Nikolai Bucharin

 

Imperialismus und Weltwirtschaft

 

ERSTER ABSCHNITT
Die Weltwirtschaft und der Prozeß der Internationalisierung des Kapitals

Erstes Kapitel
Der Begriff der Weltwirtschaft

 

1. Der Imperialismus als Problem der Weltwirtschaft. 2. Die internationale Arbeitsteilung als Sonderfall der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. 3. Die natürlichen und sozialen Voraussetzungen der Arbeitsteilung. 4. Der internationale Warenaustausch als notwendiger und regelmäßiger Prozeß. 6. Der internationale Warenmarkt. 6. Der internationale Markt des Geldkapitals. 7. Die Weltwirtschaft als System von Produktionsverhältnissen 8. Die verschiedenen Formen des Zustandekommens dieser Verhältnisse. 9. Die Sozia1wirtschaft im allgemeinen und die Weltwirtschaft (das Problem des Subjekts der Wirtschaft).

Der Kampf der „nationalen“ Staaten, der nichts anderes ist als ein Kampf der entsprechenden Gruppen der Bourgeoisie, spielt sich nicht in der leeren Luft ab. Es ist unmöglich, sich diesen gewaltigen Zusammenstoß als einen Zusammenstoß zweier Körper im luftleeren Raum vorzustellen. Im Gegenteil: dieser Zusammenstoß ist durch das besondere Milieu bedingt, in dem die „volkswirtschaftlichen Organismen“ leben und sich entwickeln. Diese sind schon längst kein abgeschlossenes Ganzes, kein „isolierter Staat“ à la Fichte und Thünen mehr; sie sind nur Teile einer viel größeren Sphäre, und zwar der Weltwirtschaft. Ebenso wie jedes individuelle Unternehmen ein Teil der „nationalen“, der „Volkswirtschaft“ ist, ebenso gehört auch jede dieser „Volkswirtschaften“ zum System der Weltwirtschaft. Deshalb muß der Kampf der modernen „volkswirtschaftlichen“ Organismen in erster Linie als ein Kampf unter verschiedenen miteinander konkurrierenden Teilen der Weltwirtschaft betrachtet werden, ähnlich wie wir den Kampf der individuellen Unternehmungen untereinander als eine Erscheinungsform des sozialökonomischen Lebens auffassen. Die Frage des Imperialismus, seines ökonomischen Charakters und seiner Zukunft wird somit zur Frage der Beurteilung der Tendenzen der Weltwirtschaft und der wahrscheinlichen Veränderungen in ihrer inneren Struktur. Bevor wir aber diese Frage behandeln, müssen wir uns darüber einigen, was wir unter dem Ausdruck „Weltwirtschaft“ verstehen wollen.

Die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens ist die Produktion von materiellen Gütern. In der modernen Gesellschaft, die nicht einfach Produkte, sondern Waren erzeugt, d.h. Produkte, die für den Austausch bestimmt sind, ist der Prozeß des Austausches der verschiedenartigen Produkte ein Ausdruck der Arbeitsteilung unter den wirtschaftlichen Einheiten, die diese Waren erzeugen. Eine solche Teilung der Arbeit nennt Marx, im Gegensatz zu der Arbeitsteilung innerhalb des Einzelbetriebs, die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Selbstverständlich kann die gesellschaftliche Arbeitsteilung verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel die Teilung der Arbeit unter den verschiedenen Unternehmungen innerhalb eines Landes oder die Teilung der Arbeit unter den verschiedenen Produktionszweigen; oder aber die Teilung der Arbeit unter solchen großen Unterabteilungen der gesamten Produktion, wie zum Beispiel Industrie und Landwirtschaft; oder zum Beispiel die Teilung der Arbeit unter Ländern, die besondere wirtschaftliche Systeme innerhalb des allgemeinen Systems verkörpern usw.

Man kann natürlich, je nach den verschiedenen Aufgaben, die sich die Forschung stellt, verschiedene Schemata und sehr viele Klassifizierungen der Formen geben. Wir müssen hier nur die Tatsache berücksichtigen, daß neben den anderen Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine Teilung der Arbeit unter den „nationalen“ Wirtschaften, unter den verschiedenen Ländern besteht, eine Arbeitsteilung, die über den Rahmen der „Volkswirtschaft“ hinausgeht, eine internationa1e Arbeitsteilung.

Die internationale Arbeitsteilung hat zweierlei Voraussetzungen: erstens natürliche Voraussetzungen, die sich aus der Verschiedenheit des natürlichen Milieus ergeben, in dem die verschiedenen „Produktionsorganismen“ leben; zweitens Voraussetzungen sozia1en Charakters, die der Verschiedenheit des kulturellen Niveaus, der wirtschaftlichen Struktur, der Entwicklungsstufe der Produktivkräfte entspringen.

Beginnen wir mit dem ersten.

Verschiedene Gemeinwesen finden verschiedene Produktionsmittel und verschiedene Lebensmittel in ihrer Naturumgebung vor. Ihre Produktionsweise, Lebensweise und Produkte sind daher verschieden. Es ist diese naturwüchsige Verschiedenheit, die bei dem Kontakt der Gemeinwesen den Austausch der wechselseitigen Produkte und daher die allmähliche Verwandlung dieser Produkte in Waren hervorruft. Der Austausch schafft nicht den Unterschied der Produktionssphären, sondern setzt die unterschiedenen in Beziehung und verwandelt sie so in mehr oder minder voneinander abhängige Zweige einer gesellschaftlichen Gesamtproduktion. [1]

Der Unterschied der Produktionssphären entsteht hier also auf der Grundlage der Verschiedenheit der natürlichen Produktionsbedingungen. Es ist nicht schwer, zahlreiche Beispiele für diese These zu finden. Nehmen wir z.B. die pflanzlichen Stoffe.

Kaffee kann nur unter bestimmten klimatischen Bedingungen erzeugt werden, und er wird hauptsächlich in Brasilien, teilweise in Mittelamerika und in viel geringerem Maße in Afrika (Abessinien, Britisch-Zentralafrika, Deutsch-Ostafrika) und Asien (Holländisch-Indien, Britisch-Indien, Arabien, Malakka) erzeugt. Kakao kann nur in tropischen Ländern erzeugt werden. Der Kautschuk, der eine sehr große Rolle in der modernen Produktion spielt, braucht gleichfalls bestimmte klimatische Bedingungen, und sein Erzeugungsgebiet beschränkt sich auf wenige Länder (Brasilien, Ecuador, Peru, Bolivien, Guyana usw.). Die Baumwolle, die unter allen Textilrohstoffen die größte Bedeutung im Wirtschaftsleben hat, wird in den Vereinigten Staaten, in Britisch-Indien, Ägypten, China, Kleinasien und den russischen Besitzungen in Mittelasien erzeugt. Die Jute, die an zweiter Stelle steht, kommt fast ausschließlich aus einem Lande, und zwar aus Britisch-Indien usw. Wenn wir die Erzeugung von mineralischen Stoffen nehmen, so haben wir dasselbe Bild, da es sich hier in einem gewissen Maße um die „natürlichen Bodenschätze“ der betreffenden Länder handelt. Kohle wird z.B. aus den Ländern ausgeführt, in denen reiche Kohlenlager vorhanden sind (England, Deutschland, Vereinigte Staaten, Österreich usw.); Petroleum wird dort erzeugt, wo Erdölquellen vorhanden sind (Vereinigte Staaten, Kaukasus, Holländisch-Indien, Rumänien, Galizien); Eisenerz wird in Spanien, Schweden, Frankreich, Algerien, Neufundland, Kuba usw. gewonnen, Manganerz kommt hauptsächlich aus dem Kaukasus und Südrußland, aus Britisch-Indien und Brasilien; Kupfererze finden wir hauptsächlich in Spanien, Japan, Britisch-Südafrika und Deutsch-Südwestafrika, Australien, Kanada, den Vereinigten Staaten, Mexiko, Chile und Bolivien.

So wichtig aber die natürlichen Verschiedenheiten der Produktionsbedingungen sind, so treten sie doch im Vergleich zu den Verschiedenheiten, die durch das ungleichmäßige Wachstum der Produktivkräfte in den verschiedenen Ländern hervorgerufen werden, immer mehr in den Hintergrund.

Es ist aber nachdrücklich zu betonen, daß wie für die Produktionsverhältnisse so für Handel und Verkehr die Naturverhä1tnisse nur re1ative Bedeutung haben, daß heißt, ihre negative oder positive Wichtigkeit ist zum großen Teil abhängig von der Kulturstufe des Menschen. Während die Naturverhältnisse auf der Erde (mit menschlichem Zeit- und Raummaß gemessen) als unveränderlich betrachtet werden können, ist die Kulturstufe ein veränderliches Ding, und so große Unterschiede in der natürlichen Ausstattung der Länder für Produktion und Verkehr gefunden werden, die kulturellen sind ebenso groß, und die Durchkreuzung beider Faktoren fördert erst die Tatsachen des Wirtschaftslebens zutage. [2]

Kohlenlager können z.B. „totes Kapital“ sein, wenn die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu ihrer Erschließung fehlen; andererseits verlieren Berge, die früher ein Verkehrshindernis darstellten, Sümpfe, die die Produktion erschwerten usw., bei einer hochentwickelten Technik ihre negative Bedeutung (Tunnels, Trockenlegungsarbeiten usw.). Aber noch wichtiger ist für uns der Umstand, daß die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Produktivkräfte verschiedene wirtschaftliche Typen und verschiedene Produktionssphären hervorbringt und auf diese Weise die internationale Arbeitsteilung auf sozialer Grundlage ausdehnt. Wir denken hier an die Verschiedenheit zwischen Industrieländern, die Produkte der Landwirtschaft einführen und Fabrikerzeugnisse ausführen, und Agrarländern, die Produkte der Landwirtschaft ausführen und Industrieprodukte einführen.

Die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit ist die Scheidung von Stadt und Land. Man kann sagen, daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft in der Bewegung dieses Gegensatzes resümiert ... [3]

Die Verschiedenheit zwischen „Stadt“ und „Land“ und die „Bewegung dieses Gegensatzes“, die früher innerhalb der Grenzen eines Landes erfolgte, wird jetzt auf einer gewaltig erweiterten Stufenleiter reproduziert. Von diesem Standpunkt erscheinen bereits ganze Länder und zwar die Industrieländer als „Stadt“, während die agrarischen Gebiete das „Land“ darstellen. Die internationale Arbeitsteilung fällt hier mit der Teilung der Arbeit unter den beiden größten Zweigen der gesellschaftlichen Gesamtproduktion, unter Industrie und Landwirtschaft zusammen und ist somit eine sogenannte „Teilung der Arbeit im allgemeinen“ [4]. Es ist leicht, sich davon zu überzeugen, wenn man die Wechselbeziehungen zwischen den Standorten der Produktion von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen untersucht.

Weizen wird hauptsächlich in Kanada, den agrarischen Gebieten der Vereinigten Staaten, Argentinien, Australien und Vorderindien, Rußland, Rumänien, Bulgarien, Serbien und Ungarn erzeugt. Roggen wird hauptsächlich aus Rußland ausgeführt. Fleisch wird von Australien und Neuseeland, den Vereinigten Staaten (den agrarischen Gebieten), Kanada (besonders bedeutende Fleischerzeugung), Argentinien, Dänemark und Holland geliefert. Lebendes Vieh aus den Agrarländern Europas in die Industrieländer eingeführt. Die Mittelpunkte der europäischen Erzeugung sind: Ungarn, Holland, Dänemark, Spanien, Portugal, Rußland und die Balkanländer. Holz wird von Schweden, Finnland, Norwegen, Nordrußland, teilweise auch von einigen Gebieten des früheren Österreich-Ungarn geliefert; auch die Einfuhr aus Kanada beginnt zu steigen.

Wenn wir jetzt die Länder ausscheiden, die Fabrikerzeugnisse ausführen, so sind dies die entwickeltsten Industrieländer der Welt. Baumwollerzeugnisse werden hauptsächlich durch Großbritannien auf den Markt gebracht; dann kommen: Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien usw.; und von den überseeischen Ländern die Vereinigten Staaten. Wollwaren werden für den Weltmarkt von Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Belgien usw. produziert. Eisen- und Stah1erzeugnisse werden hauptsächlich in Großbritannien, Deutschland, den Vereinigten Staaten hergestellt, das heißt in den Ländern, die die höchste Stufe der Industrialisierung erreicht haben. An zweiter Stelle steht folgende Ländergruppe: Belgien, Frankreich, Österreich, Ungarn. Chemische Fabrikate werden in Deutschland erzeugt, das an erster Stelle steht, dann folgen England, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Belgien und die Schweiz. [5]

Es besteht somit eine eigentümliche Verteilung der Produktivkräfte des Weltkapitalismus. Die beiden größten Unterabteilungen der gesellschaftlichen Arbeit sind durch eine Linie getrennt, die die Grenze von zwei Ländertypen bildet; die gesellschaftliche Arbeit erweist sich als international geteilt.

Die internationale Arbeitsteilung findet ihren Ausdruck im internationalen Austausch.

Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte, und vermittels derselben die Produzenten versetzt. [6]

Die internationale gesellschaftliche Gesamtarbeit ist unter die Länder verteilt; die Arbeit jedes einzelnen Landes wird auf dem Wege des Austausches, der in internationalem Ausmaß erfolgt, zum Teil dieser gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Diese Verbundenheit der Länder im Prozeß des Austausches hat keineswegs den Charakter einfacher Zufälligkeit; sie ist bereits zu einer notwendigen Bedingung der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung geworden, und der internationale Austausch hat sich in einen gesetzmäßigen Prozeß des sozialökonomischen Lebens verwandelt. Dieses würde in eine vollständige Auflösung geraten, wenn plötzlich Amerika und Australien aufhörten, ihren Weizen und ihr Vieh zu exportieren, England und Belgien ihre Kohle, Rußland sein Getreide und seine Rohstoffe, Deutschland seine Maschinen und die Produkte seiner chemischen Industrie, Indien, Ägypten und die Vereinigten Staaten ihre Baumwolle usw. Und umgekehrt, die Länder, die landwirtschaftliche Erzeugnisse ausführen, wären ebenso zum Zusammenbruch verurteilt, wenn sich ihnen plötzlich die Absatzmärkte verschließen sollten. Dies ist insbesondere für die Länder mit sogenannten „Monokulturen“ klar, die fast ausschließlich ein Produkt ausführen (wie z.B. Brasilien – Kaffee, Ägypten – Baumwolle usw.). In welchem Maße der internationale Austausch jetzt für den normalen Verlauf des Wirtschaftslebens notwendig geworden ist, geht aus folgenden Beispielen hervor: England führte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nur 2,5 Prozent seines Getreidebedarfs aus dem Auslande ein; jetzt würden etwa 50 Prozent des Getreidebedarfs (der Bedarf an Weizen sogar zu 80 Prozent), der Fleischkonsum zu zirka 50 Prozent, der Butterkonsum zu 70 Prozent, der Käsekonsum zu 50 Prozent usw. im Ausland gedeckt. [7]

Nach Berechnungen von Lexis hat der auswärtige Markt für die belgischen Fabrikate dieselbe Bedeutung, wie der innere; in England nimmt der innere Markt kaum die doppelte Anzahl von Fabrikwaren, Metallen und Kohle auf, wie die Ausfuhr beträgt; in Deutschland hat der innere Markt eine 4- bis 4,5mal so große Bedeutung, wie der auswärtige. [8]

Nach Ballod führen ein. England dreiviertel bis vier Fünftel seines Weizenbedarfs und 40-50 Prozent seines Fleischbedarfs; Deutschland etwa 24-30 Prozent des Getreidebedarfs, etwa 60 Prozent seines Bedarfs an Futtermitteln und 5-10 Prozent seines Fleischbedarfs. [9]

Derartige Beispiele könnte man in beliebiger Anzahl anführen. Eines geht daraus klar hervor. Im Prozeß des Austausches sind regelmäßige Marktbeziehungen unter einer zahllosen Menge von Einzelwirtschaften vorhanden, die auf die geographisch verschiedensten Punkte verstreut sind. Somit setzen die internationale Arbeitsteilung und der internationale Austausch das Vorhandensein eines Weltmarktes und von Weltpreisen voraus. Die Höhe der Preise wird jetzt, allgemein gesprochen, nicht nur durch die Produktionskosten bestimmt, die der betreffenden lokalen oder nationalen Produktion eigentümlich sind. Diese nationalen und lokalen Besonderheiten werden in einem ganz bedeutenden Maße in der allgemeinen Resultante der Weltpreise ausgeglichen; diese Weltpreise üben ihrerseits einen Druck auf die einzelnen Produzenten, die einzelnen Länder, die einzelnen Gebiete aus. Diese Erscheinung wird besonders augenfällig, wen wir solche Waren nehmen wie Kohle und Eisen, Weizen und Baumwolle, Kaffee und Wolle, Fleisch und Zucker usw. Nehmen wir z.B. die Getreideerzeugung. Die Produktionsbedingungen sind hier äußerst verschiedenartig, die Preisunterschiede aber sind bei weitem nicht so groß.

In der Periode von 1901-1908 betrug der Preis für 1.000 Kilo gram (in Mark): [10]

Märkte

Roggen

Weizen

Gerste

Wien

146,00

168,00

149,00

Paris

132,00

183,00

London

139,00

138,00

New York

141,00

Deutschland

155,00

183,00

163,00

Die Bedingungen der Weizenerzeugung sind in England und Amerika äußerst verschieden, nichtsdestoweniger war aber der Weizenpreis auf dem Londoner und dem New Yorker Markt fast derselbe (139 und 141 Mark pro Tonne); denn nach England und nach Westeuropa überhaupt ergießt sich über den Atlantischen Ozean ständig der gewaltige Strom der amerikanischen Weizenausfuhr.

Besonders klar ist die Bewegung und Bildung dieser Weltpreise auf den Warenbörsen der größten Städte der Welt, London, New York und Berlin zu beobachten. Hier werden die Veränderungen der Weltpreise täglich registriert. Hier laufen die Nachrichten aus allen Gegenden der Erde zusammen, hier werden somit Weltnachfrage und Weltangebot berücksichtigt.

Der internationale Warenaustausch beruht auf der internationalen Arbeitsteilung. Man soll aber nicht glauben, daß er lediglich in den Grenzen erfolgt, die durch diese Arbeitsteilung gegeben sind. Die Länder tauschen nicht nur verschiedenartige, sondern auch gleichartige Produkte aus. Das Land A kann z.B. nach dem Land B nicht nur Produkte ausführen, die in diesem Lande nicht oder nur in außerordentlich geringen Mengen produziert werden; es kann dort auch seine Waren einführen, indem es mit der ausländischen Produktion konkurriert. In diesem Falle beruht der internationale Austausch nicht auf der Arbeitsteilung, die die Produktion verschiedenartiger Gebrauchswerte voraussetzt, sondern ausschließlich auf dem Unterschied in den Produktionskosten, auf dem Unterschied der individuellen Werte (zwischen den einzelnen Ländern), die im internationalen Austausch auf die gesellschaftlich notwendige Arbeit in ihrem Weltumfange reduziert werden. [11]

Wie nahe sich die verschiedenen Länder im Prozeß des Warenaustausches gekommen sind, zeigen die Ersparnisse an Zahlungsmitteln, das heißt die Ersparnisse bei Goldsendungen.

Wenn wir einerseits die Goldausfuhr und –einfuhr eines Landes, andererseits seine Wareneinfuhr und –ausfuhr zusammenlegen, dann zeigt es sich, daß die Masse der Goldsendungen ihrem Werte nach fast niemals 5 Prozent des Wertes der Warensendung erreicht. Dabei muß bemerkt werden, daß die Handelsbilanz nur ein Teil der Zahlungsbilanz des Landes ist. [12]

Ähnlich wie in der Sphäre der Warenzirkulation ein Warenweltmarkt entsteht, kann auch von einem Weltmarkt für Geldkapital gesprochen werden, es ist dies eine Erscheinung, die in der internationalen Ausgleichung der Höhe des Zins- und Diskontsatzes zum Ausdruck kommt. Somit trägt

...auch das finanzielle Moment die Tendenz in sich ... die Ersetzung der wirtschaftlichen Konjunktur eines Landes durch die „We1tkonjunktur“ zu befördern. [13]

Am Beispiel des Warenmarktes sehen wir, daß hinter den Marktverhältnissen Produktionsverhältnisse verborgen sind. Jede Verbindung der Produzenten im Austauschprozeß setzt voraus, daß die Privatarbeiten dieser Produzenten bereits zu Bestandteilen der Gesamtarbeit der Gesellschaft geworden sind. Hinter dem Austausch verbirgt sich also die Produktion, hinter den Austauschverhältnissen die Produktionsverhältnisse, hinter den Verhältnissen der Sachen, der Waren die Verhältnisse der Personen, die sie produzieren. Wenn die Verbindung im Austauschverkehr keinen zufälligen Charakter trägt, dann haben wir es mit einem festen System von Produktionsverhältnissen zu tun, das die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft von bestimmter Ausdehnung darstellt. Wir können deshalb die Weltwirtschaft als ein System von Produktionsverhältnissen und entsprechenden Austauschverhältnissen im internationalen Ausmaß definieren. Man soll jedoch nicht annehmen, daß diese Produktionsverhältnisse lediglich im Prozeß des Warenaustausches hergestellt werden. „... sobald die Menschen in irgendeiner Weise für einander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form“ [14], mit anderen Worten, in welcher Form, ob direkt oder indirekt, die Verbindung der Produzenten auch hergestellt sein mag, – wir können, sobald diese Verbindung hergestellt ist und einen dauernden Charakter angenommen hat, von der Schaffung eines Systems von Produktionsverhältnissen, d.h. vom Wachstum (oder der Bildung) einer Sozialwirtschaft sprechen. Der Warenaustausch ist deshalb eine der primitivsten Ausdrucksformen der Produktionsverhältnisse. Das moderne, äußerst komplizierte Wirtschaftsleben kennt sehr verschiedenartige Formen, hinter denen sich diese verbergen. Wenn z.B. an der Berliner Effektenbörse Aktien eines amerikanischen Unternehmens aufgekauft werden, so wird dadurch ein Produktionsverhältnis zwischen deutschen Kapitalisten und amerikanischen Arbeitern geschaffen; wenn eine russische Stadt bei Londoner Kapitalisten eine Anleihe aufnimmt und sie verzinst, so ergibt sich folgendes: ein Teil des Mehrwerts, der das Verhältnis zwischen englischen Arbeitern und englischen Kapitalisten ausdrückt, geht in die Hände der Selbstverwaltung der russischen Stadt über, die einen Teil des Mehrwerts, den die Bourgeoisie dieser Stadt erhält und der ein Produktionsverhältnis zwischen russischen Arbeitern und russischen Kapitalisten ausdrückt, in Form von Zinsen zahlt; auf diese Weise wird ein Verhältnis sowohl zwischen den Arbeitern als auch zwischen den Kapitalisten der beiden Länder hergestellt. Eine besonders große Rolle spielt die bereits von uns erwähnte Bewegung des Geldkapitals, die immer größeren Umfang annimmt. Man kann noch eine ganze Reihe von Formen wirtschaftlicher Verbindungen anführen: die Auswanderung und Einwanderung als Übertragung von Arbeitskräften; die Überweisung eines Teiles des Arbeitslohnes der ausgewanderten Arbeiter (Geldsendungen in die Heimat), die Gründung von Unternehmungen im Auslande und die Übertragung des gewonnenen Mehrwerts, die Gewinne der Schiffahrtsgesellschaften usw. Wir werden darauf noch zurückkommen. Hier wollen wir nur bemerken, daß die „Weltwirtschaft“ alle diese wirtschaftlichen Erscheinungen, die letzten Endes auf den Verhältnissen der Menschen im Produktionsprozeß beruhen, in sich schließt. Im großen und ganzen läuft der gesamte Prozeß der modernen Weltwirtschaft auf die Produktion von Mehrwert und seine Verteilung unter die verschiedenen Gruppen und Untergruppen der Bourgeoisie hinaus; dies spielt sich auf der Grundlage der sich beständig erweiternden Reproduktion der Verhältnisse zwischen zwei Klassen, dem Weltproletariat einerseits und der Weltbourgeoisie andererseits, ab.

Die Weltwirtschaft ist eine der Arten der Sozialwirtschaft überhaupt. Unter Sozialwirtschaft versteht die ökonomische Wissenschaft aber vor allem ein System von individuellen Wirtschaften, die miteinander durch den Austausch verbunden sind. Von diesem Standpunkt ist es ganz klar, daß die Sozialwirtschaft keineswegs ein „wirtschaftliches Subjekt“ voraussetzt, das die Gesamtheit der wirtschaftlichen Verhältnisse leitet. Die politische Ökonomie untersucht in erster Linie nicht die Wirtschaft als planmäßige „teleologische Einheit“, die „wirtschaftet“, sie betrachtet vor allem das unorganisierte System von Wirtschaften, in dem die wirtschaftlichen Gesetze elementare Gesetze des Marktes und der diesem Markte untergeordneten Produktion sind. Deshalb kann auch für den Begriff der Sozialwirtschaft im allgemeinen und den Begriff der Weltwirtschaft im besonderen keine wie auch immer geartete „Regulierung“ als bestimmendes und konstitutives Merkmal gelten.

Auf den Internationalen Markt, auf dem bis jetzt vollkommene Anarchie herrscht, weil er den Kriegsschauplatz der nationalen Interessen [d.h. der Interessen der „nationalen“ herrschenden Klassen. N.B.] abgibt. einen gemeinsamen regelnden Einfluß ausüben, ist den nationalen Wirtschaftsorganismen bis heute nicht in den Sinn gekommen. [15]

Deswegen hört aber die Weltwirtschaft nicht auf, eine Weltwirtschaft zu sein. [16]

 

 

Anmerkungen

1. K. Marx: Kapital, Bd.I, S.316. Bei den weiter unten angeführten Beispielen zählen wir nicht alle Länder auf, in denen das betreffende Produkt erzeugt wird, sondern nur die, aus denen exportiert wird.

2. Ernst Friedrich: Geographie des Welthandels und Weltverkehrs, Jena, Gust. Fischer, 1911, S.7.

3. K. Marx: Kapital, Bd.I, S.317.

4. Hat man nur die Arbeit selbst im Auge. so kann man die Trennung der gesellschaftlichen Produktion in ihre großen Gattungen. wie Agrikultur, Industrie usw. als Teilung der Arbeit im allgemeinen, die Sonderung dieser Produktionsgattungen in Arten und Unterarten als Teilung der Arbeit im besonderen, und die Teilung der Arbeit innerhalb einer Werkstatt als Teilung der Arbeit im einzelnen bezeichnet (Marx, Kapital, S.315).

5. Siehe E. Friedrich, a.a.O.

6. K. Marx: Kapital, Bd.I,, S.39.

7. Bernhard Harms: Volkswirtschaft und Weltwirtschaft. Versuch der Begründung einer Weltwirtschaftslehre. Jena, Gustav Fischer, 1912, S.176.

8. H. Sieveking: Außenhandelspolitik.

9. C. Ballod: Grundriß der Statistik, S.118ff.

10. J. Conrad, Artikel „Getreidepreise“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl., Bd.IV, S.806.

11. Natürlich spielt der Unterschied in den Produktionskosten auch im ersten Falle eine Rolle. Aber er bringt hier die Tatsache der Produktion von verschiedenartigen Produkten zum Ausdruck; im zweiten Fall findet dies nicht statt.

12. Julius Wolf: Das internationale Zahlungswesen, Leipzig 1913, S.62. (in Veröffentlichungen des europäischen Wirtschaftsvereins in Deutschland, Heft XIV.)

13. Weill: Die Solidarität der Geldmärkte. Eine Studie über die Verschiedenheit der gleichzeitigen Diskontsätze verschiedener Länder, Frankfurt a.M. 1903, S.116.

14. K. Marx: a.a.O., S.38. Unterstreichungen von mir. N.B.

15. Paul Stähler: Der Giroverkehr, seine Entwicklung und internationale Ausgestaltung. Leipzig 1909, S.127.

16. Diese Bemerkung richtet sich gegen eine weit verbreitete irrige Auffassung von dem Wesen der Weltwirtschaft. So schlägt z.B. Calwer die Bezeichnung „Weltmarktwirtschaft“ vor. Nach Harms sind es lediglich die internationalen Verträge, die eine Anwendung der Bezeichnung „Weltwirtschaft“ auf die gegenwärtige Epoche gestatten. Nach Kobatsch (siehe von ihm La politique économique internationale, Paris, edition Giard et Brière, 1913) setzt die Weltwirtschaft unbedingt einen Weltstaat voraus. Übrigens setzt der Begriff der Weltwirtschaft eine Klassifizierung nach dem Umfang der wirtschaftlichen Beziehungen, nicht aber nach der Verschiedenheit der Produktionsweise voraus. Es ist deshalb ganz unsinnig, den Marxisten (wie das Harms tut) den Vorwurf zu machen, sie sähen nach der kapitalistischen Wirtschaft nur die sozialistische, nicht aber die Weltwirtschaft. Harms verwechselt hier einfach Klassifizierungen, die nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003