Max Adler

Dialektik oder Metaphysik

(1. November 1911)


Der Kampf, Jg. 5 2. Heft, 1. November 1911, S. 78–85.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Georg Plechanows Schrift über die Grundprobleme des Marxismus hat uns in einem früheren Aufsatz den Anlass gegeben, das Verhältnis des Marxismus zu Weltanschauungsfragen überhaupt und speziell zum Materialismus zu erörtern. [1] Wir gelangten zu dem Resultat, dass für den Marxismus als ein System der Sozialwissenschaft jeder sachliche Zusammenhang mit irgendeiner Weltanschauung abzulehnen sei, wie sehr auch persönliche Bestimmungsgründe bei diesem oder jenem Forscher mehr für die eine als für die andere Philosophie sprechen mögen. Damit war zugleich jeder systematische Zusammenhang des Marxismus mit dem Materialismus aufgehoben, selbst abgesehen von der Frage nach dem Geltungswert der materialistischen Weltanschauung. Bei dieser Auseinandersetzung war jedoch ein wesentliches Moment des Marxismus noch äusser acht geblieben: seine Dialektik. Von ihr behauptet Plechanow Seite 38 seiner vorerwähnten Schrift: „Zugrunde unserer Dialektik liegt die materialistische Auffassung der Natur. Sie stützt sich auf sie und würde fallen, wenn diese fällt.“ Damit wären wir vor ein übles Dilemma gestellt. Denn mit Plechanow bin auch ich der Meinung, die ich schon einmal in diesen Blättern ausführlicher zu begründen versucht habe [2], dass die Dialektik kein nebensächliches, nur aus dem historischen Entwicklungsgang von Marx und Engels herrührendes Beiwerk ihrer Lehre ist, sondern vielmehr zu den wesentlichen Grundelementen derselben gehört. Wenn daher der Plechanowsche Satz richtig ist, dass die Dialektik im Marxismus mit ihrer materialistischen Grundlage steht und fällt, dann wäre also hier doch der Punkt aufgezeigt, in welchem der Marxismus unausweichlich mit Weitanschauungsfragen zusammenstiesse und sogar an eine ganz bestimmte von ihnen gebunden wäre: eben an die materialistische.

Allein dies scheinbar für uns so vernichtende Dilemma besteht in Wirklichkeit gar nicht, wenn man nur genauer zusieht, welche Bedeutung der Dialektik überhaupt im Marxismus zukommt. Es ist hiebei wohl zu beachten, was zumeist übersehen wird, dass mit dem Worte „Dialektik" zwei ganz verschiedene Begriffe bezeichnet werden, deren Vermischung der eigentliche Grund für die Unklarheit ist, in welcher sich zumeist die Diskussion über die Dialektik bewegt. Einmal bedeutet nämlich Dialektik bloss eine Art des Denkens, nämlich die Beziehung aller festumgrenzten Denkinhalte auf dasjenige, wovon es durch diese Begrenzung unterschieden wird, auf seinen „Widerspruch“. Das Denken wird angehalten, darauf zu achten, jeden seiner scheinbar selbständigen und isolierten Inhalte im Zusammenhang damit zu denken, was aus diesem Inhalt ausgeschlossen wurde und ihm dadurch erst seine Bestimmung gab. Auf diese Weise wird die Starrheit der rein logischen Begriffe überwunden und eine durchgängige Verbindung der Denkinhalte bewirkt, die das Denken instand setzt, sich selbst als einen beständigen Fluss aller seiner Momente zu begreifen und dieser Bewegung des Denkens zu folgen. Die Dialektik in diesem Sinne ist also eine Methode. [3]

Weiters bezeichnet das Wort Dialektik aber auch eine Art des Seins, nämlich die im Weltganzen als schöpferische Potenz waltende Gegensätzlichkeit der einzelnen realen Bestimmtheiten derselben, den Widerstreit der Dinge als den Vater alles Geschehens. Insofern also mit der Dialektik eine Wesensbeschaffenheit des Seins selbst gemeint ist, ist Dialektik eine Metaphysik. [4]

Für Hegel war kein Grund vorhanden, diese beiden Bedeutungen des Wortes Dialektik zu scheiden, da bei ihm ja Denken und Sein zusammenfiel und die Dialektik als Methode für ihn zugleich der Weg war, der in die Entwicklung des Seins selbst hineinführte. Denn das Sein war ja nur eine Phänomenologie des Bewusstseins.

Es ist nun für das Missverständnis der Dialektik entscheidend geworden, dass auch für Marx und Engels kein Grund vorlag, diese Scheidung zu machen, da sie ja von ihrem positivistischen Realismus aus zu einem erkenntnistheoretisch ähnlichen, nur sachlich umgekehrten Identitätsstandpunkt gelangten wie Hegel. „Wir fassten“, sagt Friedrich Engels, „die Begriffe unseres Kopfes wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs. Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung sowohl der äusseren Welt wie des menschlichen Denkens, – zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewusstsein anwenden kann, während sie in der Natur und bis jetzt auch grossenteils in der Menschengeschichte sich in unbewusster Weise ... durchsetzen.“ [5] Die Welt erschien von diesem Standpunkt als ein durchaus einheitlicher Seinszusammenhang, in welchem das Denken nur ein Stück desselben darstellte, also völlig bestimmt durch dieses Sein und dessen Gesetzlichkeit, bloss geeignet, dieselbe zu erkennen und anzuwenden. So versteht man, wieso Engels sagen konnte, dass man durch das Bewusstsein der Gesetze des dialektischen Denkens der Erkenntnis der Naturgesetzlichkeit selbst entgegenkommen könne. [6] Denn die Dialektik im Denken war ihm ja nichts anderes als „der bewusste Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt“ und es konnte im Denken, das ja ein Stück des Naturganzen war, schliesslich nicht anders zugehen als in diesem Ganzen selbst.

Nichtsdestoweniger ist es sogar bei dem ungleich mehr als Marx zur Metaphysik neigenden Engels klar, dass ihm die Dialektik wesentlich als Methode in Betracht kam. Er selbst hat bereits in seiner Schrift über Feuerbach auf den Unterschied von System und Methode in der Hegelscnen Philosophie aufmerksam gemacht (A. a. O., Seite 9) und hat wiederholt ausgeführt, wie es die dialektische Methode Hegels war, die revolutionäre Seite seines Denkens, die aus seiner im übrigen abseits gelassenen Philosophie durch Marx und ihn „hinübergerettet“ wurde in ihre neue Denkweise. Dass diese Methode zugleich auch eine dem metaphysischen Standpunkt Engels’ genügende Weltanschauung zu ermöglichen schien, war nur ein Grund mehr, an ihr festzuhalten, trägt aber gar nichts zu ihrer Begründung selbst bei. Denn dass der Denkprozess dialektisch sei, weil das Sein der Dinge selbst dialektisch wäre, ist ersichtlich keine dialektische Behauptung mehr, sondern eine metaphysische. Wohl aber wäre selbst diese Behauptung ohne eine Dialektik des Denkens nicht möglich gewesen. Es ist also die Dialektik als Methode, als Auffassungsart, welche erst an die Stelle einer starren Metaphysik des Seins eine fliessende setzen konnte; und dies um so mehr, als ja bei Marx und Engels die eigentliche metaphysische Grundstimmung des Materialismus niemals voll ausklingen konnte, da es ihnen nicht um Welterkenntnis, sondern um positive Wissenschaft zu tun war, und alles was darüber hinausführte, ihrem theoretischen Interesse sich entzog. So konzentriert-sich alle Bedeutung und Fruchtbarkeit der Dialektik in ihre methodologische Seite: in die grossartige Zerlegung der uns als fertige Resultate entgegentretenden festen Tatbestände der Natur und Geschichte in ihre Werdeprozesse und in die Einordnung aller scheinbar isolierten Objekte des Erkennens in die ihnen eigenen, nicht willkürlich aus dem Kopf erdichteten Zusammenhänge. Die Dialektik bei Marx und Engels ist wesentlich eine Denk- und Untersuchungsweise, wie Engels selbst trefflich schildert, indem er von ihrer Anwendung sagt: „Geht man bei der Untersuchung stets von diesem (das ist dialektischen) Gesichtspunkt aus, so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewusst, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde; aber man lässt sich auch nicht mehr imponieren durch die der noch stets landläufigen alten Metaphysik unüberwindlichen Gegensätze von wahr und falsch, gut und schlecht, identisch und verschieden, notwendig und zufällig; man weiss, dass diese Gegensätze nur relative Gültigkeit haben, dass das jetzt für wahr Erkannte seine verborgene, später hervortretende falsche Seite ebensogut hat, wie das jetzt als falsch Erkannte seine wahre Seite, kraft deren es früher für wahr gelten konnte; dass das behauptete Notwendige sich aus lauter Zufälligkeiten zusammensetzt und das angeblich Zufällige die Form ist, hinter der die Notwendigkeit sich birgt – und so weiter.“ [7]

Hält man sich diese rein methodologische Bedeutung der Dialektik stets vor Augen, dann bereiten die Ausdrücke, in denen Marx und Engels von den materialistischen Grundlagen sprechen, die sie dieser Denkmethode an Stelle ihrer spekulativen Begründung gegeben haben, keine Schwierigkeiten mehr für eine konsequente, metaphysikfreie Handhabung derselben, wie sie allein als Bestandteil einer wissenschaftlichen Auffassung möglich ist. Das „Auf-die-Füsse-Stellen“ der Dialektik, ihre materialistische Grundlegung sind dann, wie ich schon öfters dargelegt habe, nur Ausdrücke für ihre Zurückführung aus einer spekulativen Form in eine empirische, aus einer metaphysischen Denkweise in eine induktive Untersuchungs- und Arbeitsmethode. Und dies unbeschadet ihrer bei Marx und insbesondere Engels sicher weitergehenden und, wie wir sehen, auch zu einem metaphysischen Idealitätsstandpunkt führenden Bedeutung. Denn bei einer Würdigung des theoretischen Wesens der Dialektik kann es natürlich nicht darauf ankommen, den ganzen historisch-psychologischen Meinungskomplex ebenso ungesondert zu übernehmen, in welchem für Marx und Engels sich die Bedeutung der Dialektik herausgestaltete. Dieser rein persönliche Entwicklungsprozess musste nicht nur die Spuren seiner Losringung aus der Hegelschen Metaphysik, sondern namentlich auch den Mangel der erkenntniskritischen Problemstellung in dem Denken jener Zeit an sich tragen. Demgegenüber ist es nötig, aber auch genügend, zu erkennen,, dass bei einer Scheidung des metaphysischen und methodologischen Moments in der Dialektik das ganze Gewicht des schöpferischen, also sachlich wirksamen Gedankens des Marxismus auf die methodologische Seite der Dialektik fällt. Und das gilt insbesondere, wie sich gleich zeigen wird, auch von dem berühmten Leitmotiv des Marxschen Denkens: das Sein bestimmt das Denken und nicht umgekehrt.

Auch Plechanow betont die methodologische Bedeutung der Dialektik (Seite 28). Aber indem er sie, wie wir schon anfangs hervorhoben, in die innigste sachliche Verbindung mit der materialistischen Auffassung der Natur bringt, muss ihm dieser methodologische Charakter sofort wieder unter den Händen zerfliessen, und es scheint nichts übrig zu bleiben als eine neue Metaphysik, in welcher die Dinge selbst die Rolle übernommen haben, jpne spukhafte Bewegung zu erzeugen, die früher der absolute Geist bei Hegel besorgte. Die Dialektik, deren Rettung aus der Hegelschen Mystifikation eben noch freudig begrüsst wurde, wird sofort in starrer Festhaltung an den namentlich bei Engels zu findenden metaphysischen Ansätzen neuerdings verabsolutiert. Und so wird aus dem, was bei Engels und bei Marx bloss persönlicher Standpunkt war, der natürlich mit ihrem theoretischen Denken für sie notwendig verbunden war, ja bei dem Fehlen eines eigentlich erkenntniskritischen Standpunktes in der gesamten philosophischen Zeitlage sein musste, ein sachlicher Zusammenhang gemacht, der zwar zur Grundlage, aber nicht mehr zur Entschuldigung, auch nur diesen Mangel des erkenntniskritischen Gesichtspunktes hat.

Die Verabsolutierung der Dialektik wird eingeleitet durch die Verabsolutierung des Satzes, wonach das Denken vom Sein bestimmt wird und nicht umgekehrt. Was diesen Satz bei Marx und Engels zu so grosser, ihre ganze theoretische Leistung tragenden Bedeutung hat kommen lassen, wird man vergeblich in seiner metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Bedeutung suchen. Dagegen quillt aus seiner immanenten, das heisst innerhalb der empirischen Sphäre verbleibenden und auf alle Weltanschauungsoder erkenntniskritische Fragen verzichtenden Anwendung das reichste Leben aus ihm. In der Art, wie er bei Marx und Engels nicht als blosse These für eine Weltauffassung, sondern als Forschungsprinzip zur Untersuchung des sozialen Lebens auftritt, ist er zum Ausgangspunkt grundlegender Erkenntnis der sozialen Gesetzlichkeit geworden, so dass von ihm aus erst eine Sozialwissenschaft möglich wurde, die auf diesen Namen wirklich Anspruch machen kann. In der materialistischen Geschichtsauffassung erfährt er seine systematische sozialtheoretische Ausführung und bildet durch sie nicht nur die Grundlage des Marxismus, sondern, wie Plechanow in der vorliegenden Schrift an schönen Beispielen zeigt, immer mehr der modernen Arbeit auf den verschiedensten Gebieten der Geisteswissenschaften.

Sobald aber dieser Satz von der Bestimmung des Denkens durch das Sein über seine Bedeutung als Forschungsmaxime hinaus als eine erkenntnistheoretische Wahrheit oder gar als eine wissenschaftliche Erkenntnis von der Beschaffenheit der Natur selbst und des Verhältnisses von Denken und Sein in ihr aufgefasst wird, verwandelt sich die schöpferische Kraft dieses Gedankens in eine unkritische Anschauung von heute geradezu archaistischer noologischer Naivetät. Er stellt dann einfach eine dogmatisch-metaphysische Behauptung dar, der andere derartige Sätze vielleicht mit mehr, vielleicht mit weniger Recht entgegengestellt werden könnten. Jedenfalls aber wird er der Springquell aller Unklarheiten und endlosen Streitigkeiten, die aus einer solchen Verquickung einer metaphysischen Grundanschauung mit einem rein methodologischen Standpunkt hervorgehen müssen. Freilich ist diese Verquickung, diese Aequivokation, grundverschiedener Bedeutungen die einzige und noch dazu scheinbar selbstverständliche Möglichkeit, aus dem wissenschaftlichen System des Marxismus einen Materialismus zu machen. Denn da der Satz von der Bestimmung des Denkens durch das Sein sowohl in seinem methodologischen als in seinem metaphysischen Sinne dieselbe Wortform hat, so können nur zu leicht die Folgerungen aus dem letzteren Sinn auch für Konsequenzen des ersteren gelten, und damit ist der ganze Jammer fertig: der alte Jammer aller philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion, die an den Worten ihrer Begriffe mehr hängt als an diesen selbst.

Für Plechanow bedeutet nun der Satz von der Bestimmung des Denkens durch das Sein tatsächlich eine inhaltliche und nicht bloss eine methodologische Grundwahrheit, und darin sieht er eben die materialistische Grundlegung der Dialektik. „Nach unserer materialistischen Lehre“, sagt Plechanow, das Wort „materialistisch“ selbst unterstreichend, „stellen die Gegensätze, die in den Begriffen enthalten sind, nur eine Widerspiegelung, eine Uebertragung in die Sprache des Denkens der Gegensätze dar, die in den Erscheinungen infolge ihrer allgemeinen widerspruchsvollen Grundlage vorhanden sind, das heisst infolge der Bewegung. Nach Hegel wird der Gang der Dinge durch den Gang der Ideen bestimmt. Unserer Ansicht nach bestimmt umgekehrt der Gang der Dinge den Gang der Ideen, der Gang des Lebens den Gang des Gedankens.“ (Seite 38.) Wie diese Bewegung, dieser Gang der Dinge und des Lebens zu verstehen ist, kann nicht im geringsten in Zweifel bleiben, wenn wir von Plechanow selbst hören, dass jene Bewegung gemeint ist, „durch die der Zustand der Materie und alle ihre Verbindungen hervorgerufen werden“. (Seite 38.) Es handelt sich um die Bewegung als Urgrund alles Seins und Geschehens, also um ein echtes Prinzip im Sinne der aristotelischen Metaphysik, um eine jener ἀρχαὶ um die alles metaphysische Denken von Anbeginn her bemüht ist. Wie sehr nun diese Urbewegung wirklich die Grundlage der Dialektik bei Plechanow ist, womit sie freilich unbezweifelhaft materialistisch wird, nur dass nicht zu sehen ist, was der Marxismus als soziale Theorie damit zu schaffen haben soll, wird uns Plechanow gleich selbst zeigen.

Die nächste Folge aus der Verabsolutierung des Seins in eine Urbewegung der Materie für die Dialektik ist nämlich die: Da die Dialektik eine materialistische Grundlage haben muss, soll nun von ihr der Nachweis erbracht werden, dass sie eine Eigenschaft des Seins selbst ist. Damit ist freilich nun die letzte Spur eines bloss methodologischen Sinnes der Dialektik überwunden, aber damit zugleich auch sie selbst in den Strudel der Urbewegung hineingerissen, in dem sie sich nur zu halten vermag, wenn sie alles theoretische Gepäck von sich wirft, um sich als leere Spekulation zwar immer noch mühsam, aber doch zur Not über Wasser zu halten und treiben zu lassen, wohin eben der Strom der Metaphysik sie führt. So geraten wir aus der Szylla in die Charybdis. Um die Dialektik gegen jene Kritiker des Marxismus zu verteidigen, die sie eben nur in ihrer metaphysischen Verquickung sehen und daher als überflüssig, ja schädlich bekämpften, unternimmt Plechanow es, das dem Marxismus ganz heterogene, jedenfalls aber für ihn als Sozialtheorie ganz nebensächliche Problem zu lösen, ob – das „Sein“ selbst dialektisch ist oder nicht.

Für Plechanow gilt es also aufzuzeigen, dass es die dialektischen Eigenschaften des Seins sind, welche das dialektische Denken tragen. (Seite 31.) Wir wissen bereits, dass er sich hiebei auf Engels berufen konnte, dass aber durch diese Berufung für jede wissenschaftliche Arbeit, die nur nach sachlichen, nicht nach persönlichen Zusammenhängen sucht, natürlich noch gar nichts bewiesen ist. Würden wir die Denkbegriffe des Marxismus nur so gebrauchen wollen, wie sie sich schriftmässig in den Werken von Marx und Engels finden oder im persönlichen Denkzusammenhange ihrer Urheber waren, so würde uns der Vorwurf einer rein philologischen Arbeit mit Recht gemacht werden können. Diese scholastische, von Plechanow gegenüber den Neukantianern mit Unrecht gerügte Denkweise soll jedenfalls den Marxismus nicht zur unfruchtbaren Textinterpretation entarten lassen. Wir wissen also sehr wohl, dass Engels ähnlich wie Plechanow die Dialektik des Denkens durch die des Seins bestätigt sah, was uns aber trotzdem nicht Grund genug erscheint, diese Anschauung ungeprüft zu lassen – wenn man von ihr behauptet, ohne sie sei die Dialektik im Marxismus unmöglich. Denn diese Verteidigung gefährdet mit der Dialektik den metaphysikfreien Charakter des Marxismus als Sozialtheorie. Und dass dieser zum Wesentlichen im Marxismus gehört, darüber besteht wohl eigentlich kein Streit.

Der Nachweis der dialektischen Eigenschaften des Seins wird in der Weise zu erbringen versucht, dass Plechanow sich bemüht, zu zeigen, wie die Natur durch das logische, rein verstandesmässige Denken überhaupt nicht widerspruchslos begriffen werden kann, dass also die logischen Gesetze des Denkens, der Satz der Identität, des Widerspruches und des ausgeschlossenen Dritten gegenüber der vollen Realität der Naturerscheinungen versagen. Um dies recht deutlich zu erkennen, wählt Plechanow den für ihn als Materialisten kürzesten Weg. Statt nämlich den dialektischen Charakter in den zahllosen Erscheinungen des Seins mühsam und natürlich ohne Aussicht auf Vollständigkeit zu verfolgen, fasst er diese Mannigfaltigkeit des Seins lieber gleich in ihrem, dem Materialisten zugänglichen Wesenskerne. Denn was ist der Urgrund alles Geschehens? Die Bewegung. „Die Bewegung der Materie“, sagt Plechanow, „bildet die Grundlage aller Naturerscheinungen. Was ist denn aber Bewegung? Sie ist ein augenscheinlicher Widerspruch. Denn an welchem Orte befindet sich ein sich bewegender Körper in einem bestimmten Zeitmoment? Darauf lässt sich ... nach der Formel von ,ja, ja und nein, nein‘ beim besten Willen nicht antworten. Ein sich bewegender Körper ist in einem und demselben Zeitmoment an einem Orte und zugleich auch nicht in ihm ... Die Bewegung lässt sich also nur nach der Formel ‚ja, nein und nein, ja‘ begreifen und dient somit als unanfechtbarer Beweis zugunsten der ‚Logik des Widerspruches‘.“ (Seite 33.)

Dies ist also der einfachste und nach Plechanows Meinung entscheidende Beweis dafür, dass die Dialektik eine Beschaffenheit der Natur selbst darstellt. Und in der Tat muss für jeden, der in der Bewegung der Materie eine Grunderkenntnis von dem Wesen der Dinge selbst erblickt, der also auf metaphysischem Boden steht, diese Beweisführung etwas Ueberzeugendes haben. Indes wird sogar ein Metaphysiker, wenn er nicht gerade Anhänger der mechanischen Naturerklärung ist, sondern beispielsweise Energetiker, mit Recht einwenden, dass die Plechanowsche Lehre von der Bewegung als Grundlage aller Naturerscheinungen doch nur eine blosse, heute überdies schon sehr bestrittene Arbeitshypothese der Naturwissenschaft, nämlich die mechanische Naturauffassung, zu einer Naturbeschaffenheit selbst erhebe. Dass die Vorstellungen von Molekular-und Aetherbewegungen, durch welche allein „die Bewegung“ Grundlage aller Erscheinungen werden kann, doch nur Denkmittel für uns sind, um die Erscheinungen der Natur theoretisch zu beherrschen, wird innerhalb der modernen Naturwissenschaft eine immer selbstverständlichere Anschauung, bleibt aber bei Plechanow ganz äusser Betracht. Und es kann nicht eingewendet werden, dass die Vorstellungen einer Molekular-und Aetherbewegung ungeachtet ihres Charakters als Denkmittel doch gleichzeitig die reale Beschaffenheit der Erscheinungen auszudrücken vermöchten. Denn die Tatsache, dass nach der Ansicht der Anhänger Ostwalds dieser reale Charakter sich besser als Energetik und nach der Ansicht der Anhänger Machs besser als Elementenzusammenhang denken lasse, beweist augenscheinlich den hypothetischen, bloss für die Erkenntniszwecke der Naturwissenschaft methodologisch bearbeiteten Charakter aller dieser Vorstellungen.

Aber zugegeben, die Welt wäre wirklich diese ungeheure Rasselmühle, deren Bewegung alles erzeugt, so ist damit für den Zweck Plechanows gar nichts gewonnen. Es ist nämlich gar nicht wahr, dass die Bewegung ein augenscheinlicher Widerspruch ist und dass wir mit ihr, wie Plechanow meint, „etwas unerwartet vor die Alternative gestellt sind: entweder die ‚Grundprinzipien‘ der formellen Logik anzuerkennen und die Realität der Bewegung zu bestreiten, oder umgekehrt, die Realität der Bewegung vorausgesetzt, die Gültigkeit dieser Prinzipien zu bestreiten. Diese Alternative ist mindestens unangenehm“. (Seite 33.)

Sie wäre es in der Tat, wenn es richtig wäre, dass die Bewegung ein Widerspruch ist. Dieser kommt aber erst dann heraus, wenn man die Bewegung durchaus anders denn als Bewegung auffassen will, das heisst, wenn man selbst der Bewegung sich widerspruchsvoll gegenüberstellt. Die grosse Unterscheidung Kants von Denken und Sinnlichkeit, Begriff und Anschauung liefert für diesen und für alle ähnlichen scheinbaren Widersprüche ein für allemal den sicheren Standpunkt, von dem aus sich diese „Widersprüche“ als blosse Verwirrungen des Denkens auflösen.

Bewegung ist eine Sache der Anschauung und daher mit Worten und Begriffen überhaupt nie zu erklären oder auszuschöpfen. Ebensogut könnte man Farben durch logische Begriffe erklären wollen. Die Bewegung gehört wie Raum und Zeit der sinnlichen Seite unserer Erkenntnis an und ist eine eigenartige Verbindung beider. Sie setzt zwar immer etwas voraus, das sich bewegt („das Bewegliche im Raum“), welches mit dem Gegebenen der Erfahrung identisch ist, ist aber selbst eben die Form, in welcher dieses Gegebene beweglich ist. Die Bewegung lässt sich daher auch nur anschaulich und nicht begrifflich verfolgen. Sie bildet ein Kontinuum der Anschauung, in welchem für diese alles klar ist, weil das Kontinuum eben zum Wesen des Raumes und der Zeit gehört. Sobald dagegen der Versuch gemacht wird, diese ursprünglichen Anschauungen begrifflich auszudrücken, also in den – wie Kant sagt – diskursiven Begriffen der Logik, das heisst, sobald man den Versuch macht, das, was ein Kontinuum ist, diskontinuierlich aufzufassen, beginnen ganz selbstverständlich die Widersprüche, die aber nicht in der Sache sind, sondern in einer falschen Stellungnahme des Denkens. Für den Standpunkt der Anschauung enthält die Frage, wo sich der bewegte Körper in einem und demselben Momente befinde, gar keinen Widerspruch. Denn die Anschauung der Bewegung ist ebenso beweglich wie die Bewegung selbst und folgt ihrem Gegenstände lückenlos in jedem Momente. Dass das begriffliche Denken dies nicht tun kann, ergibt sich aus den besonderen Voraussetzungen desselben, nämlich aus der ihm eigenen Funktion, die Mannigfaltigkeit des Gegebenen durch Unterscheidung zu bestimmen. Kein Wunder daher, dass das begriffliche Denken widerspruchsvoll werden muss, wo es nichts mehr zu unterscheiden gibt. Denn die Teile der Bewegung, von denen das logische Denken spricht, bestehen nur in seinen Begriffen. Die Bewegung selbst geht nicht in Teilen vor sich, sondern ist ein Ganzes der Anschauung, welches selbst diese nur abzuteilen vermag, indem sie die „Teile“ der Bewegung durchläuft.

Uebrigens ist sogar vom logischen Standpunkt aus die Bewegung gar nicht so widerspruchsvoll wie bei Plechanow, wenn die Logik noch logischer zu Werke geht. Denn wenn man auf die Frage, wo sich ein Körper in einem und demselben Moment seiner Bewegung befinde, nur die Antwort geben zu können glaubt, er sei an demselben und doch nicht an demselben Orte („ja, nein und nein, ja“), so begeht man noch einen anderen Fehler, als das Anschauliche inadäquat erfassen zu wollen. Man zerlegt nämlich zwar die Bewegung in unendlich viele Raumteile, ohne aber die Zeit der Bewegung, die doch untrennbar zu ihr gehört, weil jede Bewegung Zeit braucht, ebenso zu zerlegen. Man will ein mikroskopisches Objekt mit dem Meterstab messen. Achtet man aber darauf, dass ich, sobald ich die Bewegung in Teile zerlegt habe, auch die zugehörige Zeit mitzerlegt habe, dann gehört zu jedem unendlich kleinen Bewegungsteilchen ein ebensolches Zeitteilchen und der bewegte Körper „befindet sich“ in jedem unendlich kleinen Zeitteilchen mit jedem seiner unendlich kleinen Massenteilchen in einem und demselben unendlich kleinen Raumteilchen. Er befindet sich an diesen unendlich kleinen Raumpunkten, weil nach den Voraussetzungen des logischen Denkens jeder Raumund Zeitpunkt, in welchem er noch nicht zu fixiren wäre, eben noch nicht der kleinste, noch nicht unendlich klein wäre.

Dass von diesen unendlich kleinen Fixierungen keine Anschauung zu gewinnen ist, wäre ein Einwand, der den ganzen Vorgang der Zerlegung in das Unendlichkleine nicht verstünde. Denn das Unendlichkleine ist ja eben ein blosses Denkmittel des Verstandes, mit welchem er das Continuum der Anschauung begrifflich zu bearbeiten versucht. Es kann gar nie anschaulich sein, weil es ja eben Begriff und nicht Anschauung ist. Es ist daher auch kein Widerspruch in ihm, und das, was man oft als solchen bezeichnet hat, dass nämlich auch das Unendlichkleine doch irgendeine anschauliche Ausdehnung haben müsse, bedeutet nur, dass dieser Begriff eben die Anschauung selbst nicht erschöpft, sondern so mühsam von derselben abstrahiert, dass er fortwährend in sie umschlägt. Das Unendliche ist ein Grenzbegriff, es führt bis an die Grenze des Denkbaren, und es ist ein Widersinn, von ihm zu verlangen, dass es auch noch vorstellbar, anschaulich sei. Will man das Anschauliche durchaus nicht-anschaulich begreifen, so darf man sich nicht wundern, wenn ein ganz Unvorstellbares und nur noch rein begrifflich Denkbares herauskommt. Einen Widerspruch wird man aber unmöglich darin finden können, solange man nur Begriff und Anschauung selbst nicht auf ein Gemeinsames bringen will.

Seit dem Eleaten Zeno wird übrigens gerade diese Zerlegung der Bewegung in die kleinsten Teile zum Beweise eines anderen Widerspruches in ihr herangezogen, indem man meint, dass der bewegte Körper sich doch in jedem seiner einzelnen Punkte in Ruhe befinde, aus der noch so grossen Summe von lauter Ruhepunkten aber doch keine Bewegung hervorgehen könne. Auf diesen uralten Paralogismus des Zeno geht im Grunde der ganze „dialektische“ Charakter der Bewegung bei Plechanow zurück. Nun ist aber dieses Argument, aus dem übrigens die Eleaten nicht eine widerspruchsvolle Beschaffenheit der Bewegung, sondern viel richtiger ihre Wesenlosigkeit, ihre bloss scheinbare Realität schlossen, ein prächtiges Beispiel, wie Scheinprobleme zustande kommen, wenn das Denken sich nicht in straffester Zucht hält und mit seinen Begriffen bei der Stange bleibt, sondern es zulässt, dass sie sich unter der Hand nach Fregolimanier verwandeln. Wir sind doch von der Bewegung ausgegangen und haben diese in ihre Teile begrifflich zerlegt, das heisst, wir haben zu jedem Abschnitt der Bewegung, den man uns aufzeigte, einen noch kleineren gedacht, um damit zuletzt auf die unendlich kleinen Punkte der Bewegung zu kommen. Wo in aller Welt ist dabei ein einzigesmal die Bewegung verschwunden? Ganz willkürlich verfällt das Denken in die Annahme, weil die unendlich kleinen Punkte notwendige Ruhepunkte des Denkens sind (Grenzbegriffe), nun auch den bewegten Körper in ihnen als ruhig zu denken. Diese Argumentierung beseitigt unversehens die Bewegung aus ihren kleinsten Teilen und wundert sich dann, dass sie bei der Integration derselben natürlich aus lauter Ruhepunkten keine Bewegung gewinnen kann. Weiss man einmal, dass die „Ruhe“, in welcher sich der bewegte Pfeil in jedem Punkt seiner Bahn befindet, doch nur eine begriffliche Konstruktion gegenüber der anschaulichen Realität bedeutet, und eben nur seine unendlich kleine Bewegung in diesem Punkt ausdrückt, so dass also, wie nun seit Leibnitz oft genug eingeschärft wurde, die Ruhe im dialektischen Sinne eben gar keine Ruhe im logischen Sinn ist, sondern nur ein Spezialfall der Bewegung selbst, dann schwindet alle bedrohliche Kraft des Zenonischen Paradoxons. Die Bewegung ist kein blosser Sinnentrug mehr, aber auch keine widerspruchsvolle Realität, und aller angebliche Schein oder Widerspruch, ihre ganze, so seltsame „Dialektik“ stammt nur aus der ganz undialektischen Gegenüberstellung von Bewegung und Ruhe als starrer Gegensätze.

Aber Plechanow hat noch einen zweiten Beweis für die dialektische Beschaffenheit der Natur selbst, nämlich ihr Werden. Der Werdeprozess zeige einen ähnlichen Widerspruch in sich, wie die Bewegung. Wir wollen zusehen, ob dieser zweite Versuch, die Dialektik zu einer Urbeschaffenheit im Wesen der Dinge zu machen, glücklicher ist als der erste.

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Anmerkung

1. Marxismus and Materialismus, im III. Jahrgang, Heft 12, des Kampf.

2. Marx und die Dialektik, 1. Jahrgang, Seite 256 ff.

3. Vergleiche hierzu und zum folgenden meinen Artikel Marx und die Dialektik, Kampf, I. Jahrgang, Seite 258 bis 261.

4. Ganz zu unterscheiden hievon ist aber diejenige Bedeutung, in welcher zwar auch eine Gegensätzlichkeit des Seins gemeint ist, aber nicht mehr der Weltbeschaffenheit, sondern der empirisch zu konstatierenden Eigenschaften eines Gestimmten Erscheinungskomplexes. Die Gegensätzlichkeit, die zum Beispiel das soziale Leben beherrscht und hauptsächlich gemeint ist, wenn von einer realen Dialektik im Marxismus die Rede ist, hat nichts mehr mit der Frage nach der Natur des Seins zu tun, sondern konstatiert einfach eine vorhandene Gegensätzlichkeit zwischen dem Selbstinteresse des Individuums und den sozialen Formen, in die dasselbe gebannt ist. Die Dialektik in diesem Sinne ist dann ein Stück positiver Wissenschaft. Sie trägt nur zufällig, aus bloss historisch zu verstehenden Gründen, den irreführenden Namen der Dialektik und würde besser Antagonismus genannt werden.

5. Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach, 2. Auflage, Seite 38.

6. Vergleiche Friedrich Engels, Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 3. Auflage, Seite XIX.

7. F. Engels, Ludwig Feuerbach, Seite 39 bis 40. – Vergleiche auch über den methodologischen Charakter der Dialektik im Marxismus das Vorwort zur 3. Auflage des Kapital und die noch viel zu wenige beachtete Besprechung der erst Bandes des Kapital durch Engels, abgedruckt in Sozialistische Monatshefte, 1900, Seite 38 ff.


Zuletzt aktualisiert 6. April 2024