Fusse stiess er die Thür auf, blieb an der Schwelle stehen und sagte lächelnd:

„Grüss Gott! Morjen, Jungens!“

Die eiskalte Luft, welche durch die geöffnete Thür strömte, wogte wie eine Dampfwolke um seine Füsse, er stand auf der Schwelle, schaute uns von oben herab an, und unter seinem blonden, keck aufgewirbelten Schnurrbart schimmerten grosse gelbe Zähne. Die Weste war in der That ganz eigentümlich: blau, blumengestickt, glitzernd, mit Knöpfen aus roten Steinchen. Auch eine Kette hatte er ...

Ein schöner Kerl war dieser Soldat, hochgewachsen, gesund, rotwangig, und seine grossen hellen Augen schauten freundlich und heiter drein. Auf dem Kopfe trug er eine weisse gestärkte Mütze, und unter seiner tadellos sauberen, Schürze guckten die Spitzen moderner, blankgeputzter Stiefel hervor.

Unser Bäcker bat ihn ehrerbietig, die Thür zu schliessen; der Soldat that. es ganz gemächlich und begann uns nach dem Meister auszufragen. Wir sagten, ihm alle auf einmal, dass derselbe ein durchtriebener Schelm, ein Spitzbube, Bösewicht und Peiniger, sei – kurz, wir verrieten ihm alles, was wir über unseren Arbeitgeber wussten, was sich aber hier nicht niederschreiben lässt.

Der Soldat hörte uns zu, bewegte seinen Schnurrbart und betrachtete uns freundlichen, hellen Blickes.

„Habt ihr hier aber einen Haufen Mädels,“ sagte er plötzlich.

Einige von uns begannen ehrerbietig zu lachen, andere wieder machten eine süsse Miene, und einer erklärte dem Soldaten, dass hier neun Mädels wohnten.

„Habt ihr was davon?“ fragte der Soldat, mit den Augen zwinkernd.

Wieder lachten wir auf, nicht allzulaut und verlegen. Viele von uns wollten dem Soldaten zeigen, dass auch sie Blitzkerle seien, aber niemand konnte es. Und einer gestand’s, indem er leise sagte:

„Das ist nicht für unsereinen ...“

“Na ja, bei euch geht’s nicht!“ sagte der Soldat mit Ueberzeugung, uns musternd ... „Euch fehlt was dazu ... Habt keine rechte Haltung ... kein anständiges Aussehen! Und die Frauenzimmer, die lieben gerade ein fesches Aussehen, die verlangen einen tüchtigen Körper ... dass alles in Ordnung sei! Und dabei haben sie vor Kraft Respect ... Eine Hand muss so sein.“

Der Soldat zog aus seiner Tasche die rechte Hand mit dem aufgestreiften Hemdärmel und zeigte sie uns ... Sie war weiss, kräftig, bedeckt mit glänzenden blonden Haaren.

„Hand und Brust – alles muss fest sein ... Und dann soll der Mensch nach allen Regeln der Kunst gekleidet sein ... wie das die Schönheit der Dinge erfordert ... Ja, mich haben die Weiber gern. Weder ruf’ ich, noch lock’ ich sie, – werfen sich mir von selbst, fünf auf einmal, um den Hals ...“

Er setzte sich auf einen Sack mit Mehl und erzählte lang und breit, wie sehr die Weiber ihn liebten, und wie kühn er ihnen gegenüber wäre. Dann ging er weg, und nachdem die Thür kreischend hinter ihm ins Schloss gefallen, blieben wir lange stumm und dachten an ihn und seine Reden. Dann brachen wir plötzlich alle auf einmal das Schweigen, und es stellte sich heraus, dass er uns allen gefiel. So ein netter treuherziger Bursche – besuchte uns ohne Umstände, nahm Platz, plauderte. Sonst kam ja niemand zu uns, und niemand sprach mit uns so freundschaftlich ... Und wir redeten jetzt in einem fort von ihm und seinen künftigen Erfolgen bei den Goldstickerinnen, die uns mit verächtlichem Nasenrümpfen aus dem Wege gingen, wenn sie uns auf dem Hofe sahen oder direct auf uns lossteuerten, als wären wir Luft. Aber wir bewunderten sie immer, wenn wir sie draussen trafen oder wenn sie an unseren Fenstern vorbeispazierten – im Winter in eigenartigen Mützen und Pelzen, im Sommer in blumengarnierten Hüten und mit farbigen Schirmen in der Hand. Dafür aber sprachen wir von diesen Mädchen so, dass sie hätten rasend werden können vor Scham und Wut, wenn sie uns gehört hätten.

„Dass er nur nicht Tanjuschka ... verdirbt!“ sagte plötzlich der Bäcker in besorgtem Ton.

Wir verstummten, durch diese Worte ganz bestürzt. Tanja war uns ganz aus dem Sinn gekommen, gleichsam verdrängt durch die starke, schöne Gestalt des Soldaten. Dann entspann sich ein lebhafter Streit: die einen behaupteten,

Tanja werde sich nimmermehr dazu hergeben, die anderen meinten, sie werde dem Soldaten nicht standhalten können, und die dritte Gruppe schlug vor, ihm das Fell zu gerben, falls er die Tanja verfolgen sollte. Und endlich beschlossen alle, auf den Soldaten und Tanja achtzugeben und das Mädel vor ihm zu warnen ... Das machte dem Streit ein Ende.

* * *

Vier Wochen waren seitdem verflossen; der Soldat buk währenddessen Semmel, spazierte mit den Goldstickerinnen herum, besuchte uns oft, sprach aber kein Wort über seine Erfolge bei den Mädchen, drehte nur seinen Schnauzbart und leckte sich lüstern die Lippen.

Tanja kam nach wie vor jeden Morgen nach „Kringelchen“ und war wie immer lustig, nett und freundlich gegen uns. Wir machten wohl Versuche, mit ihr über den Soldaten zu reden, aber sie nannte ihn „ein glotzäugiges Kalb“, gab ihm allerhand Spottnamen, und das beruhigte uns. Wir sahen, wie die Goldstickerinnen mit dem Soldaten tändelten und waren stolz auf unser Mädel; Tanjas Betragen machte gleichsam auch uns allen Ehre, wir ahmten ihr nach und fingen an, den Soldaten geringschätzig zu behandeln. Sie aber wurde uns noch lieber, und noch freudiger und gutmütiger begrüssten wir sie jeden Morgen..

Eines Tages kam der Soldat etwas angetrunken zu uns, setzte sich und begann zu lachen. Als wir ihn fragten, worüber er denn lache, erklärte er uns:

„Dort haben sich zwei ... die Lydka und die Gruschka ... meinetwegen geprügelt ... Wie die sich verstümmelt haben! Ha – ha! Eine hat die Andere bei den Haaren gefasst, hat sie im Vorhaus zu Boden geworfen und sich rittlings auf sie ’raufgesetzt ... ha – ha – ha! Haben sich die Fratzen zerkratzt ... zerfetzt ... zum Totlachen! Weshalb können sich die Frauenzimmer bloss nicht ehrlich schlagen? Warum kratzen sie sich immer? na?“

Er sass auf der Bank, gesund, sauber, fröhlich, er sass so da und lachte in einem fort. Wir schwiegen. Dieses Mal machte er auf uns einen unangenehmen Eindruck.

„N–nein, was für ein Glück ich bei den Weibspersonen hab’, na? Zum Kranklachen! Ein Wink – und sie sind verloren! T–teufel!“.

Er erhob seine weissen haarigen Hände und liess sie geräuschvoll auf die Kniee fallen. Und in seinen Augen spiegelte sich eine so freudige Ueberraschung, als staune er selbst aufrichtig darüber, dass er bei den Weibern so viel Glück habe. Seine dicke rote Fratze glänzte vor Genugthuung und Selbstzufriedenheit, und er beleckte sich in einem fort lüstern die Lippen.

Unser Bäcker fuhr heftig und ärgerlich mit der Schaufel über den Ofenherd und sagte plötzlich spöttisch:

„’s ist kein grosses Kunststück, kleine Tannen zu brechen, versuch’s mal mit einer Fichte ...“

„Das sagst du mir?“ fragte der Soldat.

„Ja wohl, dir ...“

„Was ist denn los?“

„Nichts ... ’s ist schon vorbei!“

„Nein, wart’ mal! Was wolltest du damit sagen? Was für ’ne Fichte?“

Unser Bäcker erwiderte nichts und arbeitete geschwind mit seiner Schaufel drauf los: bald warf er die gekochten Kringel in den Ofen, bald nahm er die gebackenen heraus und warf sie geräuschvoll auf den Boden, wo sie von Jungen auf Baststreifen aufgereiht wurden. Er schien den Soldaten und den Wortwechsel ganz vergessen zu haben. Der Soldat aber geriet plötzlich in grosse Aufregung. er erhob sich und ging stracks auf den Ofen los, auf die Gefahr hin, mit dem krampfhaft hin und her fahrenden Schaufelstiel eins in die Brust zu bekommen.

„Nein, du musst mir aber sagen, wer ist sie denn? Du hast mich beleidigt ... Ich? Mir kann keine entgehen, n – nein! Und du sagst mir solche Beleidigungen ...“

Er schien sich sehr gekränkt zu fühlen. Wahrscheinlich beruhte seine Selbstachtung nur auf seiner Kunst, die Weiber zu verführen, und vielleicht war diese Fähigkeit das einzig .Lebendige in ihm, das ihm die Möglichkeit gab, sich nicht als vollständig toten Mann zu fühlen.

Es giebt ja Menschen, für die irgend ein Gebrest ihrer Seele oder ihres Körpers das Wertvollste und Beste in ihrem Leben ist. Sie brüsten sich damit, sie leben nur davon, und indem sie daran kranken, saugen sie zugleich ihre Währung daraus, sie klagen darüber und lenken so die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen auf sich. Sie erheben dadurch den. Tribut der Teilnahme von ihren Nächsten, und ausser diesem besitzen sie nichts. Nehmt ihnen ihr Siechtum, heilt sie davon, und sie werden unglücklich sein, weil sie das einzige Mittel zum Leben verlieren, - weil sie dann vollkommen hohl werden. Zuweilen ist das Dasein eines Menschen so arm, dass er gezwungen ist, sein Laster zu schätzen und davon zukehren; man kann geradezu behaupten, die Menschen seien aus Langeweile lasterhaft.

Der Soldat war beleidigt, rückte unserm Bäcker zu Leibe und heulte:

„Nein, du musst mir sagen, wer?“

„Soll ich’s dir sagen?“ sprach plötzlich der Bäcker, sich umwendend. „Nun?“

„Kennst du Tanja? ... Na, da hast du’s! Versuch’s mal!“

„Ich?“

„Du.“

„Die? Nichts leichter; als das!“ „Wollen wir sehn!“

„Du wirst’s schon sehn! H – ha!“

„Sie wird dich ...“

„Einen Monat Zeit!“

.„Bist du aber ein Prahlhans, du Soldat!“

„Zwei Wochen! Ich werd’ dich schon überzeugen! Wer ist sie? Tanjika! Pah! ...“

„Na, jetzt scher’ dich ... störst mich!“

„Vierzehn Tage – und fertig ist sie! Ach du ...“ „Geh’ weg, säg’ ich dir!“

Unser Bäcker wurde plötzlich rabiat und holte mit der Schaufel zum Schlage aus. Der Soldat wich ganz verdutzt zurück, schaute uns an, schwieg eine Weile, sagte dann leise in unheilverkündendem Ton: „Na, wartet mal!“ und begab sich hinaus.

Während des Streites schwiegen wir alle, auf den Ausgang desselben gespannt. Aber als der Soldat fort war, begannen wir lebhaft lärmend durcheinander zu reden.

Jemand von uns rief dem Bäcker zu:

„Hast nicht recht gethan, Paul!“

„Du, scher’ dich nur um deine Arbeit!“ versetzte der Bäcker grimmig.

Wir fühlten, dass der Soldat empfindlich gekränkt sei, und dass der Tanja Gefahr drohe. Zugleich aber bemächtigte sich unser ein angenehm prickelndes Gefühl von Neugierde auf das Kommende. Wird wohl Tanja dem Soldaten standhalten können? Und fast alle riefen überzeugt:

„Tanjika? Die wird standhalten! An die kann man so ohne weiteres nicht ’rankommen!’’

Wir brannten darauf, die Unzerstörbarkeit unseres Götzen zu erproben; wir suchten eifrig einander zu beweisen, dass er ein überaus fester Götze sei und diese Feuerprobe mit Ehren bestehen werde. Schliesslich wollte es sogar scheinen, wir hätten den Soldaten zu wenig aufgehetzt; er könnte den Streit vergessen und wir müssten ihn darum noch einmal tüchtig anreizen. Seit diesem Tage befanden wir uns in einem ganz besonderen Zustande nervöser Spannung, was sonst nie früher bei uns der Fall war. Wir stritten fortwährend mit einander, als wären wir gescheiter geworden, und sprachen von nun an mehr und besser. Uns däuchte, wir spielten mit dem Teufel irgend ein gewagtes Spiel, und unser Einsatz wäre – Tanja. Und als wir von den Semmelbäckern erfuhren, der Soldat habe angefangen, „unserer Tanjika den Hof zu machen“, ward es uns unheimlich wohl zu Mute, und wir fanden das Leben jetzt so interessant, dass wir nicht einmal merkten, wie der Meister, diese Animiertheit ausnützend, uns noch vierzehn Pud Mehl pro Tag draufgab. Die Arbeit schien uns jetzt gar nicht zu ermüden. Den ganzen Tag hatten wir Tanjas Namen im Munde. Und jeden Morgen erwarteten wir sie mit der grössten Ungeduld. Zuweilen hatten wir die Empfindung, Tanja werde gleich erscheinen, aber sie werde eine andere sein, nicht mehr die alte.

Doch erzählten wir ihr nichts von dem stattgehabten Streit. Wir fragten sie nicht aus und behandelten sie wie vordem mit liebevoller Freundlichkeit. Aber unseren Gefühlen zu Tanja mischte sich jetzt etwas Neues und Fremdes bei – und dieses Neue war Neugierde, scharf und kalt wie ein Messer von Stahl ...

„Jungens! Heut’ läuft der Termin ab!“ sagte eines Morgens der Bäcker, seine Schaufel ergreifend.

„Wir wussten das auch ohnehin, aber dennoch rüttelten uns diese Worte noch mehr auf.

„Seht sie aufmerksam an ... wird gleich kommen!“ rief der Bäcker.

Einer von uns rief bedauernd:

„Kann man denn mit den Augen was merken?“

Und wieder entbrannte zwischen uns ein lebhafter lärmender Streit. Heute sollten wir endlich erfahren, wie rein und unbefleckbar das Gefäss ist, in welches wir unser Bestes gegossen. An diesem Morgen ward es uns zum erstenmal völlig klar, dass wir in der That ein gefährliches Spiel begonnen, dass wir durch diese Lauterkeitsprobe unsern Götzen verlieren könnten. Diese ganze Zeit über hörten wir, Tanja werde von dem Soldaten hartnäckig verfolgt, aber niemandem von uns war es eingefallen, sie zu fragen, wie sie sich ihm gegenüber verhielte. Und sie kam nach wie vor jeden Morgen Kringelchen holen und war so wie immer.

Auch an diesem Tage ertönte ihre Stimme.

„Arrestantchen! Hier bin ich ...“

Wir machten die Thür auf, und als sie eintrat, blieben wir gegen unsere Gewohnheit stumm. Wir starrten sie an, nicht wissend, worüber wir mit ihr sprechen, wonach wir sie fragen sollten. Und so standen wir vor ihr, eine düstere, schweigende Schar. Sie schien über diesen ungewohnten Empfang erstaunt zu sein, und plötzlich sahen wir sie erbleichen, unruhig werden; dann fragte sie gepresst:

„Warum seid ihr ... so?“

„Und du?“ versetzte der Bäcker finster, sie unverwandt anblickend.

„Was denn?“

„N–nichts ...“

„Nun, so gebt nur geschwind die Kringelchen her“ ...

Früher hat sie uns nie zur Eile gemahnt ...

„Hast Zeit!“ sagte der Bäcker, sich nicht vom Flecke rührend und sie noch immer fixierend.

Da machte sie plötzlich kehrt und verschwand hinter der Thür.

Der Bäcker nahm seine Schaufel, wandte sich zum Ofen weg und sagte ruhig:

„Also fertig! ... Na, ist das aber ein Soldat! ... Ein gemeiner Kerl! ... Ein Hundsfott!“ ...

Gleich einer Hammelherde drängten wir uns alle zum Tisch, setzten uns schweigend nieder und begannen träge zu arbeiten. Bald aber sagte einer:

„Vielleicht ist ...“

„Nichts da!“ schrie ihn der Bäcker an.

Wir wussten alle, dass er ein gescheiter Mann ist, gescheiter, als wir. Und aus seinem Ausruf klang die Ueberzeugung von des Soldaten Sieg ... Uns war traurig und elend zu Mute ...

Um zwölf Uhr – als wir Mittag assen – stellte sich der Soldat ein. Er war wie immer sauber und stutzerhaft gekleidet und sah uns – wie immer – frank und frei ins Gesicht. Uns aber war’s peinlich, ihn anzuschauen.

„Nun, geehrte Herren, wollt ihr, so werd’ ich euch meine Soldatenbravour zeigen“ sprach er mit stolzem Lächeln. „Geht mal ins Vorhaus und guckt durch die Ritzen ... verstanden?“

Wir traten hinaus und drängten uns an der Bretterwand zusammen, die nach dem Hofe zu lag. Wir brauchten nicht lange. zu warten. Bald eilte Tanja mit besorgtem Gesicht über den Hof, die Schmutzlachen überspringend. Sie verschwand hinter der Eiskellerthür. Darauf begab sich auch der Soldat dorthin, gemächlichen Schrittes und ein Liedchen pfeifend. Seine Hände steckten in den Taschen, und sein Schnauzbart bewegte sich ...

Es regnete; wir sahen, wie die Tropfen in die Pfützen fielen und wie deren Fläche sich kräuselte. Es war ein trüber, feuchter Tag – ein sehr langweiliger Tag. Noch lag auf den Dächern Schnee, doch auf der Erde waren bereits dunkle Schmutzflecken. Aber auch auf den Dächern war die obere Schneeschicht. schon schmutzigbraün. Der Regen fiel langsam nieder, und traurig klang sein Plätschern. Kalt war uns und peinlich, zu warten ...“

Erst kam der Soldat aus dem Keller, zum Vorschein; er schritt langsam über den Hof, den Schnurrbart bewegend, die Hände in den Taschen – er war so wie immer.

Dann – trat auch Tanja heraus. Ihre Augen ... ihre Augen leuchteten vor Freude und. Glück, und ihre Lippen – lächelten. . Und sie ging wie im Schlaf, wankend, taumelnd ...

Wir konnten das nicht ruhig ertragen. Alle auf einmal stürzten wir zur Thür, rannten auf den Hof hinaus und begannen sie auszupfeifen und anzubrüllen, feindselig, laut; wild.

Sie fuhr zusammen, als sie uns erblickte, und blieb wie angewurzelt in einer Schmutzlache stehen. Wir umringten sie und schmähten sie: schadenfroh mit unzüchtigen Worten, mit schamlosen Reden.

Wir thaten’s nicht laut und langsam, da wir sahen, dass sie uns nicht entkommen werde, dass sie von uns umzingelt war und wir unser Mütchen an ihr kühlen konnten. Ich weiss nicht, warum wir sie nicht auch geschlagen haben. Sie stand in unserem Kreise und-wandte den Kopf bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, während unsere Schmähungen sie umschwirrten. Und immer heftiger, immer stürmischer bewarfen wir sie mit dem Schmutz, mit dem Gift unserer Worte.

Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Ihre blauen Augen, soeben noch glückselig strahlend, weiteten sich, ihre Brust hob sich schwer, und die Lippen bebten.

Und wir umschlossen sie immer enger, wir nahmen Rache an ihr, denn sie hatte uns beraubt. Sie gehörte ja uns, wir hatten ihr unser Bestes geschenkt, und obwohl es nur aus Bettlerbrocken bestand, so waren wir doch unser sechsundzwanzig, sie aber war allein, und darum gab’s keine so schreckliche Qual, die ihrer Schuld, gleich käme! Wie wir sie schmähten! ... Und sie blieb stumm, sah mit wilden Blicken um sich und zitterte am ganzen Körper. Wir lachten, johlten, brüllten ... Es kamen noch Leute gelaufen ... Jemand von uns zog Tanja am Aermel ...

Plötzlich blitzten ihre Augen auf; sie erhob, langsam die Hände, strich sich das Haar glatt .und sagte laut, aber ruhig uns, direct ins Gesicht:

„Ach, ihr armseligen Arrestanten!“ ...

Und sie schritt auf uns los, schritt einfach so los, als wären wir gar nicht da, und darum wagte es auch niemand, ihr länger den Weg zu versperren.

Und als sie aus unserem Kreise heraus war, sagte sie, ohne sich umzuschauen, laut und mit unbeschreiblicher Geringschätzung:

„Ihr Lu–umpen ... Sch–Scheusale ihr!“ ...

Und – ging von dannen.

Wir aber blieben auf dem Hofe stehen, in Schmutz und strömendem Regen, unter dem grauen Himmel ohne Sonne.

Dann gingen auch wir schweigend in unsere feuchte steinerne Grube zurück. Wie früher stahl sich nie ein Sonnenstrahl durch unsere Fenster, und Tanja kam nie mehr wieder ...


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2009